✰ Kapitel 30
Mein gesamter Körper bebt, vollkommen unfähig das nervöse Zittern zu unterdrücken. Gleichzeitig schwitze ich, obwohl mir eigentlich kalt ist und außerdem bin ich vollkommen sicher, dass sich mein Puls gerade weit außerhalb der Norm befindet. Meine Hormone scheinen verrückt zu spielen, ein bisschen so, als hätte sich mein Körper auf direktem Wege zurück in die Pubertät befördert. Noch nie in meinem Leben habe ich mich derart verletzlich, aber gleichzeitig auch so unendlich erleichtert gefühlt. Ethan sieht mich an, sein Blick ist intensiv und absolut konzentriert. Er versucht ganz offensichtlich, meine Schilderungen irgendwie zu verarbeiten, weshalb ich mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion seinerseits warte.
»Wow ... das ist ...«, beginnt er schließlich, aber er scheitert daran, die richtigen Worte zu finden. Ich verstehe das, denn auch für mich klingt all das noch immer unglaublich. Obwohl um uns herum zahlreiche Patienten und Besucher in der Grünanlage verweilen, scheint sich die Erde in diesem Moment nur für uns zu drehen. Genaugenommen fühlt es sich irgendwie so an, als wären wir die einzigen Menschen auf diesem Planeten.
»Verrückt, abgedreht, durchgeknallt, absurd«, zähle ich irgendwann auf, um seinen Satz für ihn zu beenden und nebenbei meine Lungen mit Sauerstoff zu versorgen. Dabei wische ich unauffällig eine Träne aus meinem Augenwinkel. »Such dir was aus.«
»Es ist definitiv abgedreht«, gibt er mir sofort recht, noch immer sichtbar um Fassung bemüht, «aber gleichzeitig auch überwältigend. Wer kann schon behaupten, sich im Traum kennengelernt zu haben?«
Ich lache halbherzig auf, bevor ich erneut gedanklich abschweife. Natürlich findet er das aufregend. Er hatte Träume von mir, trotzdem ist er bei weitem nicht so emotional involviert, wie ich es bin. Sieht er das Ganze vielleicht nur als Spiel? Ich hoffe nicht.
»Darf ich dich etwas fragen?« Seine Stirn ist in zahlreiche Falten gelegt, die Augen huschen unruhig über mein Gesicht. Was auch immer es ist, er scheint sich nicht ganz wohl dabei zu fühlen.
»Natürlich.«
»Ist es für dich jetzt immer noch so, wie in deinen Träumen?« Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn geradeso verstehen kann. »Was empfindest du jetzt?«
»Hör zu«, weiche ich aus, »ich weiß, dass unsere Visionen voneinander nicht vergleichbar sind und das Letzte, was ich will, ist, dich zu überfordern.«
»Du überforderst mich nicht«, behauptet er und tritt zum Beweis noch einen Schritt näher an mich heran. Die plötzliche Nähe zu ihm lässt meine Knie weich werden. »Ich muss es einfach wissen.«
»Meine Gefühle haben sich nicht geändert«, gebe ich mit gesenktem Blick zu, bevor ich mit fester Stimme ergänze: »Du brauchst aber nicht zu befürchten, dass ich irgendetwas von dir erwarte. Ich bin nur hergekommen, weil du ein Recht auf die Wahrheit hast.«
»Etwas vor dir befürchten?«, wiederholt er ungläubig meine Worte. »Ich bin gerade knapp dem Tod entkommen, da fürchte ich mich doch nicht vor dir.« Er verzieht seinen Mund wieder zu diesem unwiderstehlichen Lächeln, woraufhin sich sofort die Schmetterlinge in meinem Bauch zurückmelden.
Gott, warum muss er diese Wirkung auf mich haben?
»Danke«, sagt er plötzlich und ich hebe überrascht meine Augenbrauen.
»Wofür?«
»Dass du im Koma für mich da warst. Ohne dich würde ich wahrscheinlich immer noch da oben liegen«, er deutet mit dem Zeigefinger auf die dritte Etage des Klinikgebäudes. Kurz folge ich seiner Geste mit meinem Blick, dann sehe ich wieder zu ihm.
»Es lag nicht in meiner Macht, aber selbst wenn ich könnte, würde ich nichts daran ändern«, hauche ich. Auch, wenn ich mich hoffnungslos in diesen Mann verliebt habe und vor Liebeskummer vergehe. Letzteres behalte ich lieber für mich, stattdessen versuche ich, mich schweren Herzens von ihm zu verabschieden. »Na gut ... Ich sollte dann–«
»Darf ich dich umarmen?«, unterbricht er mich und mein Herz hüpft, während ich überglücklich nicke. Unfähig, ihm verbal auf seine Frage zu antworten, aber allein die Aussicht darauf, ihm körperlich nah sein zu können, elektrisiert mich. Selbst wenn es nur für ein paar Sekunden ist.
Daraufhin überbrückt er die letzten Zentimeter zwischen uns und legt zaghaft seine Arme um mich. Instinktiv presse ich meinen Kopf gegen seine Brust, schließe die Augen und lausche dem heftigen Klopfen seines Herzens. Seine Körperwärme nimmt mich vollkommen ein, während ich seinen angenehmen Körpergeruch in mich aufsauge. Sofort kommen all meine unterdrückten Gefühle wieder hoch. Ich fühle mich buchstäblich in meine Träume zurückversetzt und versuche jede Sekunde in vollen Zügen zu genießen.
Es gibt nur ihn und mich.
Keine Ahnung, wie lange wir in dieser Position unter dem Ahorn verweilen, aber irgendwann kommt der Zeitpunkt und wir lösen uns voneinander. Obwohl er anschließend einen Schritt zurückgetreten ist, kann ich die Wärme seiner Berührung noch ganz deutlich spüren.
»Okay«, seufze ich, den Blick noch immer sehnsüchtig auf seine hellbraunen Augen gerichtet. »Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg.«
Ich will nicht fort von ihm. Natürlich nicht. Trotzdem bin ich mir bewusst, nicht ewig seine Zeit beanspruchen zu können. Ganz davon abgesehen, dass er sicherlich auch langsam mal wieder zurück auf seine Station sollte. Außerdem möchte ich keinen Ärger mit Maddie riskieren, denn auch wenn er sich wieder frei bewegen kann, ist es wichtig, ihn nicht zu überlasten.
»Allie?« Meinen Namen aus seinem Mund zu hören, bereitet mir auf der Stelle eine Gänsehaut, die sich über meinen gesamten Körper erstreckt.
»Ja?«, bringe ich hervor und beobachte ungläubig, wie er vorsichtig nach meiner Hand greift. Die Wärme seiner Finger strömt durch meinen Körper, während ich sofort unauffällig nach Luft schnappe.
»Meine Träume mögen vielleicht nicht so intensiv gewesen sein, wie deine«, beginnt er sanft und die Wärme in seinen Augen raubt mir erneut den Atem, »... und ich will mir gar nicht vorstellen, was du wegen mir durchmachen musstest. Trotzdem hoffe ich, dass wir uns vielleicht in dieser Welt besser kennenlernen können – abseits von Träumen, Koma und anderen unerklärlichen Dingen.« Er pausiert erneut und atmet einmal tief ein, bevor er fortfährt: »Wenn du das nicht willst, weil du endlich mit deinem Leben weitermachen möchtest–«
Diesmal bin ich es, die ihn unterbricht, während mein Herz mir vor Aufregung fast aus dem Brustkorb springt.
Ethan will mich kennenlernen.
»Und ob ich das will!«, bringe ich glücklich hervor und zum ersten Mal seit langem habe ich das Gefühl, endlich einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen.
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