Prolog | Dark Site of the Moon

„Und wir werden nie wieder ein Wort hierüber verlieren?" -
„Werden wir nicht..." -
„Aber was wenn...?"
- „Nie wieder!"

🌘🌑🌒

Sechs Monate zuvor. Silvesterabend.

Es war bereits kurz vor Mitternacht, als der junge blonde Mann mit den blauen Augen das halb verwitterte Tor zum Freeman Gelände durchschritt und zielsicher, wenn auch mit tiefem Unbehagen, einen Wohnwagen, etwas abseits der Siedlung, ansteuerte.

Er wusste, dass das, was er vorhatte, eine Menge in ihm aufwühlen würde. Etwas, das er die letzten Monate erfolgreich geschafft hatte vor der Welt zu verbergen. Zumindest einen Teil der Zeit war es seine Entscheidung gewesen, korrigierte er sich, als er dem alten und schmutzigen Wohnwagen immer näherkam.

Als er aufblickte und die großen Bäume beim Wiegen durch den Wind den Blick auf den gerade aufgehenden Vollmond freigaben, der in jener Nacht vor so vielen Monaten von einer partiellen Mondfinsternis durchschnitten worden war, kamen die Erinnerungen plötzlich mit solcher Wucht zurück, dass er kurz stehen bleiben musste und unschlüssig verharrte. Sollte er nicht doch lieber umkehren? Sollte er die Vergangenheit und das, was in diesem Wagen damals passiert war, einfach vergessen und mit dem Glockenschlag um Mitternacht das alte Jahr und all seine Zweifel hinter sich lassen?

Noch während er grübelte, ob er sich wie vorgenommen seiner Vergangenheit stellen oder umkehren sollte, vernahm er vom Wagen her Schritte, und sah, dass die Tür aufging. Dies war der Punkt ohne Wiederkehr. Er würde dieses Thema heute ansprechen und dann ein für alle Mal hinter sich lassen. Um ohne Zweifel in das neue Jahr zu starten. Tief atmete er ein, als ein junger Mann öffnete und ihn aus müden blauen Augen überrascht ansah. Er stockte kurz und ließ die Hand sinken, in der er die Zigarette hielt. Dann kniff er die Augen zusammen, so als wollte er sichergehen, dass es wirklich die Person war, die er sah und kein Geist, der ihn zu dieser späten Stunde heimsuchte. Mit trockener Kehle brachte er nur ein einziges Wort heraus: „Andrews?"

Mit allem hätte Skinner Norris an diesem Abend gerechnet. Doch nicht damit, dass einer seiner Erzfeinde der Drei Fragezeichen ausgerechnet an Silvester vor seinem Wohnwagen auf dem Freeman-Gelände auftauchen würde. Skinny hatte sich auf einen gemütlichen und unspektakulären Abend mit einer Serie und ein paar Bier eingestellt, wie er es immer an Silvester tat. Denn während alle anderen den Übergang ins neue Jahr mit ihren Freunden verbringen wollten, musste Skinny sich Jahr für Jahr eingestehen, dass er keine Freunde hatte, mit denen er Silvester verbringen wollte. Die einzige Person, die jemals nahe an den Status Freund herangekommen war, stand nun im Dunkel der Nacht vor seinem Wohnwagen und sah ihn von unten herauf unsicher an.

„Kann ich reinkommen?" Bobs Gesicht sah traurig aus. Hatte er etwa geweint? Was um alles in der Welt wollte er hier mitten in der Nacht?

„Was willst du?" Skinnys Stimme klang schroff in Bobs Ohren, doch er wusste nur zu gut, dass der nach außen harte Skinny auch anders sein konnte. Das war ihm erst vor ein paar Wochen allzu schmerzlich bewusst geworden. Er wusste auch, dass dieser Besuch wahrscheinlich keine gute Idee war. Er sah bereits die dunklen Wolken, die sich am Himmel über ihnen zusammenzubrauen schienen.
Was wohl seine Freunde zu diesem Treffen mit dem Feind sagen würden?

„Ich würde das Thema gerne nicht hier draußen besprechen." Skinny musterte Bob, der trotz der kalten Nacht nur Jeans und T-Shirt trug. Seine dünne Jacke bot kaum die Wärme, die er im beheizten Wohnwagen bieten konnte. Kurz sah der Kleinkriminelle sich um, doch niemand war hier, um diese merkwürdige Zusammenkunft zu beobachten. Er seufzte.

„Okay, komm rein." Skinny trat einen Schritt zur Seite und ließ Bob in sein mobiles Heim. Unsicher sah Bob sich um. Skinny wurde nervös. Ob Bob sich daran erinnerte, dass er schon einmal hier gewesen war?

„Und? Hast du deinen Schläger gleich mitgebracht?", wollte er wissen, als Bob sich zu ihm umdrehte.

„Peter? Dem habe ich hiervon nichts erzählt!" Auf Bobs Gesicht meinte Skinny fast schon Entsetzen über den Gedanken sehen zu können, dass sein bester Kumpel wissen könne, dass er hier sei.

„War dir sicher peinlich." Skinny ließ Bob seinen Zorn deutlich spüren. Er wusste nicht, ob Bob die Amnesie, die ihn im Sommer verrückterweise genau in die Arme seines Erzfeindes getrieben hatte, vielleicht ein wenig länger aufrecht erhalten hatte, als sie angedauert hatte und warum er seinen Freunden danach erzählt hatte, er würde sich an alles erinnern und er sich doch so verhalten hatte, als hätte er alles, was zwischen ihnen passiert war, vergessen.

„Peinlich...? Ich weiß nicht, ob dies das richtige Wort ist." Bob zögerte. Wenn der Detektiv nicht hier war, um ihn für das Erlebte zu Rechenschaft zu ziehen, warum war er dann hier? „Können wir vielleicht einfach darüber reden?", fragte Bob plötzlich.

„Reden?" Skinny wusste nicht, was es da noch zu bereden gab. Er hatte Bob damals in dem Glauben gelassen, dass er ein alter Freund von ihm sei und er von seinen eigenen Freunden verfolgt worden wäre. Er trieb es sogar auf die Spitze, indem er behauptet hatte, dass diese an dem Unfall, der Bob zugestoßen war, verantwortlich seien und somit auch Schuld an seinem Gedächtnisverlust hätten.

Bob, dem er erzählt hatte, dass er eigentlich Stan Silver hieß, hatte bereitwillig alles geglaubt und war für ein paar Tage bei Skinny untergekommen. Als er einen erneuten Schlag auf den Kopf erhalten hatte, war seine Amnesie verschwunden und sie hatten nie wieder über die Zeit in Skinnys Wohnwagen gesprochen. Natürlich, er war nun wieder bei seinen wahren Freunden. Er brauchte ihn nicht mehr. Worüber wollte er also reden?

„Ich möchte über die Mondfinsternis sprechen." Bob wisperte die Worte fast, doch Skinny verstand jedes Wort. Und obwohl er versuchte, wütend auf den Detektiv zu sein, erwärmte der Gedanke an die Nacht vor ein paar Monaten kurz sein Herz. Erinnerungen an den Mond, den sie vom Dach des Wohnwagens aus beobachtet hatten, wie er immer dunkler geworden und schließlich halb verschwunden gewesen war, kamen in sein Gedächtnis. Das leise Kichern von Stan, der neben ihm gesessen und bereits sein zweites Glas billigen Wein getrunken hatte, kam ihm in den Sinn, als Skinny fragte, ob der Mond sich wohl darüber freue, dass er heute Nacht so viel Aufmerksamkeit bekäme, wo er doch sonst immer hinter der Sonne zurückstecken müsse.

„Ich glaube der Mond weiß gar nicht, wie viele Menschen nachts zu ihm aufsehen und sich wünschen, ihn näher erkunden zu können. Nur kann der Mond diese Menschen nicht ganz erkennen, weil eine Seite immer im Dunklen liegt. Aber der Mond ist etwas besonderes und ich wäre gerne bereit seine dunkle Seite zu erkunden und zu beleuchten", hatte Stan geantwortet und abermals gekichert. Dann hatte er, den Kopf, schwer vom Wein, an Skinnys Schulter gelehnt.

„Diese Nacht...", fing Bob an und Skinny wurde unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen. „Ich habe mich erst kürzlich wieder an diese Nacht erinnert. Ich... ich wusste es nicht, aber ich hatte diese Nacht vergessen, Skinny. Ich hatte all das hier vergessen! Und ich glaube, ich bin heute hier, um herauszufinden, ob ich es vergessen wollte oder ob es an dem zweiten Schlag lag. Ich will nicht mit dieser Ungewissheit in das neue Jahr starten. Ich will wissen, was das war, zwischen uns. Ob es wieder passieren könnte...", flüsterte er nun fast.

Skinny erschauderte. Bob hatte all das vergessen? Dann hatte er gar nicht absichtlich keine Notiz mehr von ihm genommen? Hatte gar nicht gewusst, dass er ihm das Herz gebrochen hatte, als er einfach fortgegangen war?

„Und jetzt?" Skinnys Stimme klang unsicherer, als er es geplant hatte, fast schwach. War es etwas, das Bob mit ihm machte? War es der Duft, den der Detektiv verströmte, dem sich Skinny nicht entziehen konnte? Oder war es die Wärme, die sich nun in ihm ausbreitete, als der junge Mann vor ihm näher an ihn herantrat und ihre Gesichter sich fast berührten.

„Ich weiß es nicht", gab Bob zu. Seine Augen huschten unsicher über das Gesicht des Älteren, den er jahrelang immer nur als ihren Erzfeind wahrgenommen hatte. Doch als ihm vor einigen Wochen die schwarze Hose seines Bosses Sax Sandler zufällig in die Hände gefallen war, waren die Erinnerungen an diese eine Nacht im Wohnwagen erneut wie eine Welle über ihn hereingebrochen. Der unschuldige Kuss auf dem Wohnwagendach. Gierige Hände an seinem Körper. Eine heiße feuchte Spur, die sich über seinen ganzen Körper gezogen hatte, als Skinny ihn überall geküsst und berührt hatte. Das Stöhnen ihrer Münder, die sich nicht mehr voneinander gelöst hatten und die Ekstase, die ihre vereinten Körper schließlich wie Treibgut an den Strand der Erlösung gespült hatte.

„Willst du aufs Dach?" Der Vorschlag von Skinny kam unerwartet. Doch Bob nickte. Skinny grinste und streckte seine Hände zur Dachluke hinauf. Er griff nach dem Hebel und schob den Deckel beiseite. „Nach dir", lächelte er und formte mit den Händen eine Räuberleiter. Nun musste auch Bob grinsen. Mit einer fließenden Bewegung kletterte er mit Skinnys Hilfe durch den schmalen Durchlass. Kurz darauf zog sich Skinny durch die Luke und setzte sich neben Bob. Eine Weile starrten sie schweigend in die Finsternis der Nacht hinaus.

„Was machst du, wenn du herausfindest, dass das mit Skinny und Stan echt war?" Skinnys Frage irritierte Bob kurz. „Was meinst du mit dir und Stan?" Er sah den Blonden im Augenwinkel grinsen. Doch sah er gleichzeitig auch traurig aus.

„Du könntest leicht sagen, dass es Stan war, der diese Gefühle zugelassen hat. Bob sieht das vielleicht ganz anders." Bob senkte den Blick und schwieg. Lange hatte er darüber nachgedacht, ob er wirklich herkommen sollte. Monatelang hatte er nicht mal gewusst, was passiert war und danach hätte er einfach weiter so tun können als sei das alles bloß eine Episode aus dem Leben eines anderen. Aus Stans Leben. Damit hatte er doch überhaupt nichts zu tun! Oder doch?

„Ich weiß gar nicht, wie Bob das sieht", sagte Bob und legte dann seine Hand auf Skinners, die neben ihm auf dem Dach lag. „Ich glaube, ich kenne diese Seite von mir noch gar nicht. Aber ein weiser Mann sagte mal, dass man auch die dunkle Seite des Mondes erkunden muss." Skinny lachte auf.

„Zitierst du dich gerade selbst?" Bob bemerkte amüsiert, dass sich kleine Fältchen unter Skinners Augen bildeten, während er lachend den Kopf schüttelte.

„Aber das habe nicht ich gesagt, sondern Stan", erwiderte er lachend.
„Du machst dir die Welt auch, wie sie dir gefällt, oder Andrews?", schnaubte Skinner amüsiert.
„Mag schon sein..." Bob blickte in den Himmel, der am Horizont plötzlich von bunten Leuchtraketen erhellt wurde. Aus den Wohnwagen um sie herum strömten die Bewohner, um sich das Spektakel am Himmel anzusehen, sich in die Arme zu fallen und auf das neue Jahr anzustoßen.

Skinnys Herz wurde mit einem Mal schwer. „Du solltest jetzt gehen, Bob. Dein neues Jahr sollte mit deinen Freunden starten und nicht mit einem, der dich belogen und ausgenutzt hat. Was auch immer das war, zwischen Stan und mir, es war nicht echt. Es war in einem anderen Leben. Ein anderer Mann, der deine Entscheidungen getroffen hat. Nicht du. Also geh!"

Bob hörte die Wut in Skinnys Stimme und schluckte hart, als er den Kloß in seinem Hals spürte. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war ihre Zeit, so schön sie auch gewesen war, nur dem Unfall und der Amnesie geschuldet. Wenn es für Skinny besser war, es zu vergessen, dann sollte er besser gehen und so tun, als sein dies alles nicht passiert. Sie würden nie wieder darüber reden und dieses Geheimnis im vergangenen Jahr lassen. So wie die dunkle Seite des Mondes niemals das Licht sehen würde, so würde er diese Nacht tief in seinem Herzen einschließen und nicht wieder herausholen. Und Skinny würde vermutlich das Gleiche tun.

„Wenn das so ist..." Bobs Stimme war nur ein Flüstern über die Geräusche um sie herum. „Frohes Neues Jahr, Skinny!", hauchte er, als er einen sanften Kuss auf seine kalte Wange drückte und dann durch die Luke im Dach verschwand. Skinny sah dem Detektiv noch lange nach, als dieser durch das Tor des Freeman-Geländes verschwunden war und wischte sich dann eine Träne aus dem Gesicht.

„Frohes Neues Jahr, Stan", murmelte er und sah dann zum Mond hinauf. Er mochte noch so hell leuchten – eine Seite würde immer dunkel bleiben.

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