Kapitel 19 - Luis

Luis zog seinen Füller über das Papier in raschen Schwüngen. Seine Notizen waren einziges Chaos. Sätzen brachen in der Mitte ab, quetschten sich zwischen andere und jedes zwölfte Wort war durchgestrichen. Ja, er würde wohl eine weitere Nacht dem Neuverfassen opfern müssen. In aller Ehrlichkeit, er hatte vergessen, wie schrecklich Schule war. Er konnte einfach nicht mithalten. Er war ein gottverdammter Meisterstratege auf dem Feld und er konnte nicht mithalten. Dreißig Sekunden nachdem ein Professor etwas sagte, hatte er es auch schon wieder vergessen. 

Er würde wohl erneut eine Nacht dem Neuverfassen opfern müssen. Könnte er den dämlichen Füller doch nur zum selbst schreiben animieren. Aber Luis konnte machen, was er wollte, das Teil regte sich keinen Zentimeter.

Wer hätte gedacht, dass so viel Theorie hinter Magie steckt? Ein kurzes Abrakadabra reichte nicht aus, um einen Zauber zu produzieren und selbst die komplizierteste Handbewegung würde einem da nicht weiterhelfen.

Er hatte gerade mal die erste Woche hinter sich und schon war er in dem Kurs für Leistungsschwache. Ergo, bis er keinen Zauber hinbekam, durfte er nur die theoretischen Stunden besuche. Statt an den praktischen teilzunehmen, würde er eine Nachhilfegruppe besuchen. Meira zerrte ihn zwar mit eiserner Hartnäckigkeit jeden Nachmittag in die Bibliothek, doch auch das brachte nicht viel. 

Ihre Freunde hatte er bis jetzt nicht mehr gesehen. Nur flüchtig. Thoung war einmal kurz aufgetaucht. Meira hatte ausversehen ihre Mappe eingepackt. Die gesamten fünf Minuten ihres Aufenthalts hatte sie ihre Augen nicht von ihm genommen. Sie war neugierig, so wie vermutlich alle anderen auch. Nur sie versuchte erst gar nicht, es zu verstecken. Anders als die Professoren, die murmelten dauernd hinter seinem Rücken, als würde er nicht merken, was sie taten. Jeder wollte wissen, warum Kontrolles Magie ihn nach Kingdom Come schicken wollte. Niemand traute sich jedoch, den Mund aufzumachen. 

Das die Leute hier überhaupt etwas auf die Reihe bekamen. Im Institut wäre er schon längst einer Investigation unterzogen worden. Sie hätten ihn von oben bis unten aufgeschlitzt, wenn sie meinten, dass es sie der Antwort näherbringen würde.

Geschichtsprofessor Shuffelbottom, kein Scherz, so hieß der Kerl wirklich, war genauso schlimm. Jedes Thema führte irgendwann wieder zu Olivia. Generell total viel von dem, was er labberte, war falsch. Peinlich falsch, wenn sogar Luis besser Bescheid wusste.

Jeder wusste doch, dass die Götter der alten Zeiten tatsächlich die ersten Kinder des Todes waren. Von der griechische, römischen bis hin zu der ägyptischen Variante. Ja, die Inzucht lässt sich schwer leugnen. Da Halbgötter aber zumindest nur die DNA ihres menschlichen Elternteils erben (Götter haben keine DNA, wer hätte es gedacht?), war das Ganze zumindest halbwegs vertretbar. Aber auch nur zusammengekniffenen Augen.

Luis war nur froh, dass Olivia sich, so weit er wusste, immer aus dieser Problematik herausgehalten hatte. Sie war zu attraktiv, um sich so aufzuführen.

"Nun denn", sagte Professor Shufflebottom schließlich, "ich habe nun wirklich lang genug geredet." Hatte er. Leider. "Bei den jetzigen Halbgöttern machen wir es anders rum. Ich habe zwar schon einiges vorweggenommen, aber egal. Testen wir euer Wissen. Wir gehen Halbgott für Halbgott durch. Also? Wer von euch kann mir etwas über Kontrolle erzählen?"

Luis hob seine Hand. Überraschend als Einziger. Vermutlich war der Rest der Klasse schon weggedöst. James, der bis jetzt nur unnütz auf Bändern seiner Weste herumgekaut hatte - obwohl, nein, das war gelogen, er hatte nicht nur auf den Bändern herumgekaut. Jedes Mal, wenn der Professor etwas sagte, versuchte James den Fehler in seinen Worten zu finden. Das ganze Hin und Her machte Luis' Notizen nicht gerade übersichtlicher.

'Von den ersten drei Halbgöttern - Zeus, Poseidon und Hades - ist Poseidon der einzige, dessen Werte noch immer hochgehalten werden. Kontrolle ist dafür bekannt gewesen, ihren Bruder im Jenseits zu besuchen. Tatsache ist, die beiden verstehen sich so gut, dass er Kontrolle die Verantwortung über seine Gewässer übertragen hat." Das sagte zumindest der Professor.

Cue James mit: 'Poseidon? Poseidon wie in Neptun? Als ihn der unberechenbarste Halbgott, der je die Erde betreten hat und für seine Wutanfälle bekannt ist? Der Poseidon? Ja, Kontrolle liebt ihn. Definitiv mehr als Hades oder Hestia. Jap. Ja. Zehn von zehn.'

Und so ging es schon die gesamte Stunde. 

'Heute gibt es nur noch vier Halbgötter, deren Beziehung eine sexuelle Note angenommen hat. Potential und Metamorphosis sowie Desire und Control.' - Nein, nicht laut James. Sorry, Professor. 

'Verlangen und Kontrolle.' James hatte lauthals gelacht. 'Vielleicht in Ihrem Browserverlauf.'

James konnte den Professor Shuffelbottom wirklich nicht ausstehen. Man müsste schon eine spezielle Art von dumm sein, um das nicht zu bemerken. Luis rechnete schon die ganze Stunde damit, dass irgendwann die Fäuste fliegen würden.

Jedenfalls als er aufzeigte, blickte James sogleich zu ihm hinüber, seufzte, verdrehte die Augen und hob halb die Hand. Jetzt wollte er die Nummer auch noch bei ihm durchziehen.

Luis hätte sich nicht zusammenreißen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Dieser eine Blick, als wäre er nicht mehr als ein sprechender Fußabtreter. Eine Unannehmlichkeit durch und durch. Warum war Monroe überhaupt hier? Das war ein Einschulungskurs. Hatte er nichts besseres zu tun? Bevor Professor Shufflebottom ein Wort herauskriegen konnte, drehte sich Luis zu James.

"Und was genau sollte das jetzt heißen?"

Gelangweilt entgegnete James seinen Blick. Seine Haltung schrie förmlich 'redest du mit mir?'.

Egozentrischer Arsch.

"Vielleicht habe ich Besseres zu tun, als einem Sektenfanatiker-"

"Mr. Monroe!" Doch James ließ sich nicht abbringen.

"- dabei zuzuhören, wie er eine Halbgöttin verschandelt."

"Verschandelt?" Luis schnaufte. "Du glaubst, du könntest es besser machen? Schau dir dein Leben an, du bist so erfüllt von der Hand, die sie niedergestochen hat - sie will sich sicher nicht in deinem Mund hören."

James beugte sich über den Tisch in seine Richtung. "Lass mich raten: Ich bin zu attraktiv, um mich so aufzuführen? Tell you what, wenn du das schriftlich von ihr kriegst, küss ich deine Schuhe um Vergebung. Bis dahin tu ihr und mir doch einen Gefallen und halt einfach die Klappe."

Luis konnte es nicht begreifen. Was nahm Monroe sich eigentlich raus? Er konnte doch nicht einfach - welches Recht hatte er für die Halbgöttin zu sprechen? Dieses ganze Egogetue ging Luis schon so auf die Nerven. Reine Kompensation, wenn man ihn fragte. Eins ist klar, Olivia würde sich so nie aufführen.

"Du bist unmöglich! Es interessiert dich doch einen feuchten Dreck, was ich über Olivia-" James hob eine Augenbraue. "Äh - Kontrolle sage. Du bist doch nichts als ein kleiner, -"

"Meine Herren bitte-"

James ließ ihn mit einem Finger verstummen. "Hold that thought." Dann wandte er sich wieder Luis zu. Ein verschlagenes Lächeln spielte um seine Lippen. Er sah ihn an wie die Katze, die den Vogel in den Tatzen hielt. "Ich bin was?"

Luis biss die Zähne zusammen. Sein Griff festigte sich um den Füller. Er konnte den Rausch der Magie von Monroe deutlich hören. Vorzüge mit einer Magierin aufgewachsen zu sein. Sollte er es doch versuchen. Luis hatte schon stärkere als ihn mit weniger auseinandergenommen. Eine falsche Bewegung und er würde sein Auge verlieren. "Als ob du das nicht weißt."

James schnalzte mit der Zunge. "Maybe just I want to hear you say it."

"Kommen wir doch zurück zu der Fragestellung", versuchte Professor Shufflebottom die Situation zu deeskalieren. Zwei Köpfe schnellten zu ihm hinüber und funkelten ihn böse an. Sein Körper sackte zu Boden, als wären seine Nerven durchtrennt worden. Luis glaubte nicht einmal ihn atmen zu sehen. Als seine Augen sich auf James richteten, stockte er. Etwas hatte sich geändert. Eine Kälte war in seinen eingekehrt.

Luis erhob sich.

"Die Fragestellung. Klar doch." Eine gute Ablenkung. Er brauchte Monroe redend, wenn das hier in einem Kampf enden sollte. "Warum nicht", sagte Luis. "Olivia, die seriöseste aller Halbgötter-"

"Pornodarstellerin in so ziemlich allen Köpfen der hier anwesenden."

"Shut it", zischte Luis, bevor er von neuem begann. "Die seriöseste aller Halbgötter und die reinste-"

"Rein." James lachte und sprang von seinem Platz auf. Er stolzierte über die Tische und stieg über die Köpfe der Studenten. Keiner wusste so wirklich, wie er reagieren sollte. "BDSM Praktiken, Massenmord und Politikskandale wohl weggelassen. Ich erspare dir die Arbeit. So stellt man Kontrolle vor:" Mit einem Salto landete er vor dem Lehrerpult und streckte die Arme weit aus. "Ihr kennt ihren Namen, ihr habt ihn nicht zu verwenden, doch lieben tut ihr sie alle, unsere Halbgöttin Kontrolle. Nach ihrem Techtelmechtel mit einem Serienmörder unterjochte sie nicht nur Diktaturen, sondern verstieß mehrmals vor laufender Kamera gegen sämtliche Regeln der Götter. Als herzlose Bitch und prüde Schlampe be-"

Luis warf den Füller. James hatte nicht einmal den Anstand, Magie zu verwenden. Er lehnte sie leicht beiseite und ließ ihn an seinem Kopf beiseite sausen. Mit überkreuzten Beinen machte er es sich auf dem Lehrerpult bequem. Etwas mehr Respekt konnte Monroe echt nicht schaden.

James machte es sich mit überkreuzten Beinen auf dem Lehrerpult bequem. "Vor wem? Dir und deinem - keine Ahnung, welchen Komplex du mit ihr hast. Fakt ist, dass-"

"Du kannst nicht so über sie reden", unterbrach Luis. "Sie ist eine Halbgöttin, verdammt noch mal!"

"Aber das du sie sexualisierst ist völlig in Ordnung? Ziemlich sicher, dass sie mein Gerede deinem Wahn vorziehen würde."

Röte stieg in Luis' Wangen auf. "Ich - nein - ich würde doch - ich hab nicht -"

James legte eine Hand auf seine Stirn und ließ sich mit einem dramatischen Seufzer rückwärts auf das Lehrerpult fallen. Er drapiert sich förmlich darüber, als wäre Luis so ungefährlich, dass er nicht einmal seine Beachtung verdiente.

"Doch hast du. Sowie der Rest dieser Reihe und die dahinter, wie unser lieber Professor und jeder anscheinend mit einem Sexualtrieb."

"Lass mich raten - nur du nicht", entgegnete Luis trocken.

Er schüttelte den Kopf, lächelnd, als wäre allein die Vorstellung schon absurd. "Sie ist nicht wirklich...mein Typ."

"Also bist du schwul?" Oder blind.

"Pansexuell, wenn wir's genau nehmen." Blind also. Sturzbesoffen blind. Seine Art von Typ würde Luis echt gerne mal sehen. "In anderen Worten bin ich der Einzige, der nicht aus einer Obsession raus spricht. Aber hey, falls ich je jemanden brauche, um Mona Lisa 2.0 aus ihr zu machen", er schnalzte die Zunge und schwang zurück in eine aufrechte Position, "bist du der Erste auf meiner Liste."

Dann tat er etwas, mit dem Luis nie gerechnet hätte. Er gab nach, ließ das Thema einfach fallen, als wollte er gar nicht mit Luis kämpfen. Es war ungewohnt. Mehr als ungewohnt. Luis wusste nicht wirklich, was er jetzt machen sollte. Wäre es William gewesen oder sonst jemand aus dem Institut, würden sie schon längst aufeinander einprügeln. Solange keine bleibenden Schäden hinterblieben, waren die Instruktoren da eigentlich recht locker.

James klatschte einmal in die Hände. "Nun gut. Ich würde euch jetzt eigentlich entlassen, unser Professor ist offensichtlich gerade nicht in der Lage zu unterrichten, aber nein. Sorry. Vergesst einfach die letzte halbe Stunde", sagte er, als wäre das alles hier komplett im Rahmen der Normalität. "Gehen wir die Basics durch. Magische Geschichte aber diesmal richtig. Beginnen wir doch mit der häufigsten Frage, wie erlangten Menschen eigentlich Magie? Nun ja, ihr alle kennt doch Zeus, Poseidon, Aphrodite - die üblichen Schuldigen halt. Zeugt ein Halbgott mit einem Menschen ein Kind, ist dieses zwar nicht unsterblich, aber es hat dennoch Zugang zu Magie. Jeder, der also mit Magie geboren ist, so schwach sie auch sein mag, ist mit einem Halbgott verwandt. Manchmal lässt das Gen aber auch ein paar Generationen aus, weshalb vermutlich die meisten von euch hier sind. Und nope, bevor irgendeiner von euch auf komische Gedanken kommt, die jetzigen Halbgötter sind alle zeugungsunfähig."

Weiter und weiter redete er über die Geschichte der vier Götter und die Kinder des Todes oder wie wir sie nennen: Halbgötter. Die Klasse ließ ihn gewähren. Das meiste, über das er sprach, war skurril. Es war nicht das typische Geschwafel von Erhabenheit und Stärke. Er sprach über genetische Merkmale, den Einfluss ihrer Präsenz und über die Aufgaben, die ihnen unterstanden. Es war überraschend gut. Na ja, abgesehen davon, dass sie sich mit ziemlicher Sicherheit den Raum mit einer frischen Leiche teilten und James jedem Nicht-Aufpasser gleich mit einem ähnlichen Schicksal drohte.

Die Kreide levitierte vor der Tafel und schrieb zwei Sätze auf die glatte Oberfläche. Eine Erinnerung. Eine Warnung.

Nichts ist gefährlicher als die Langeweile eines Gotts. Their pleasure, their wrath - both dim in comparision.

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Oooh! Zwei, vielleicht drei Kapitel noch und dann bekommt ihr eine meiner Lieblingsszenen zu lesen. Die hat so viel Spaß zum Schreiben gemacht. James vs Luis, sag ich da nur!!!

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