✰ Kapitel 31
Seit unserer Aussprache habe ich Ethan jeden Tag im Krankenhaus besucht. Wir lassen es langsam angehen, was absolut in Ordnung für mich ist. Natürlich ist es schwer, meine Gefühle im Zaum zu halten, wenn ich bei ihm bin. Immerhin ist es für mich noch immer so, als würde mir die Person, mit der ich seit einem Jahr in einer traumhaften Beziehung stecke, gegenüberstehen. Trotzdem bin ich dankbar, in seiner Nähe sein zu können.
Mittlerweile habe ich durch ihn einiges über sein Leben erfahren. Er studiert Biochemie an der Georgetown University in Washington, was etwa eine Stunde Fahrtzeit von mir entfernt ist. Da er vor Ort in einem Studentenwohnheim lebt, besucht er an den Wochenenden meist seine Eltern und Freunde, insbesondere seinen besten Freund Dave, in seiner Heimatstadt Ocean City – dort, wo er an jenem Samstag den Unfall am Oceans Beach hatte. Dave war ihn bisher nicht im Krankenhaus besuchen, weil Ethan ihn gebeten hat, es nicht zu tun. Offensichtlich möchte er seinem Freund erst gegenübertreten, wenn die Genesung weiter fortgeschritten ist. Allerdings telefonieren die beiden regelmäßig und an der Art, wie er über ihn spricht, kann ich erkennen, wie tief die Freundschaft der beiden ist. Durch Ethans Erzählungen fühlt es sich ein bisschen so an, als würde ich Dave bereits persönlich kennen und ein kleiner Teil in mir hofft darauf, ihn vielleicht eines Tages tatsächlich kennenlernen zu können.
Ethan surft bereits seit seiner Kindheit, ist Einzelkind und das Wichtigste: Ethan hat in der realen Welt keine Freundin.
Außerdem kenne ich inzwischen wohl jedes Lied von TheWeeknd, denn mein Traummann scheint eine kleine Obsession für seine Musik zu haben. Warum ich es seinerzeit vor seinen Eltern geahnt habe? Keine Ahnung! Ein weiteres Mysterium, auf was wir keine Antwort finden können.
Mittlerweile hat er mir auch detaillierter von seinen Träumen erzählt. Menschen, die im Koma lagen, berichten im Anschluss häufig über schlimme Albträume. So war es auch bei ihm. Eine einnehmende Dunkelheit, die ihn umgab und er ist nicht in der Lage gewesen, sich zu befreien. Ethan wollte schreien, irgendwie dagegen ankämpfen, aber es war zwecklos – bis ich in seinen Träumen aufgetaucht bin und ihn buchstäblich aus der Dunkelheit gezogen habe. Direkt nach dem Aufwachen hatte er keinerlei Erinnerung an die Träume aus dem Koma, diese kehrten erst im Laufe der folgenden Tage zurück. Auch, dass er seine ersten Worte nach dem Aufwachen in meinem Beisein gesprochen hat, war kein Zufall. Meine Präsenz hat ihm Sicherheit gegeben und auf irgendeine Weise bin ich zu ihm durchgedrungen.
Im Grunde war es genau das, was Cassie bereits vor einiger Zeit vermutet hat: Ich habe ihm dabei geholfen, seine Stimme wieder zu finden.
Mittlerweile sind drei Wochen vergangen und Ethan steht kurz vor der Entlassung aus dem Johns Hopkins Hospital. Dr. Davis und das Ärzteteam sind rundum zufrieden mit seinem Genesungsprozess, aber natürlich wird er auch nach seiner Entlassung bis auf Weiteres medizinisch überwacht werden müssen.
Durch meine Besuche ist inzwischen eine Freundschaft zwischen uns entstanden. Das war auch nicht wirklich schwer, weil ohnehin eine nicht mit Worten beschreibbare Verbindung zwischen uns herrscht. Trotzdem habe ich jeden Tag darauf gehofft, er würde ebenfalls tiefere Gefühle für mich entwickeln – was bisher jedoch nicht der Fall ist. Zwar hat er dies mir gegenüber nie geäußert, allerdings bin ich mir dessen trotzdem ziemlich sicher. Anderenfalls hätte er es mir wohl irgendwie zu verstehen gegeben.
Am Entlassungstag stehe ich also mit gemischten Gefühlen vor der Klinik. Obwohl die Sonne hoch am Horizont steht, fröstelt es mich und ich ziehe meinen Mantel ein wenig enger um die Taille. Natürlich freue ich mich darüber, dass er endlich nach Hause kann, trotzdem bin ich ein bisschen wehmütig, weil ich nicht weiß, was es für uns bedeuten wird.
Als er schließlich durch die Glastür des Haupteinganges nach draußen tritt, versuche ich die Schmetterlinge in meinem Bauch zu ignorieren und gehe stattdessen mit festen Schritten auf ihn zu. Er trägt eine graue Jogginghose, darüber ein schwarzes Shirt, was selbst auf die Entfernung seinen definierten Oberkörper perfekt in Szene zu setzen scheint. Sein Kopf ist mit einer dunklen Mütze bedeckt, welche die Narbe darunter vollkommen verbirgt.
Seine Eltern, die nur ein paar Sekunden nach ihm durch die Tür kommen, tragen seine Tasche und winken mir kurz zu, bevor sie sich schon mal in Richtung des Besucherparkplatzes bewegen. Sie wissen, dass wir uns regelmäßig sehen, allerdings haben sie keine Ahnung über die genauen Hintergründe. Niemand hat das, mit Ausnahme von Cassie und Madelaine.
»Hey«, begrüßt er mich sanft und zieht mich ganz selbstverständlich in seine Arme. Automatisch schließe ich meine Augen, während ich mir wünsche, die Zeit würde für einen kurzen Augenblick stehenbleiben.
»Bereit für die Heimreise?«, murmle ich gegen seine Schulter und er löst sich von mir, um mich ansehen zu können.
»Ich schätze schon«, gibt er mit einem schiefen Lächeln zu, seine Augen liebevoll auf mich gerichtet. »Dave hat eine Überraschungsparty geplant, wenn ich die Zeichen richtig deute.«
»Sollte eine Überraschungsparty nicht eigentlich bis zu ihrem Start geheim bleiben?«, will ich irritiert wissen, woraufhin Ethan zu lachen beginnt.
»Oh, du kennst Dave nicht«, schmunzelt er, »er ist ungefähr so verschwiegen wie die New York Times.«
»Verstehe«, antworte ich nun ebenfalls grinsend und es freut mich, dass er so fürsorglich von seinem besten Freund in Empfang genommen wird.
»Du würdest ihn mögen.« Ethan schmunzelt, als er den Satz ausspricht, aber er meint es genauso, wie er es gesagt hat. Das kann ich deutlich spüren.
»Davon gehe ich aus. Weiß du schon, wie lange du bei deinen Eltern bleibst, bis du zurück nach Georgetown gehst?«
»Vermutlich werde ich zwei Wochen in Ocean City bleiben und wenn bei der nächsten Kontrolle weiterhin alles gut aussieht, gehe ich zurück an die Uni. Ich hoffe nur, dass ich keine Probleme damit bekomme, den ganzen Stoff aufzuholen.«
Er wirkt so glücklich, voller Pläne für die Zukunft und obwohl ich es nicht will, wird mein Herz schwer. Verloren blicke ich auf den Asphalt zu unseren Füßen. Ethan bleibt mein Gemütswechsel nicht verborgen, denn er beugt sich sofort nach vorne. Mit Zeigefinger und Daumen umschließt er mein Kinn, um meinen Blick zu heben.
»Ist alles okay?«, will er wissen und ich nicke halbherzig. »Du weißt, dass wir uns wiedersehen, oder?«
Natürlich haben wir darüber gesprochen, Kontakt zu halten. Trotzdem ist es schwer für mich, denn ich kann meine Liebe zu ihm nicht einfach so abschalten.
»Ich weiß«, antworte ich trotzdem auf seine vorherige Frage und ringe mir ein Lächeln ab. Es wäre unfair, ihm ein schlechtes Gefühl zu geben, denn keiner von uns hat sich diese Situation ausgesucht.
Ein kurzes Hupen unterbricht den Moment und als wir in Richtung des Geräusches blicken, sehen wir einen schwarzen SUV am Straßenrand stehen. Der Motor läuft und Ethans Mutter gibt uns vom Beifahrersitz ein Handzeichen.
Daraufhin bewegen wir uns gemeinsam in Richtung des Wagens. Mit jedem Schritt realisiere ich mehr, dass ich ihn nun nicht mehr täglich sehen kann und muss bereits heftig gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Ich will nicht weinen, denn Ethan hat es verdient, glücklich in die Zukunft blicken zu dürfen. Wie immer sie auch aussehen mag.
Als wir das Auto erreicht haben, zieht mich Ethan in eine letzte, intensive Umarmung. »Danke für alles, Allie«, flüstert er und haucht mir einen flüchtigen Kuss auf meinen Haaransatz. »Ohne dich wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier.«
»Vielleicht besuchst du mich ja nochmal in meinen Träumen«, versuche ich meine Zerbrechlichkeit hinter einem lockeren Spruch zu verbergen.
»Ich hätte nichts dagegen«, flüstert er so leise, dass seine Worte nur schwer zu mir durchdringen. Dann löst er sich endgültig von mir und tritt an das Fahrzeug heran, um die Autotür zu öffnen.
Noch ein letzter Blick, dann verschwindet er auf der Rückbank des Wagens und ich schließe wehmütig die Tür hinter ihm. Ein leises Surren verrät, dass das Fenster der Beifahrerseite runtergelassen wird und im nächsten Moment beugt sich Ehtans Mom auch schon ein Stück aus der Öffnung.
»Danke, dass du dich so gut um unseren Sohn gekümmert hast«, richtet sie sich voller Wärme an mich. »Du bist bei uns jederzeit willkommen und wir würden uns sehr freuen, wenn du mal zu Besuch kommst.«
»Mal sehen, was die Zukunft bringt«, antworte ich ausweichend, aber mit einem Lächeln. Auch, wenn mir im Moment überhaupt nicht nach Lachen zumute ist.
Dann beobachte ich, wie sie und ihr Mann mir ein letztes Mal zuwinken, ehe Ethans Dad den Wagen schließlich zurück auf die Straße lenkt. Ethan blickt mir ebenfalls durch die Scheibe entgegen, aber sie entfernen sich zu schnell, um die Emotionen in seinem Gesicht deuten zu können.
Wie festgefroren stehe ich auf der Stelle und sehe den Rücklichtern des Fahrzeuges nach, bevor sie endgültig im Stadtverkehr von Baltimore verschwunden sind.
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