✰ Kapitel 21
»Er hat einen schlimmen Unfall gehabt und muss sich wahrscheinlich erstmal sortieren, Allie«, redet Cassie durch den Lautsprecher meines Handys aufmunternd auf mich ein. »Selbst, wenn er dich nicht erkannt hat, gibt es einen Grund dafür, dass du ihn kennst.«
Die Stimme meiner besten Freundin wirkt beruhigend auf mich ein, nachdem ich es irgendwie geschafft habe, den Nachtdienst zu überstehen und mich nun auf dem Heimweg befinde. Nach meinem ersten Versuch hatte ich mich tatsächlich noch ein zweites Mal in sein Zimmer getraut. Allerdings schlief er zu diesem Zeitpunkt und ich durfte Madelaine lediglich dabei zusehen, wie sie eine neue Infusionslösung angebracht hat.
»Hm«, seufze ich und warte ungeduldig darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün springt.
»Ich habe da eine Theorie«, verkündigt Cassie plötzlich vielsagend, »willst du sie hören?«
»Habe ich denn eine Wahl?«, stöhne ich gequält auf, während ich endlich dazukomme die Straße zu überqueren. Es ist fast halb sieben und der Berufsverkehr in Baltimore ist wirklich nicht zu unterschätzen.
»Nope«, lacht sie kurz auf, bevor sie sich einmal räuspert. »Ich denke, Ethan hatte in deinen Träumen keine Stimme, weil du ihm dabei helfen musst, sie nach seinem Unfall wiederzufinden. Du darfst ihn also auf keinen Fall aufgeben, hörst du?«
»Ich könnte ihn niemals aufgeben, selbst wenn ich wollte«, empöre ich mich und allein die Vorstellung, ihn im Stich zu lassen, lässt mein Herz unangenehm verkrampfen. Natürlich habe ich darauf gehofft, dass er mich erkennt und mir das irgendwie zu verstehen gibt. Allerdings ist mir mittlerweile ebenso bewusst, dass dies hier kein verdammtes Märchen ist, sondern meine bittere Realität. »Mehr als ihm während meiner Schichten kurze Besuche abzustatten ist nicht drin«, erinnere ich sie trotzdem. Dabei versuche ich den Gedanken beiseite zu schieben, dass er irgendwann entlassen wird und ich ihn dann vielleicht nie wiedersehen werde.
»Du bist so unromantisch«, schimpft Cassie und ich kann förmlich hören, wie sie die Augen verdreht. »Also ... wir freuen uns jetzt erstmal darüber, dass er auf dem Weg der Besserung ist und du die Möglichkeit hast, ihn weiterhin zu sehen. Der Fokus liegt ganz klar auf den positiven Dingen, okay?«
»In Ordnung«, stimme ich zu und biege endlich auf den Campus ein. Positive Vibes sind wirklich etwas, was in meinem Leben in der letzten Zeit viel zu kurz gekommen ist.
»Was hältst du von einem Sushi-Abend heute? Wir können Madelaine fragen, ob sie Zeit hat?«
Warum eigentlich nicht?
»Geht klar«, stimme ich also spontan zu. »Ich schreibe ihr gleich eine Nachricht und frage sie.«
****
Obwohl mir der vergangene Nachtdienst noch in den Knochen liegt, versuche ich mich auf einen schönen Abend mit Cassie und Madelaine zu freuen. Glücklicherweise hatte unser liebstes Sushi Restaurant noch einen Tisch für drei Personen frei, weshalb wir nun zu dritt vor der Universität stehen und auf das Uber warten, welches uns die etwa zweiunddreißig Meilen zu der angestrebten Location bringen soll.
»Schön, dass es so spontan geklappt hat«, wende ich mich an Madelaine und bewundere kurz ihr Outfit. Da ich sie sonst nur im weißen Ärztekittel kenne, stellt das schwarze Kleid nun tatsächlich einen interessanten Kontrast dar. Im Krankenhaus hat sie ihre roten Haare immer zu einem strengen Dutt gebunden, aber gerade trägt sie sie offen und wirkt dadurch um einiges jünger.
»Ich freue mich auch«, erwidert die Ärztin mit einem ehrlichen Lächeln. »Nach meinem Umzug hierher, habe ich noch keine neuen Freundschaften schließen können.«
Insgeheim dachte ich mir bereits, dass sie aufgrund eines Umzugs bei uns auf der Station angefangen hat, aber bisher sind wir noch nicht dazu gekommen, ihre Hintergründe zu erörtern. Wie auch, bei dem ganzen Drama, was momentan in meinem Leben tobt ... Ethan. Was er wohl gerade macht?
»Hey! Ich kenne das Gesicht«, mischt sich Cassie auf einmal ein und streckt warnend einen Zeigefinger in die Luft, »wir haben heute Spaß und denken ausnahmeweise nicht über deinen Traummann nach, schon vergessen? Ihm geht es den Umständen entsprechend gut und du brauchst dringend eine Pause von dem ganzen Wahnsinn.«
Ich blicke zögerlich von Cassie zu Madelaine, dann nicke ich kaum merklich.
»Das ist unser Pakt für den heutigen Abend und du hast zugestimmt«, erinnert mich Cassie und ich hebe ergeben meine Hände. Sie hat ja recht - wie fast immer.
Genau in diesem Moment biegt unser Uber um die Ecke und wir quetschen uns zu dritt auf die Rückbank. Die Fahrt über hören wir uns lustige Anekdoten des Fahrers an und ich genieße es, einfach mal wieder Allie zu sein.
Als wir endlich an unserem Tisch in der Minato Sushi Bar sitzen, kann ich es kaum erwarten, endlich etwas zu essen. Einen Moment studieren wir die Speisekarte, dann gebe ich dem Kellner ein Handzeichen.
»Wir bekommen zweimal die vegetarische Platte mit Gurke und Avocado und einmal die Arizona-Platte, bitte«, ordere ich und der Kellner tippt die Bestellung routiniert in ein digitales Gerät ein.
»Was darf es zu Trinken sein?«, möchte er anschließend wissen und ich blicke ratlos zu meinen Begleiterinnen.
»Ich nehme ein Glas Weißwein«, entscheidet Madelaine, woraufhin Cassie und ich das gleiche bestellen.
Cassie nutzt die Wartezeit und löchert Madelaine mit Fragen. So ist sie nun mal –neugierig ohne Ende. Die Assistenzärztin erzählt, dass sie sich wegen einer Trennung entschieden hat, nach Baltimore zu ziehen und wir erfahren, dass sie vor kurzem sechsundzwanzig Jahre alt geworden ist.
»Wolltest du schon immer Ärztin werden?«, klinke ich mich irgendwann in das Gespräch ein. »Ich finde, der Beruf passt wirklich perfekt zu dir.«
»Eigentlich schon«, gibt sie zu und nippt an ihrem Glas Weißwein, welches der Kellner kurz zuvor auf dem Tisch platziert hat. »Und ihr? Wann habt ihr euch für die Psychologie entschieden?«
»Auch schon recht früh«, überlege ich und Cassie nickt. »Als dann klar war, dass wir beide diese Richtung einschlagen wollen, haben wir alles darangesetzt, gemeinsam studieren zu können.«
»Mit Erfolg, wie man sieht«, lacht Madelaine und wir stoßen darauf an.
Kurz darauf wird das Sushi serviert und ich schaffe es noch immer erstaunlich gut, mich zu amüsieren. Ehrlich gesagt habe ich nicht wirklich damit gerechnet, aber ich genieße dieses kurze Zeitfenster der Unbeschwertheit in vollen Zügen.
»Ihr könnt mich übrigens Maddie nennen«, bietet die Ärztin nach dem Essen an und tupft sich den Mund mit einer Servierte ab. »In meiner Heimat nennt mich kein Schwein Madelaine«, schiebt sie kichernd nach, woraufhin wir ebenfalls zu lachen beginnen.
Zwei Stunden – und ein paar Weißweingläser – später, sitzen wir erneut auf der Rückbank eines Ubers. Obwohl wir diesmal einen nicht sonderlich gesprächigen Fahrer erwischt haben, trübt das die ausgelassene Stimmung unter uns nicht.
»Es war wirklich ein toller Abend«, bedanke ich mich bei den Mädels, als wir schließlich vor dem Universitätsgelände aus dem Fahrzeug steigen. »Das müssen wir unbedingt wiederholen.«
Auch, wenn ich mich gerade in einer schwierigen Lebensphase befinde, wird mir klar, dass ich unendlich dankbar bin, neben Cassie nun scheinbar eine weitere gute Freundin gefunden zu haben.
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