✰ Kapitel 9
Müde sitze ich in einer Vorlesung zum Thema Entwicklungspsychologie und obwohl ich mich anstrenge, bin ich nicht in der Lage, den Worten der Professorin zu folgen.
Ich fühle mich wie ein Schatten meiner selbst. Nicht mehr im Stande, die einfachsten Dinge zu bewerkstelligen. Seitdem er in die Dunkelheit gegangen ist, habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Vier Nächte sind seither vergangen, aber er erscheint einfach nicht mehr in meinen Träumen. Genaugenommen träume ich überhaupt nicht mehr. Jeder Gedanke an ihn treibt mir die Tränen in die Augen, während sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht.
»Allie«, flüstert Cassie plötzlich neben mir. Sie stupst mich an und deutet dann an die Wand hinter unserer Dozentin, wo eine großflächige Projektion zu sehen ist. »Das sind die möglichen Themen für die mündliche Prüfung«, erklärt sie und fordert mich mit ihren Augen auf, diese endlich abzuschreiben.
Widerwillig öffne ich meinen Block und beginne damit, die Gliederung auf das Papier zu übertragen. Natürlich ohne zu realisieren, was ich da überhaupt schreibe. Egal, wie sehr ich auch versuche, mich zu konzentrieren, meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Ob ich je wieder die Alte sein werde? Ehrlich, ich habe keine Ahnung.
Nach der Vorlesung hakt sich Cassie bei mir unter. »Mensa?«, fragt sie hoffnungsvoll, aber ich schüttle nur betrübt meinen Kopf.
»Hör zu ...«, sie bleibt abrupt stehen und legt ihre Hände auf meinen Schultern ab, um meine volle Aufmerksamkeit zu erzwingen. »Ich verstehe, dass du verzweifelt bist, aber dich so zu sehen, macht mich fertig. Ich will dir helfen, für dich da sein, aber du musst mir sagen, was ich tun kann.«
Zum ersten Mal an diesem Tag sehe ich ihr direkt ins Gesicht und bemerke mit Schrecken, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln. »Nicht weinen, bitte«, flehe ich leise. Ich bin momentan wirklich nicht in der Verfassung Trost zu spenden.
»Wenn du möchtest, gehen wir zu einem Geisterbeschwörer, Wahrsager oder wohin auch immer du willst, aber sag mir endlich, wie ich dich unterstützen kann.« Sie versucht die Tränen wegzublinzeln, aber es gelingt ihr nicht. Oh Gott, ich habe sie so tief in meine Probleme gezogen, dass ich mich kurz selbst dafür hasse.
»Cassie, du bist die beste Freundin, die man haben kann und ich wünschte, ich hätte ein Patentrezept, wie ich am besten aus diesem mentalen Loch komme«, beginne ich und wische ihr eine Träne aus dem Gesicht. »Es tut mir wirklich leid, dass du dich wegen mir so schlecht fühlst und ich bin sicher, mit der Zeit werde ich darüber hinwegkommen.«
Eine Lüge. Schon wieder.
Obwohl ich ihr versprochen hatte, von nun an ehrlich zu sein. Allerdings kann ich ihr nicht sagen, wie es in mir aussieht. Die Leere die ich fühle, ist wohl am ehesten mit Trauer zu beschreiben. Trauer um einen Menschen, den es überhaupt nicht gibt.
Im Moment will ich nur, dass sich Cassie zurückzieht. Zum einen, weil ich merke, wie sie unter meiner Verfassung leidet und zum anderen, weil ich einfach nur alleine sein will. Ohne soziale Verpflichtungen und vor allem, um vielleicht doch irgendwie mein gedankliches Chaos ordnen zu können.
»Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen, okay?«, schiebe ich hinterher. Als sie den Mund öffnet, um etwas zu sagen, ergänze ich schnell: »Allein.«
Sie seufzt, aber nickt verstehend. »Wann ist deine nächste Schicht?«, will sie noch wissen und ich muss eine Weile überlegen, bis mir einfällt, wann ich das nächste Mal im Krankenhaus sein werde.
»Donnerstag«, antworte ich nach einer gefühlten Ewigkeit und Cassie bedenkt mich mit einem besorgten Blick.
»Das ist Morgen«, gibt sie entsetzt zurück. »Soll ich die Schicht für dich übernehmen oder schaffst du das?«
»Ich krieg das schon hin«, antworte ich und zwinge mir ein Lächeln auf. »Etwas Ablenkung schadet schon nicht.«
»Na gut, aber wenn du es dir doch anders-«
»Cassie!«, unterbreche ich sie auf der Stelle. »Ich schaffe das schon.«
Vergangenen Sonntag - nach meinem letzten Traum - bin ich ebenfalls arbeiten gewesen. Ich war aufgewühlt, aber hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich noch keine Ahnung, dass sein Gang in die Dunkelheit wirklich ein Abschied für immer gewesen sein sollte. Wäre mir das bewusst gewesen, hätte ich vermutlich nicht durchgehalten.
Anstelle einer Antwort, umarmt sie mich und hält die Verbindung deutlich länger, als sie es normalerweise machen würde. »Ich lasse dir jetzt deinen Freiraum. Wenn du mich doch brauchst, meldest du dich, ja?«
»Versprochen«, erwidere ich und hebe meine Hand, als würde ich einen Schwur leisten. »Danke. Bis dann.«
Mit diesen Worten drehe ich mich ab, um endlich zum Wohnkomplex laufen zu können.
****
Nachdem meine fünfte Nacht ebenfalls traumlos verlaufen ist, quäle ich mich erneut durch den Tag. Mittlerweile hat sich meine Verzweiflung jedoch in Wut verwandelt. Ich bin wütend auf mich selbst, meine Gedanken, die nur um ihn kreisen und mein Herz, was gebrochen ist.
Ich habe die morgendliche Vorlesung geschwänzt, um mich mental auf die Schicht im Krankenhaus einzustellen. Als ich jedoch den seitlichen Mitarbeitereingang erreiche, bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, den Tag zu überstehen.
Trotzdem versuche ich, meine Schultern zu straffen und als ich im Erdgeschoss den Fahrstuhlknopf betätige, kommt eine gehetzte Madelaine angelaufen. »Hey«, begrüßt sie mich freundlich. »Bist du gleich auch bei dem Gespräch mit Dr. Davis dabei?«, will sie wissen und mustert mich aufgeregt.
»Welches Gespräch?«, frage ich irritiert, während ein leises Ping das Eintreffen des Fahrstuhls ankündigt.
Soweit ich weiß, handelt es sich bei dem erwähnten Arzt um einen der anerkanntesten Neurochirurgen in ganz Maryland, angestellt als Chefarzt der Neurochirurgischen Abteilung unseres Krankenhauses. Bisher habe ich jedoch keinen persönlichen Kontakt zu ihm gehabt, da ich auf einer anderen Station eingesetzt bin. Trotzdem entscheide ich mich, nicht weiter nachzuhaken, denn ich habe aktuell wirklich keine Kapazitäten für Klatsch und Tratsch über irgendwelche Ärzte übrig.
»Du warst ein paar Tage nicht im Dienst, oder?«, sagt sie, ohne auf meine vorherige Frage einzugehen und wir treten gemeinsam in das Innere der Kabine.
Ich nicke und sie fährt fort: »Wir haben seit zwei Tagen einen neuen Patienten auf der Station. Ein junger Typ, der am Samstag einen Unfall am Ocean Beach hatte.«
»Aha«, mache ich wenig interessiert und drücke den Kopf mit der abgeblätterten Drei, damit wir endlich nach oben befördert werden.
»Er liegt im Koma. Erst wurde er in einem anderen Krankenhaus behandelt, aber sobald er transportfähig war, ist er mit dem Helikopter zu uns geflogen worden«, redet sie trotzdem unbeirrt weiter.
»Scheint ja echt übel um ihn zu stehen«, antworte ich nun doch betroffen, während wir gemeinsam den Aufzug verlassen und auf direktem Wege das Schwesternzimmer aufsuchen.
Als wir Eintreten, blicken uns fünf Ärzte und sieben Pfleger entgegen – von denen ich auf Anhieb lediglich vier Personen erkenne. So viel Personal habe ich ehrlich gesagt noch nie auf einem Fleck gesehen, weshalb ich einen Moment verunsichert auf der Stelle verweile. Madelaine hingegen huscht zu ihrem Spind, um ihre weiße Arbeitskleidung hervorzuholen und anschließend in Windeseile in der Umkleidekabine zu verschwinden.
Noch bevor ich dazu komme, meine Arbeitskleidung ebenfalls aus meinem Spind zu nehmen, ist Madelaine schon wieder draußen und stellt sich zu den anderen Ärzten, um sich an der Diskussion zu beteiligen.
Offenbar reden sie über unseren neuen Patienten, denn es dringen Gesprächsfetzen über Epiduralblutung und Trepanation zu mir vor, als ich mich ebenfalls umziehe. Ich bin zwar Psychologiestudentin und habe nicht vor, anschließend noch Medizin zu studieren, trotzdem weiß ich, dass sie von einer Hirnblutung und der Aufbohrung des Schädels sprechen.
Eilig streife ich den blauen Stoff über meine Schultern und schlüpfe anschließend in die dazugehörige Hose, bevor ich erneut die Schultern straffe und mich zu der Versammlung geselle, um mehr über unseren neuen Patienten zu erfahren.
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