Drei Herzen


Mirabelle starrt auf den Display ihres Handys ohne auch nur einmal in zwei Minuten zu blinzeln. Erst, als Ben sie mit der Schulter sanft anstupst, kann sie den Blick von ihrem Smartphone lösen. Ihr bester Freund lugt zu ihr hinüber und pfeift anerkennend aus.

„Das nächste Ziel?" Mirabelle nickt, während sie wieder auf das Foto sieht, das ihr die Google-Suche ausgespuckt hat.

„Es ist die perfekte Location", flüstert sie, mehr in Ehrfurcht vor diesem wunderschönen Ort als der eigentlichen Aufgabe, genau diesen zu finden. Irgendwo an der Westküste Spaniens, nicht weit entfernt der Meerenge von Gibraltar, den sogenannten Säulen des Herakles, sollen sich diese Überbleibsel der sagenumwobenen Stadt Atlantis befinden. Eine Sisyphus Aufgabe für jeden, der die Meere nicht als Heimat sieht, aber für Mirabelle nur ein weiteres Abenteuer, dass sie mehr als bereit ist zu beschreiten.

„Die Follower werden ausrasten", stimmt Ben seiner besten Freundin zu und wirft einen Blick aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs. In Gedanken geht er schon die Posen durch, die er fotografieren kann, die Schwimmstrecken, die nicht allzu gefährlich sind. Der Atlantik ist eine ganz andere Nummer als der schwedische Fjord, von dem sie gerade kommen. Die Wellen sind unberechenbar, hinzu kommen die Gezeiten.

„Wir haben ein ungefähres Zeitfenster von fünf Stunden. Ebbe hat ihren Tiefpunkt um 10:50 Uhr, wir sollten auf jeden Fall früher los, um mit ihr mitzugehen", überlegt Mirabelle laut, als hätte sie Bens Gedanken bereits gelesen.

„Und die Flut hat wann ihren Höhepunkt?"

„17:07 Uhr." Fünf Stunden sind da großzügig berechnet, wenn man bedenkt, dass sie den ganzen Weg aus dem Meer auch wieder an den Strand laufen müssen, denkt Ben. Hinzu kommt, dass Mirabelle ihren Meerjungfrauenschwanz tragen muss, der dreizehn Kilo wiegt. Unsicher räuspert er sich, aber seine beste Freundin kichert nur in seine Richtung.

„Keine Sorge, wir schaffen das." Sie schlägt ihm freundschaftlich auf den Rücken, als der Co-Pilot die Landung ansagt. Mirabelle atmet genüsslich aus und wälzt sich in ihrem unbequemen Economysitz. Wenn sie das Tor auf dem Foto wirklich finden, dann können sie sich von den neuen Followern und Sponsoren die Business Class leisten.

Doch bis dahin muss sie noch einiges leisten. Ihre Followerzahl ist in den letzten Monaten kaum gestiegen, der Wunsch nach außergewöhnlicheren Bildern dafür umso mehr. Allerdings gehen Mirabelle die Ideen aus. Sie ist eine professionelle Mermaid, die Location-Auswahl, dementsprechend auf das Wasser begrenzt. Und Wasser ist immer blau. Türkisblau, indigoblau, marineblau. Im Fjord in Schweden grünblau. Aber eben doch immer blau.

Diese Location könnte das Blatt endlich wenden, sie von den anderen Mermaids in den sozialen Medien abheben und Ben endlich ein ordentliches Honorar für seine Fotografendienste ausstellen. Dafür hat Mirabelle alles ins kleinste Detail geplant. Sie wusste, dass Ben weniger begeistert sein würde, wieder ans Meer zu fahren, nachdem sie das letzte Mal in Australien die Gezeiten nicht bedacht und beinahe draufgegangen wären. Das würde nicht noch einmal passieren.

Der Zeitplan ist eng, aber machbar. Wie eine strenge Lehrerin scheucht Mira ihren besten Freund vom Flughafen zum Hotel und zum ersten Strand auf ihrer markierten Karte. Die kleine Stadt Tarifa ist am südlichsten Punkt der westlichen Küste Spaniens und somit Mirabelles Anlaufpunkt. Über die nächsten Tage reisen sie und Ben von Strand zu Strand, wobei jeder Tag anstrengender ist als der vorige. Mit jeder Ebbezeit wirkt das Wasser weiter entfernt als vorher. Und obwohl Mirabelle regelmäßig den Gezeiten Status prüft, schaffen sie es doch nie rechtzeitig zum zurückgezogenen Wasser, bevor sie aus Sicherheitsgründen wieder umkehren müssen, um es rechtzeitig an die Küste zu schaffen.

Um die Followergemeinde am Ball zu halten, schießen sie Strandfotos. Mirabelle in ihrem kanariengelben Meerjungfrauenschwanz aus Neopren, den sie für ihre Zeit im türkisblauen Wasser in Costa Rica besorgt hat. Mirabelle in ihrem Arielle-Meerjungfrauenschwanz, den sie von ihrem Hauptsponsor Mermainia bekommen hat. Und Mirabelle in ihrem aktuellen Lieblingsstück: dem Anglerfisch, wie sie ihn liebevoll nennt. Es ist ein Meerjungfrauenschwanz aus Silikon gefertigt, besitzt eine stachelartige Rückenflosse und die dunklen Schuppen heben sich einzeln voneinander ab. Seitlich von der Hüfte bis zu den Fußgelengelenken befinden sich dünne zyllindrisch geformte Schläuche, an dessen Ende jeweils eine LED Lampe wasserdicht eingeschlossen ist. Jedem Anglerfisch würde sie so die Beute stehlen.

Mehr als dreitausend Dollar hat sie dafür hingeblättert, aber das ist es alle Mal wert. Die Follower lieben die Flosse genau so sehr, wie sie sie gruselig finden. Sie hat etwas Bedrohliches durch die dunklen Blautöne und die ganzen Schläuche, die an winzige Tentakel erinnern. Doch wenn Mirabelle darin schwimmt, fühlt sie sich wie die Königin der Meere.

„Ein bisschen weniger angewinkelt", gibt Ben, versteckt hinter seiner Kamera, die Anweisungen, denen Mirabelle ohne zu Zögern Folge leistet. Die goldene Stunde, in der die Sonne perfekt über dem Horizont hervorragt und ihre gebräunte Haut in ein warmes Licht taucht, ebbt langsam ab, was Mirabelle's Magen geräuschvoll begrüßt.

„Okay, wir haben's." Zufrieden klickt sich Ben durch seine Bilder und nickt ein paar Mal. „Sind wirklich Gute dabei. Komm, ich helf' dir raus." Gemeinsam stülpen sie Mirabelles Beine aus der dreizehn kilo schweren Silikonform, die perfekt an ihren Körper angepasst wurde, damit bei Tauchgängen nicht unnötig viel Wasser hineingelangt. Es ist jedes Mal ein körperintensiver Akt, sie da herauszuziehen, denn das Material klebt mehr an ihren Beinen, als ein Kaugummi in der Sonne - obwohl sie eine lange Badehose drunter trägt.

Nach einigen Minuten und vielen Lachern, weil Ben mehrfach vom Silikon abrutscht, sind beide glücklich, den Meerjungfrauenschwanz nur noch auf den Schultern, statt am Körper tragen zu müssen. Vom eigenen Zeitplan gehetzt, kommen sie im Hotel an und stopfen notdürftig alles vom Frühstücksbuffet in sich hinein, was geht. Sie haben nicht viel Zeit. Denn in zwanzig Minuten beginnt die Ebbe und bis dahin müssen sie in Barbate sein, um von dort an den Strand zu gelangen. Es ist der siebte Strandbesuch in den letzten acht Tagen und besonders Ben spürt es langsam in den Beinen. Diese Fußmärsche hinaus aufs Meer ist er nicht gewohnt. Der Wattboden gibt unter jedem Schritt nach und fühlt sich an, als würde er Dauerjoggen am Strand. Hinzu kommen die unendlich vielen Krebse, die sich am Meeresboden tummeln und nicht einsehen, einem Menschen auch nur ansatzweise ausweichen zu müssen. Es ist wie um Eierschalen herumlaufen. Eierschalen, die halb versteckt im Sand sind.

Doch nach zwei Stunden Fußmarsch können sie bereits das Wasser sehen, dass sich einige Kilometer zurückgezogen hat und in Mirabelles Augen taucht dieses Funkeln auf, das Ben schon ewig kennt und immer noch ein wenig fürchtet. Sie ist soweit. Will in die Tiefe absteigen und sich der Dunkelheit des Meeres hingeben. Vor Bens inneren Auge tauchen die Bilder aus Australien wieder auf, die er mit einem Kopfschütteln beiseiteschiebt.

„Los?", fragt Mirabelle, die bereits die Kappe ihres weißen Neoprenanzugs aufgesetzt hat. Der erste Besuch ist immer im Taucheranzug zum Auskundschaften. Ein Meerjungfrauenschwanz wäre da zusätzlicher Ballast. Ben atmet tief durch, stülpt sich die Kappe über seine kurzen braunen Haare. Dann nickt er.

„Bereit." Er nimmt ihre Hand, während sie mit den Füßen das kalte Wasser berühren, das sich im Vergleich zum Wattboden nahezu warm anfühlt. Ben lässt sich davon nicht täuschen. Er weiß, dass sie schon längst durchgefroren sind. Lange werden sie heute nicht unter Wasser sein können. Dafür sind sie viel zu lange gelaufen. Als sie hüfttief im Wasser stehen, wirft Ben einen Blick auf seine Uhr. Der Timer läuft.

Mirabelle springt vor, verschwindet unter der Wasseroberfläche und der weiße Neoprenanzug wird mittels weniger Sekunden von den Tiefen verschluckt. Ben schaltet die Lampe an seiner Taucherbrille an, dann folgt er mit einem sanften Bauchklatscher. Das Seil, das sich zwischen ihren Hüften auf drei Meter spannt, führt ihn zielsicher zu Mirabelle, die bereits wartet. Tauchen erfordert Geduld. Aber Ben spürt jetzt schon das beklemmende Gefühl in seiner Brust und würde es am liebsten so schnell wie möglich hinter sich bringen. Als hätte Mirabelle seine Gedanken gelesen, schaltet sie ihre Kopflampe an und lächelt ihrem besten Freund aufmunternd zu.

Es ist nicht das Wasser, nicht die Kälte. Seine Angst gilt schlichtweg der Dunkelheit und Ben spürt, wie sich sein Herzschlag verlangsamt. Stumm folgt er Mirabelle, die sich unter Wasser um einiges besser auskennt. Sie weiß, welche Korallen sich wo befinden, welche Tiere angefasst werden dürfen. Selbst einen Hai kann sie ruhig in eine andere Schwimmbahn lenken.

Aber das, was Mirabelle im sanften Schein ihrer Kopflampe erblickt, lässt selbst ihren Puls höher pochen. Unter ihren Füßen befinden sich Steine, mit Algen übersäht, aber Mirabelle sieht die glatte Oberfläche hindurch. Es ist der erste Hinweis seit Tagen und sie wagt es noch nicht, Hoffnung zu schöpfen. Aber als sie auf den Grund taucht, kann sie nicht glauben, was sich vor ihr befindet. Ein altes Steintor, oder eher die Hälfte davon. Es ist zur Seite gekippt, stützt sich auf die restlichen Trümmer der anderen Torhälfte. Aufgeregt zieht Mirabelle am Seil, sodass Ben ihr folgen muss. Das ist es.

Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie das Google Bild tatsächlich in echt finden würde, aber genau hier steht es. Vom Wasser und den Jahrhunderten gezeichnet, dennoch so klar wie ein Spiegelbild. Ehrfürchtig fasst Mirabelle an die umgekippte Säule, als sie plötzlich ein Auge anstarrt. Noch bevor sie erschreckt zurückweichen kann, holt das Tier aus, stößt mit dem Kopf gegen Mirabelles Arm und verpasst ihr damit einen elektrischen Schlag, der durch ihren gesamten Körper zieht.

Vor Schmerz kneift sie die Augen zusammen und aus dem hohen Fiepton in ihrem Ohr wird das Rauschen von Wellen, das Lachen von Kindern und schlussendlich ein markerschütternder Schrei einer Frau. Ihre Gliedmaßen sind wie betäubt, gehorchen ihr nicht mehr und Mirabelle spürt die Panik in sich aufsteigen. Mühsam kämpft sie gegen das Stechen in ihrer Brust an, öffnet die Augen, bereit ihrem Angreifer entgegen zu treten. Aber von dem Auge ist keine Spur. Stattdessen kann Mirabelle einige Tentakel erfassen, die sich um die Säule des zerbrochenen Tores haften. Sie haben die helle Farbe des Stein, doch je länger Mirabelle sie anschaut, desto dunkler werden sie. Ein angriffslustiger Oktopus. Und ganz und gar nicht klein, die Tentakel sind so breit wie Mirabelles Oberschenkel. Sie würde wegschwimmen, die Flucht ergreifen, aber ihre Gliedmaßen sind noch zu erschöpft vom elektrischen Schlag.

Da reißt Ben am Seil und es ist das erste Mal, das Mirabelle dankbar für ihren straffen Zeitplan ist. Ihr bester Freund zieht sie nach oben und kurz, bevor sie die Wasseroberfläche durchbricht, packt er sie unter den Schultern wie er es im Rettungsschwimmen gelernt hat, und schwimmt mit ihr bis ihre Hintern über den Wattboden rutschen. Mirabelle hustet, krümmt sich. Ihr Körper fühlt sich an wie nach einem Extremworkout, innerlich zittern die Muskeln noch. Schreien um eine Pause.

„Was zum Teufel war das?", japst Ben und kontrolliert Mirabelles Puls.

„Z...Zitt...eraal." Das Wort kommt stockend, als würde sie frieren und hätte ihren schlotternden Unterkiefer nicht unter Kontrolle. Aber ihr Körper krampft nicht.

„Kannst du aufstehen?" Mirabelle nickt, weil der Schmerz langsam nachlässt und sie weiß, wenn sie jetzt nicht den Rückweg antreten, dass sie ertrinken werden. Wenn die Flut kommt ist es ein Rennen auf Zeit, das kein Mensch gewinnt. Trotz ihres falschen Stolzes stützt Ben sie, weil er sie besser kennt. Es ist anstrengend, aber sie schaffen es rechtzeitig ans Ufer zurück, wo Mirabelle sich in den Sand fallen lässt und die Hände vors Gesicht schlägt. Der Schrei der Frau geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es kann nicht ihrer gewesen sein, sie waren schließlich unter Wasser. Auch das Kinderlachen, das sie gehört hat, kann keine Einbildung gewesen sein.

Augenblicklich setzt sie sich auf, hat sofort die kommende Flut im Sichtfeld.

„Ich muss zurück!"

„Bist du verrückt? Das Ding hat dir einen elektrischen Schlag gegeben, Mira!" Wütend starren sich die beiden besten Freunde an, verständnislos für den jeweils anderen. Doch dann wird Bens Miene weicher. „Ich dachte, ich verliere dich. Wie damals in Australien. Mira. Bitte." Flehend sieht er sie an, nimmt ihre Hände in seine, streicht sanft über die sensible Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Es tut mir leid", flüstert sie, wohlwissend, was sie ihm zugemutet hat und worum sie ihn weiterhin bittet. „Aber morgen gehen wir nochmal." Es ist der Blick in ihren Augen, der Ben verrät, dass jegliche Vernunft hier nicht zu seinem bevorzugten Ergebnis führen würde. Abhalten kann er sie nicht, aber sie allein tauchen lassen will er nicht. Also gibt er seiner besten Freundin seufzend die Koordinaten von ihrem Fund auf dem Weg ins kleine Hotelzimmer, in dem Mirabelle sich schon auf den morgigen Tag vorbereitet.

„Könnte auch ein Kalmar gewesen sein, ich weiß nicht, habe seinen Kopf nicht gesehen", murmelt Mirabelle vor sich hin und löst Ben damit aus seinen Gedanken, die bereits ein Ende ihrer beider Leben ausmalen.

„Er hat auf jeden Fall seine Farbe geändert, um Dominanz zu zeigen. Das müssen wir besser machen."

„Wer sagt, dass der morgen überhaupt noch da ist?"

„Willst du das Risiko eingehen?", wirft Mirabelle die Gegenfrage zurück. Ob Oktopus oder Kalmar, beide Kopffüßler können Farbe und Muster ihrer Haut verändern, um so mit Gleichgesinnten zu kommunizieren. Dabei ist eine dunkler werdende Farbe immer eine Warnung für einen bevorstehenden Angriff. Wenn Mirabelle dem Tier also Einhalt gebieten will, kann sie unmöglich wieder ihren weißen Tauchanzug anziehen.

Es ist Zeit für ihren Anglerfisch. Der dunkle Meerjungfrauenschwanz wird in der Dunkelheit des Meeres untergehen, wenn sie die eingebauten LED Lichter ausschaltet. Es ist der perfekte Plan, den sie am nächsten Morgen bei Ebbe umsetzen. Die Wattwanderung ist um einiges anstrengender mit dem schweren Meerjungfrauenschwanz über der Schulter, aber Ben und Mirabelle wechseln sich ab und schaffen die sechs Kilometer bis zum Wasser.

„Wir müssen ein wenig weiterschwimmen als gestern. Ich habe dich durch die Kamera die ganze Zeit im Auge. Wenn was ist, gib mir ein Zeichen", erinnert Ben, während er Mirabelle dabei hilft, sich in das Silikon zu zwängen.

„Ich schaue dann einfach direkt in die Kamera", grinst Mirabelle, was Ben mit einem Kopfschütteln quittiert.

„Also, dann", sagt er, nachdem Mirabelle sich in eine Meerjungfrau verwandelt hat und Ben sie auf dem Arm ins Wasser trägt, weil sie nun nicht mehr laufen kann.

„Bereit?" Mirabelle nickt und Ben lässt seine beste Freundin los, die sofort unter die Wasseroberfläche gleitet, als wäre sie nie jemand anderes als eine Meerjungfrau gewesen. Er hat Mühe ihr zu folgen, denn Mirabelle ist durch die gestrige Erfahrung noch so aufgeregt, dass sie keine Sekunde verschwenden will. Obwohl sie das GPS Gerät in der Hand hat, schaut sie kein einziges Mal darauf. Sie kennt den Weg, spürt die Energie, die von diesem Steintor ausgeht. Und beinahe hätte sie einen glücklichen Schrei rausgelassen, als sie die Steinsäulen wiedererkennt. Durch die Monoflosse hat sie einen starken Antrieb, der ihr mit nur drei Beinzügen erlaubt, am Grund zu sein und das Tor ehrfürchtig zu berühren.

Es ist wie ein Nachhause kommen. Ben und die Kamera ignoriert Mirabelle komplett. Dieses Gefühl, diese Situation, in der Fiktion auf Realität trifft, Geschichte auf Gegenwart, ist unbezahlbar und mit keinem Foto festzuhalten. Tentakel räkeln sich um die Säule, farblich an sie angepasst, sodass Mirabelle sie erst sieht, als es zu spät ist.

Ein Tentakel greift nach ihrem Arm, betastet sie mit seinen Sinnen, testet, ob sie als Mahlzeit herhalten könnte und Mirabelle kostet es jede Überwindungskraft nicht laut aufzuschreien. Denn die hellblauen Tentakel führen nicht zu einem Oktopuskopf, sondern dem Zitteraal, der sie gestern angegriffen hat. Ihr Gehirn durchsucht jede Information, die sie über Meereslebewesen besitzt, und doch ist ihr noch nie einem Kopffüßler begegnet, der eine perfekte Kreuzung zweier komplett unterschiedlicher Arten zu sein scheint.

Aber bevor sie weiter darüber nachdenken kann, was das ist, das sie da gerade berührt, hört sie wieder den markerschütternden Schrei, gefolgt von einer sanften Stimme, die ihr in einer Sprache vorsingt, die sie nicht zuordnen kann.

„So neugierig", hört sie sie sagen und starrt dem Zitteraal-Oktopus direkt in seine menschlichen blauen Augen.

„Mutig", fährt die Stimme in ihrem Kopf fort und Mirabelle befürchtet, verrückt zu werden, als das Wesen nickt.

„Dein Mut soll belohnt werden, Kind." Überrascht reißt Mirabelle die Augen auf, als auch die restlichen sieben Tentakel nach ihr greifen, sie in eine feste Umarmung ziehen und elektrische Schläge von sich geben, die ihr schwarz vor Augen werden lässt.

„Atlas!", schreit eine Frau, die Mirabelle dazu verleitet, die Augen zu öffnen. Vor ihr erstreckt sich eine Insel nicht weit vom Festland, auf dem sie in einer gebückten Haltung steht. Ihre Arme sind nach oben gestreckt, und obwohl sie nichts in den Händen hat, spürt sie eine grenzenlose Last auf ihren Schultern.

„Atlas!", ruft die Frau noch einmal und Mirabelle versucht blinzelnd gegen das gleißende Licht der Sonne anzukämpfen und die Stimme zu lokalisieren. Sie ist ihr fremd und doch vertraut, löst ein Gefühl der Zuneigung in ihr aus, das sie nicht abschütteln kann. Nur schemenhaft erkennt sie nach und nach die prunkvollen Spindelförmigen Türme und Gebäude, die auf der Insel in die Höhe ragen. Der höchste Punkt bildet das Zentrum der Insel mit einem Turm aus purem Gold. Atlantis. Mirabelle keucht vor Staunen und dem Gewicht, das mit jeder Sekunde schwerer zu werden scheint.

Dennoch sucht sie verzweifelt die Umrisse nach der Frau ab, sie kann nicht anders, muss es tun. Sie entdeckt sie an der Küste, die Hand zum Meer ausgestreckt, wo sie von zwei Männern festgehalten wird. Aber Mirabelle kann sich nicht von der Stelle bewegen, zu schwer ist die unsichtbare Macht, die sie in die Knie zwingt.

Das Flehen der Frau wird nicht weniger und Mirabelle spürt Zorn in ihrer Magengrube aufsteigen. Eine Wut, die brennt wie Feuer und sie aufbrüllen lässt. Doch es ist nicht ihre Stimme, die da brüllt, es ist die eines Mannes. Der Mann, in dessen Körper sie steckt. Der Mann, der den ganzen Himmel trägt und nicht von der Stelle weichen kann, obwohl seine Geliebte um Hilfe ruft. Sie liegt an der Küste, die Hand zum Meer ausgestreckt und wird von zwei Männern fortgetragen.

Wieder überkommt Mirabelle eine Welle der Wut und diesmal weiß sie nicht, ob es ihre eigene oder die von Atlas ist. Gemeinsam brüllen sie ihren Zorn heraus bis Mirabelle ein Klirren hört. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie ihr rechter Arm schwach herunterhängt. Atlas hält den Himmel nur noch auf einer Hand, versucht gegen seine von Zeus auferlegte Strafe anzukämpfen, um seine Frau zu retten.

„Pleione!", brüllt Atlas und als er auch seinen linken Arm vom Himmel entfernen kann, ist kein Klirren mehr zu hören. Stattdessen sieht Mirabelle in Erschrecken, wie der Himmel fällt. Er fällt in Richtung Meer und als sie sich endlich berühren, der Himmel auf das Meer aufschlägt, löst es eine Flutwelle aus. Kilometerhoch und mit einer Geschwindigkeit wie ein moderner Rennwagen bahnt sie sich ihren Weg zu Atlantis.

„Atlas!", ruft Pleione und Mirabelle spürt, wie Atlas sich in Bewegung setzt, wie er zitternd einen Fuß vor den anderen setzt, nachdem er Jahrhunderte nur Stehen durfte. Doch dann springt er ins Wasser und taucht mit Mirabelle im Geiste ab.

Selbst mit der Kraft eines Titans schafft Atlas es nicht rechtzeitig. Die Flutwelle packt ihn genauso wie jeden und alles in Atlantis; reißt es unbarmherzig in Stücke, wirbelt sie herum wie ein Tornado unter Wasser und verschlingt sie in die Tiefe.

In Gedanken schreit sie nach Atlas, in dessen Körper sie gefangen ist, doch Atlas ruft nur nach Pleione. Versucht, seine Ehefrau in dem Tosen der Wellen zu finden bis ihm Steinbrocken durch das Wasser entgegen geworfen werden. Es sind Überreste der Türme und Gebäude von Atlantis. Auch der Turm aus purem Gold ist zerbrochen, nur seine Spitze treibt an Atlas vorbei. Unbeeindruckt davon schwimmt er durch die Überreste seines Königreichs. Er will nur seine Frau finden. Mit jeder Armbewegung taucht er tiefer und Mirabelle spürt das beklemmende Gefühl in ihrer Brust, das ihr bedeutet, dass der Wasserdruck zunimmt.

Atlas hält erst inne, als er die Wassernymphe entdeckt. Sie liegt unter dem zerbrochenen Tor, das Gesicht halb im Meeresboden vergraben. Mirabelle zittert am gesamten Körper, kann nur langsam mit Atlas zu seiner Geliebten schwimmen. Behutsam nimmt er sie in den Arm, lehnt ihren Kopf an seine Brust und vergräbt seine Hand in ihren langen Haaren.

Im Körper von Atlas spürt und denkt Mirabelle all seine Gefühle und Gedanken als wären es ihre eigenen.

Es ist die pure Verzweiflung, die Mirabelle packt und mit sich zieht. Sie sinkt auf den Meeresboden zusammen, weint, schreit. Ihre große Liebe liegt tot in ihren Armen und sie ist Schuld. Sie hätte den Himmel tragen müssen. Stattdessen hat sie eine Flutwelle losgelassen, die ihr gesamtes Königreich in Schutt und Asche gelegt hat. Sie ist Schuld an dem Tod ihrer Geliebten. An dem Tod aller Bewohner von Atlantis und sie weiß, dass sie sich das niemals verzeihen könnte. Weiß, dass sie hierbleiben wird auf alle Ewigkeit, weil sie unsterblich ist.

„Mira!" Hustend und würgend krümmt sich Mirabelle zur Seite, atmet gierig den Sauerstoff ein. Nur, um von einem weiteren Würgen unterbrochen zu werden, bei dem sie Salzwasser aus ihrer Lunge freilässt.

Ben fällt erleichtert auf seinen Hintern, reibt sich das vom Weinen geschwollene Gesicht. Doch Mirabelle beachtet ihn gar nicht. Zielstrebig zieht sie sich zurück ins Wasser.

„Mira! Warte!" Ben hält sie am Fischschwanz, doch Mirabelle kämpft gegen ihn an bis sie das kalte Wasser in ihrem Gesicht spüren kann. Sie braucht nur wenige Armzüge bis zum Tor, an dem Atlas auf sie wartet, nach wie vor in Gestalt eines ihr unbekannten Meereswesens.

Es tut mir leid, denkt sie und hofft, dass er versteht. Der Zitteraalkopf nickt, blinzelt durch seine kristallblauen Augen langsam zur Bestätigung. Sie braucht nichts zu sagen, nichts zu denken. Denn die Gefühle, die er ihr gezeigt hat, sind jetzt auch ihre.

Das Tor ist eine Grabstätte für seine Geliebte. Ihre Geliebte. Langsam schwimmt sie an die Säule heran, drückt ihre Stirn sanft dagegen.

Ruhe in Frieden, flüstert ihre innere Stimme. Dann wirft sie einen letzten Blick auf Atlas, dessen Ausdruck beinahe anerkennend wirkt, bevor sie wieder an die Oberfläche taucht.

„Bist du verrückt geworden?", schreit Ben sie an.

„Hilf mir bitte mal", flüstert Mirabelle und schält sich mit Bens Hilfe aus ihrem Meerjungfrauenschwanz. Sie mustert ihren besten Freund, dann seufzt sie.

„Lass uns nach Hause gehen." Verdutzt schaut er sie an, antwortet aber nicht. Die Erleichterung, dass sie stehen, gehen und reden kann, nachdem ein Oktopus sie halb verschlungen hat, lässt alle Wut sich verflüchtigen.

Stattdessen beeilen sie sich zurück ans Ufer zu kommen und Ben bucht den nächsten Flug nach England. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.

Aber erst, als sie beide keine vierundzwanzig Stunden später im Flugzeug sitzen, kann er sich entspannen.

„Sicher, dass du es nicht doch noch posten willst?" Ben stupst sie sanft mit der Schulter an, obwohl sich ihre Arme sowieso bei jeder Bewegung berühren. Flugzeuge sind nicht für Komfort gedacht, sondern Transport. Er hält ihr seinen LapTop hin. Der Ordner „Atlantis" ist markiert. Bereit, geöffnet zu werden mit all den Fotos aus den letzten Wochen inklusive der mit Altas und der Ruhestätte von Pleione.

„Nein, es ist schon okay so", flüstert Mirabelle und drückt auf die Löschtaste, während das Flugzeug über den Atlantik kreist und ihr einen grandiosen Ausblick auf das türkisblaue Meerbietet, das in Wellen an der Küste anschlägt.

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