12 | Mr Lindströms Karte
Dienstag
Ventura, Summit Drive
Als Bob am Dienstag nach der Schule mit dem Käfer Richtung Ventura fuhr, um sich mit dem Kollegen seines Vaters zu treffen, kreisten seine Gedanken die ganze Zeit um seine Zukunft. Er ärgerte sich fast, dass ihm die Idee mit dem Ferienkurs nicht selbst in den Sinn gekommen war. Die Sommerferien über war er so mit Peter und ihrer Beziehung beschäftigt gewesen, dass er kaum an die Zeit nach der Schule gedacht hatte. Es fühlte sich immer so an, als hätte er noch unendlich viel Zeit, darüber nachzudenken.
Peter hatte seit jeher davon geträumt, Basketballprofi zu werden, und Justus' brillanter Verstand öffnete ihm ohnehin viele Türen. Bob dagegen war immer nur ein guter, aber nie herausragender Schüler gewesen. Seine Leidenschaft lag in den Büchern. Er konnte stundenlang durch die Bibliothek schlendern, die Finger sanft über die alten Buchrücken gleiten lassen und den Hauch der Weisheit spüren, der aus ihnen strömte. Und dann waren da noch die Schülerzeitung – das Recherchieren und das Schreiben. Und auch die Detektivarbeit mit seinen Freunden, die Dokumentation ihrer Fälle... das alles fühlte sich für ihn wie das Richtige an. Aber reichte das, um eine Zukunft darauf zu bauen?
Welche Alternativen blieben ihm noch? Vielleicht sollte er einfach erst mal ausprobieren, ob der Job in der Redaktion wirklich das Richtige für ihn war, bevor er sich endgültig festlegte. Es wäre doch dumm, jetzt schon andere Möglichkeiten auszuschließen. Vielleicht würde er doch etwas ganz anderes studieren, um bei Peter zu bleiben, egal wohin es ihn verschlug. Er wollte an seiner Seite sein, ein gemeinsames Leben mit ihm aufbauen.
Als das Navi auf seinem Handy die Ankunft verkündete, erkannte Bob bereits den Wagen seines Vaters in der Auffahrt des eleganten Wohnhauses im Summit Drive, in dem Mr Lindström sein Apartment hatte. Es lag direkt am Hang der umliegenden Berge, unweit der botanischen Gärten und einem spektakulärem Ausssichtspunkt.
Bob stieg aus und sog die salzige Meeresluft tief ein. Eine sanfte Brise rauschte durch die Bäume am Hang, die fast den gesamten Blick auf den Ozean verdeckten. Doch vom zweiten Stock aus, dachte er, würde man das Meer bestimmt sehen können. Vielleicht lag genau darin das Problem. Bob hatte seine Zukunft immer nur aus einer Perspektive betrachtet. Vielleicht brauchte er einen neuen Blickwinkel, um wirklich klar zu sehen und neue Ideen zu entwickeln.
Mit diesem Gedanken entschloss Bob sich, später mit seinem Vater darüber zu sprechen, und drückte den Klingelknopf. Der Summer ertönte prompt, als hätte man nur auf ihn gewartet. Er öffnete die Tür zum Treppenhaus und folgte den Stimmen ins oberste Stockwerk. Dort entdeckte er seinen Vater, der noch im Flur stand und offenbar nur kurz vor ihm angekommen war – er trug noch immer seine Schuhe.
„Hey Dad! Auch gerade angekommen?" Bobs Vater drehte sich zur Tür um und machte einen Schritt zur Seite. „Robert, schön, dass du schon hier bist. Komm rein! Darf ich dir meinen alten Kollegen Hans Lindström vorstellen?"
„Hey, vorsichtig mit dem 'alt'!" Hans lachte, und feine Falten legten sich um seine Augen. Sein Gesicht war von Sonne und einem guten Leben gezeichnet, seine blonden Haare durchzogen von grauen Strähnen. „Schön, dich endlich kennenzulernen, Robert! Dein Vater hat mir schon so viel von dir und den drei Detektiven erzählt." Hans streckte die Hand aus, und Bob bemerkte den festen Händedruck.
„Danke für die Einladung, Mr. Lindström. Es scheint fast, als würden Sie nicht nur über Piraten schreiben, sondern selbst gern Zeit auf dem Meer verbringen."
Hans grinste breit, die Augen überrascht. „Na, hast du ihm das erzählt, Bill? Oder seid ihr Detektive wirklich so gut, wenn du das so schnell herausgefunden hast?"
Bob lächelte. „So schwer war das auch nicht", sagte er bescheiden und ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen, das sie gerade betraten. Spätestens hier konnte man die maritime Leidenschaft von Mr. Lindström nicht mehr übersehen: Große Seekarten hingen an den Wänden, mehrere Buddelschiffe schmückten die Kommode, und das gesamte Interieur war in Blau- und Weißtönen gehalten.
„Meine Familie kommt ursprünglich aus Dänemark, das liegt in Europa, nördlich von Deutschland, wenn dir das was sagt."
Bob nickte eifrig. „Ich kenne sogar eine dänische Band, die in den USA ziemlich erfolgreich ist: Volbeat. Ihr Durchbruch kam 2012 mit dem Song „A Warrior's Call", der es auf Platz 1 der Billboard Active Rock Charts schaffte. Seitdem haben sie mehrere Nummer-1-Hits in den US-Rockcharts erzielt und sind eine der wenigen europäischen Bands, die in diesem Markt so erfolgreich sind. Bis 2021 hielten sie den Rekord für die meisten Nummer-1-Hits in den Mainstream-Rock-Charts von Künstlern außerhalb Nordamerikas – insgesamt waren es 10 Songs."
„Da kennt sich ja jemand mit Musik aus, herrje! Davon habe ich ja keine Ahnung! Meine Vorfahren waren Fischer, und obwohl ich lieber schreibe, habe ich das Meer nie ganz aus mir herausbekommen." Hans lachte und bot seinen Gästen einen Tee an.
„Mein Sohn arbeitet in seiner Freizeit manchmal für Sax Sandler, den Musikagenten. Meine Frau meint immer, wenn Robert nicht in meine Fußstapfen tritt, verlieren wir ihn an die Musik!" Mr Andrews lachte, legte seinen Arm um Bob und zwinkerte ihm amüsiert zu.
Als sie im Wohnzimmer Platz nahmen, fiel Bobs Blick sofort auf eine große Seekarte an der Wand, die sehr alt zu sein schien. Neben den üblichen Punkten und Markierungen entlang der Küste von Rocky Beach entdeckte er einige handschriftliche Notizen, die seine Neugier weckten.
„Ist das eine Karte von Rocky Beach, Mr Lindström?", fragte Bob.
Der ältere Mann folgte seinem Blick und nickte. „Ach, nenn mich doch bitte Hans, mein Junge. Mr Lindström ist mein Vater." Er zwinkerte Bob aufmunternd zu. Dann fuhr er mit einem Blick auf die Karte nicht ohne Stolz fort: „Ja, das ist sie. Eine recht alte sogar. Ich habe sie vor ein paar Monaten in einem Antiquariat in der Nachbarstadt Oxnard gefunden. Seltsamerweise weicht sie an einigen Stellen von der Karte ab, die im Museum archiviert war. Ich konnte es kaum glauben, als ich das bemerkte."
Bobs Ohren spitzten sich. „Was genau weicht denn ab?"
Hans nahm einen Schluck Tee, bevor er antwortete. „Nun, es fehlen ein paar markante Punkte. Besonders eine Bucht, die als Piratenbucht bekannt war. Laut meiner Recherchen soll dort vor langer Zeit ein Schiff gesunken sein. Man sagt, die Piraten hätten ihren Schatz in Rocky Beach versteckt, bevor das Schiff unterging. Aber auf der Karte im Archiv ist diese Bucht nicht verzeichnet. Das ist schon seltsam, findest du nicht?"
Bob spürte, wie sein Herz schneller schlug. Nach kurzem Zögern griff er nach seiner Tasche und zog eine sorgfältig gefaltete Kopie der Karte heraus.
„Das klingt wirklich interessant", sagte Bob, während er das Blatt auf den Tisch legte. „Wir haben auch eine alte Karte gefunden – oder besser gesagt, wir haben eine Kopie davon gemacht. Collin, der Junge, der die Artefakte aus dem Archiv gestohlen hat, hatte sie ebenfalls in seinen Händen."
Hans' Augen weiteten sich. „Du hast eine Kopie der gestohlenen Karte?"
Bob nickte. „Ja, die drei Detektive haben den Fall gelöst und die Karte gefunden. Das Original ist... es ist uns leider gestohlen worden, bevor wir es der Polizei zurückgeben konnten."
Hans lehnte sich vor und studierte die Kopie aufmerksam. „Das kann nicht wahr sein... Hier, schau mal!" Er deutete auf einen Punkt nahe der Küste. „Das ist die Piratenbucht. Sie müsste hier sein, aber auf der Karte im Archiv fehlt sie komplett."
„Aber warum würde jemand die Bucht von einer Karte entfernen? Das sieht doch nach Absicht aus, oder?"
Hans ließ sich zurück in seinen Sessel sinken und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Vielleicht wollte jemand verbergen, was dort passiert ist. Oder... was dort noch zu finden ist."
Bob schüttelte den Kopf. „Aber wer würde etwas so Offensichtliches tun? Und warum taucht ausgerechnet jetzt, nach all der Zeit, die zweite Karte auf, während das Original verschwunden ist?"
Hans sah Bob mit einem scharfen Blick an. „Wusstest du, dass der Schatz nie gefunden wurde? Kann es nicht sein, dass es jemanden gibt, der noch immer danach sucht?"
Bob spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen, als er Hans' Worte hörte.
„Collin?", murmelte er ehrfürchtig. Er hatte die Karte gestohlen und danach versteckt. War er vielleicht nur ein kleiner Teil eines größeren Plans? Ein Plan, den jemand anderes für ihn erdacht hatte?
Hans zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, wer kann das schon wissen? Es gibt immer wieder Menschen, die solche alten Geschichten zu ihrem Vorteil nutzen wollen. Vielleicht hat es etwas mit den Unstimmigkeiten auf den Karten zu tun. Es wäre jedenfalls kein Zufall, dass die Piratenbucht fehlt und gleichzeitig jemand versucht, die Originale zu stehlen."
Bob dachte einen Moment nach, dann erinnerte er sich daran, dass auch Dr Franklin die Karte unbedingt in ihren Besitz hatte bringen wollen. Wusste sie etwas, dass mit der Karte und dem Schatz zu tun hatte? Und inwieweit war Skinny damals involviert gewesen? Er hatte laut den anderen Bandenmitgliedern die Karte als Faustpfand ausgesucht. Oder war es von Anfang an geplant gewesen?
„Hans, weißt du von anderen Quellen, die sich kürzlich mit dem Schatz und der Karte beschäftigt haben? Wieso liegt jetzt plötzlich so ein Fokus auf der alten Geschichte? Hat jemand etwas gefunden oder ausgeplaudert?"
„Nicht so schnell mit den jungen Pferden!" Hans lachte laut auf. „Dein Sohn wird später mal einen guten Journalisten abgeben. Oder einen Detektiv", sagte er an Bobs Vater gewandt. Dann richtete er sich an Bob. „Ich habe in diese Richtung noch keine Nachforschungen angestellt, aber die Sache fasziniert mich. Ich werde die jüngste Vergangenheit nach Vorkommnissen untersuchen und dir berichten, wenn ich was finde. Wenn du mich im Gegenzug auf dem Laufenden hältst. Einverstanden?"
Bob nickte bereitwillig und zog dann sein Notizbuch hervor, um sich das Gesagte zu notieren. Sofort erregte das alte Buch Hans' Aufmerksamkeit.
„Das ist ja wunderschön! Wo hast du es her?"
Stolz zeigte Bob das Buch vor. „Peter hat es mir auf dem Piratenfest geschenkt", sagte Bob. „Eine alte Frau hat es ihm verkauft und meinte, dass darin ein Geheimnis verborgen sein könnte. Es klang natürlich wie ein Scherz, aber irgendwie..."
„Darf ich...?" Hans nahm das Buch vorsichtig entgegen, seine Augen weiteten sich leicht, als er den Einband näher betrachtete. „Wo hat er das genau her?", fragte er.
„Vom Stand einer Frau, die allerlei alte Piratensachen verkaufte. Wir dachten, es wäre nur so eine Touristenmasche, aber irgendetwas an diesem Buch hat mich neugierig gemacht", antwortete Bob.
Hans öffnete das Notizbuch behutsam; die vergilbten Seiten fühlten sich fast fragil an. Während er blätterte, bemerkte er, dass die Seiten leer waren. Doch dann hielt er an einer Stelle weiter hinten inne.
„Das ist kein gewöhnliches Notizbuch", murmelte er, während er über eine unscheinbare Markierung in der Ecke der Seite strich. „Dieses Symbol hier... das habe ich schon einmal gesehen. Es wurde früher von Piraten benutzt, um Botschaften zu verbergen."
Bob beugte sich vor, seine Neugier war geweckt. „Meinst du, es ist eine Art Geheimcode?"
Hans nickte langsam. „Möglicherweise. Piraten haben oft solche Techniken verwendet, um geheime Botschaften zu übermitteln oder Hinweise auf versteckte Schätze zu hinterlassen. Manche Notizbücher hatten spezielle Tinten oder Mechanismen, um Informationen nur unter bestimmten Bedingungen sichtbar zu machen."
Bob spürte, wie seine Aufregung wuchs. „Denkst du, das Buch könnte einen Hinweis auf den Schatz enthalten?"
Hans musterte das Notizbuch eingehend. „Es ist gut möglich, dass dieses Buch ein Teil des Puzzles ist. Die Markierungen, die Symbole – das alles passt zusammen. Vielleicht wurde es benutzt, um den Ort eines Schatzes zu dokumentieren oder um Hinweise auf eine versteckte Karte zu geben. Warte, ich habe hier doch eben genau dieses Symbol hier... ach, da, auf der Karte! Siehst du es?"
Hans griff nach einem Stift und begann, die Notizen auf der Kopie zu studieren. „Hier, schau dir das an", sagte er und deutete auf eine kleine, kaum lesbare Markierung nahe der Piratenbucht. „Dieses Symbol hier ist das gleiche wie in deinem Buch. Ich habe es auch schon einmal in alten Aufzeichnungen gesehen – es stammt aus der Zeit, als Rocky Beach noch von Piratenhehlern genutzt wurde."
Bob runzelte die Stirn. „Piratenhehler?"
Hans nickte. „Ja, die Piraten selbst haben den Schatz vielleicht versteckt, aber es waren ihre Verbündeten an Land, die sich um den Transport und den Verkauf kümmerten. Sie nutzten geheime Symbole, um sich zu verständigen, ohne Verdacht zu erregen. Dieses Symbol könnte ein Hinweis darauf sein, wo der Schatz versteckt ist oder zumindest, wo ein weiterer Teil der Hinweise liegt."
Bobs Kopf schwirrte vor Gedanken und Möglichkeiten. Die drei Detektive hatten schon viele Rätsel gelöst, aber dies fühlte sich anders an – größer, gefährlicher. „Also, was machen wir jetzt?"
Hans lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich würde sagen, wir gehen der Sache nach. Wir müssen herausfinden, wer noch hinter dieser Karte her ist und warum die Piratenbucht auf der anderen Karte verschwunden ist. Und vor allem – was sie dort verborgen haben."
Bob fühlte eine Mischung aus Aufregung und Ehrfurcht. Das unscheinbare Notizbuch, das Peter ihm gekauft hatte, war vielleicht viel mehr als nur eine banale Touristenattraktion. „Wie finden wir nun heraus, was noch darin verborgen ist?", fragte er schließlich.
„Ich würde vorschlagen, wir bringen es zu jemandem, der sich mit alten Dokumenten und Verschlüsselungen auskennt", sagte Hans und schloss das Buch. „Aber wir sollten vorsichtig sein. Wenn jemand bereits nach der Karte sucht, könnte auch dieses Notizbuch in Gefahr sein."
Bob nickte nachdenklich. „Ich werde es Justus und Peter zeigen. Wenn jemand herausfinden kann, wie dieses Notizbuch funktioniert, dann Justus."
„Das klingt nach einem guten Plan", stimmte Hans zu. „Aber beeilt euch. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit knapp wird. Wer auch immer hinter diesem Schatz her ist, wird nicht lange auf sich warten lassen."
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