✰ Kapitel 25
Vollkommen durch den Wind laufe ich durch den Stadtverkehr von Baltimore, nachdem ich meine Schicht im Krankenhaus unter dem Vorwand eines Migräneanfalls abgebrochen habe. Glücklicherweise ist Anthony ziemlich verständnisvoll gewesen und hat mich ohne zu zögern mit entsprechenden Genesungswünschen nach Hause geschickt.
Die Tatsache, dass es in Strömen regnet, stört mich gerade überhaupt nicht. Im Gegenteil: so vermischen sich meine Tränen zumindest unauffällig mit dem Niederschlag, was meinen Gefühlsausbruch immerhin vor den anderen Passanten verbirgt. Auf ungebetene Aufmerksamkeit habe ich nämlich überhaupt keine Lust.
Wobei mir das eigentlich auch egal ist. Ich fühle nichts als Leere, denn alle Hoffnung, die ich in unsere Begegnung gesetzt habe, hat sich zu einem Häufchen Nichts verwandelt. Es fühlt sich ein wenig so an, als sei die Liebe meines Lebens urplötzlich verschwunden und ich bleibe gebrochen zurück.
Warum ist er mir bloß in meinen Träumen erschienen und hat mein Leben in ein komplettes Chaos gestürzt?
Damit ich ihn während seiner Zeit im Krankenhaus unterstütze? Mich ihm verbunden fühle?
Es ergibt für mich keinen Sinn, aber vielleicht ist meine Aufgabe auch mit seinem fortschreitenden Heilungsprozess abgeschlossen. Er wird wieder gesund, das ist ohne Frage die Hauptsache. Trotzdem verstehe ich nicht, warum mich das Universum so quälen muss.
»Vorsicht!«, ruft plötzlich eine weibliche Stimme hinter mir und reißt mich vollkommen unvermittelt zurück. Gleich im Anschluss rauscht ein hupendes Fahrzeug vor uns entlang und ich realisiere, dass ich um ein Haar vor ein Auto gelaufen wäre.
»Oh«, mache ich wenig geistreich und ohne das gesamte Ausmaß der Situation zu erfassen, »danke.«
»Ist alles in Ordnung?«, vergewissert sich die Frau besorgt und ich nicke halbherzig.
»Ich war nur in Gedanken«, erkläre ich wahrheitsgemäß und beobachte, wie sie ihren roten Regenschirm ein wenig anhebt, um mich ansehen zu können. Erst dann realisiere ich, wer mein Gegenüber ist.
Oh, fuck! Das darf doch nicht wahr sein ...
»Ach, hallo!«, ergreift sie die Initiative, als sie mich ebenfalls wiedererkennt. »Du bist Allie aus dem Krankenhaus, richtig?«
Warum zur Hölle muss ich jetzt auch noch Ethans Mom über den Weg laufen?
»Darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Du bist ja völlig durchnässt«, bietet sie lächelnd an und es bildet sich das gleiche Grübchen in ihrer Wange, welches ich bereits von Ethan kenne. Ein wenig zu lang starre ich sie entgeistert an, bevor ich es endlich schaffe, den Blick abzuwenden.
»Das ist sehr nett, aber ich muss dringend nach Hause«, bringe ich schließlich erstickt hervor, während die Intensität des Regens weiter zunimmt und ich lediglich darauf hoffe, dass sie mein seltsames Verhalten auf die Tatsache zurückführt, mich beinahe unter einem Auto wiedergefunden zu haben.
»Verstehe«, antwortet sie. »Ich wollte mich auch noch dafür bedanken, dass du dich so rührend um unseren Sohn kümmerst«, schiebt sie nach und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.
»Nichts zu danken, das ist schließlich mein Job«, erwidere ich mit einem aufgesetzten Lächeln. »Man sieht sich«, schiebe ich noch nach, bevor die nächste Grünphase erscheint und ich davonrausche, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, noch etwas zu erwidern.
****
Regungslos starre ich an die Decke meines Apartments, nachdem ich meinen unterkühlten Körper einer warmen Dusche unterzogen und mich anschließend in mein Bett gelegt habe. Normalerweise würde ich jetzt Cassie anrufen, aber ich bin nicht in der Verfassung mein Gefühlsleben in Worte zu fassen. Außerdem hat sie ein weiteres Date mit Madelaine, was ich auf keinen Fall sprengen möchte.
»Ich will doch einfach nur mein Leben zurück«, flüstere ich leise zu mir selbst und greife nach einem der zahlreichen Zierkissen, um es mir kurzerhand auf mein Gesicht zu drücken. Hemmungslos schreie ich in den Stoff, so lange, bis mein Hals unangenehm zu kratzen beginnt. Dann schmeiße ich es achtlos neben mich und schließe resigniert die Augen.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich förmlich, aber die Hauptfrage lautet Warum?
Wieso quält mich das Universum? Was habe ich getan, um das hier zu verdienen?
Automatisch gehe ich die Sünden durch, die mir spontan einfallen. Aber das Schlimmste, was mir in den Kopf kommt, sind kleine Notlügen, die wahrscheinlich so gut wie jeder Mensch ab und an verwendet. Darüber hinaus kann ich mich wirklich nicht an schwerwiegende Fehltritte erinnern.
Ich fühle mich hilflos.
»Du musst Ethan loslassen. Es scheint der einzige Weg zu sein«, mahne ich mich irgendwann selbst und plötzlich wird mir klar, was ich zu tun habe.
Noch immer verwirrt, dafür aber zumindest mit einer Entscheidung, greife ich mein Telefon und wähle kurzerhand die Nummer des Krankenhauses. Eine der Schwestern meldet sich, woraufhin ich sie darum bitte, mich an Anthony weiterzuleiten.
»Ja?«, ertönt die tiefe Stimme des Stationsleiters am anderen Ende der Leitung und ich schlucke schwer gegen den Kloß in meinem Hals. Das, was ich nun sagen werde, wird sich nicht mehr zurücknehmen lassen. Trotzdem sehe ich keinen anderen Ausweg.
»Hier spricht Allie«, erkläre ich und mein Mund fühlt sich auf einmal furchtbar trocken an.
»Geht es dir schon besser?«, erkundigt er sich einfühlsam, »oder was ist los?«
»Ich wollte dir persönlich sagen, dass ich nicht mehr kommen werde«, presse ich hervor und höre wie mein Vorgesetzter überrumpelt nach Luft schnappt.
»Ist etwas vorgefallen?«, will er sofort wissen, »kann ich dir irgendwie helfen, Allie? Ich habe eigentlich das Gefühl, dass du dich bei uns wohlgefühlt hast ...«
»Das habe ich auch«, stimme ich ihm zu, »... und nein, du kannst mir leider nicht helfen. Mir geht es im Moment einfach nicht gut. Es tut mir leid.«
»Dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig, als deine Entscheidung zu akzeptieren«, antwortet er irgendwann traurig und mein schlechtes Gewissen bringt mich fast um. »Wenn du es dir doch nochmal überlegen solltest, weißt du ja, wo du uns findest.«
Nachdem wir das Telefonat beendet haben, lasse ich das Handy langsam neben mich auf die Matratze sinken. Habe ich das gerade wirklich getan? Den Job, der mir doch eigentlich so viel Spaß bereitet hat, gekündigt und das, obwohl ich nicht mal mein Studium beendet habe?
Die Antwort darauf lautet: Ja!
Allerdings warte ich vergeblich darauf, von Erleichterung geflutet zu werden. Im Gegenteil, leise Zweifel an dieser Impulshandlung nagen bereits an meinem Gewissen.
»Jetzt beginnt ein neues Kapitel«, versuche ich mich daher selbst davon zu überzeugen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Aber habe ich das wirklich?
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