✰ Kapitel 19

»Ich muss zu ihm«, flehe ich vollkommen aufgelöst, aber Cassie schüttelt nur vehement den Kopf.

»Du hast heute keinen Dienst«, wiederholt sie eindringlich, während sie ihre zarten Arme um mich schlingt. »Du willst ihn sehen, das verstehe ich! Aber es würde zu viel Aufsehen erregen.«

Natürlich weiß ich tief in mir, dass sie recht hat. Trotzdem kann ich es nicht akzeptieren.

»Seine Eltern sind bei ihm, er wird heute zahlreiche Untersuchungen durchlaufen und du musst dich bis Freitagabend gedulden«, redet sie erneut auf mich ein. »Was sind schon drei Tage, nachdem du ein Jahr nicht mal wusstest, dass er wirklich existiert?«

Drei verdammte Tage und dann auch noch ein Nachtdienst, wo ich nicht mal weiß, ob ich die Gelegenheit bekomme, ihn wach anzutreffen. »Wie soll ich das bloß aushalten?«, jammere ich und wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke die Tränen aus dem Gesicht.

Niemals in meinem Leben bin ich so glücklich und gleichzeitig furchtbar verzweifelt gewesen. Natürlich überwiegt die Freude darüber, dass er aufgewacht ist, aber die Tatsache, ihn nicht sofort besuchen zu können, lässt mich innerlich zerbrechen.

»Madelaine hat gesagt, sie ruft später nochmal an und berichtet, wie es ihm geht«, erinnert sie mich an die Worte der Assistenzärztin. »Sie wird alles detailliert wiedergeben, davon bin ich überzeugt. «

Schließlich nicke ich zögerlich. »Okay«, bringe ich leise hervor, obwohl ich am liebsten weiter nach Gründen suchen würde, um die Vernunft doch noch irgendwie auszuhebeln. Meine beste Freundin lächelt mich daraufhin zufrieden an und greift nach meiner Hand, um sie liebevoll zu drücken.

»Du schaffst das! Wir schaffen das«, bestimmt sie und haucht mir kurzerhand einen Kuss auf mein verheultes Gesicht.

»Was würde ich bloß ohne dich machen?« Die Frage ist tatsächlich ernst gemeint, denn ohne Cassie könnte ich all das nicht durchstehen.

»Hm«, macht sie und tippt sich theatralisch an ihr Kinn, bevor sie zu kichern beginnt, »ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir ohne einander existieren können.«

Obwohl ich mich in einer emotionalen Ausnahmesituation befinde, bringen mich ihre Worte kurz zum Schmunzeln.

»Da könntest du recht haben«, erwidere ich also und sie nimmt mich erneut in den Arm. Es ist fast greifbar, wie mich ihre Körperwärme erdet.

»Habe ich das nicht immer?«, will sie schließlich mit gespielter Empörung in der Stimme wissen.

»Einigen wir uns auf meistens, ja?«

»Damit kann ich leben, schätze ich«, erklärt sie daraufhin mit einem Augenzwinkern. »Übrigens ist es für mich auch kein Problem den Besuch bei meinen Eltern zu verschieben. Ich könnte-«

»Auf keinen Fall!«, unterbreche ich sie auf der Stelle. »Du wirst deine Eltern nicht wegen mir versetzen. Ein paar Stunden werde ich auch alleine zurechtkommen.«

»Sicher?« Cassie greift nach meiner Hand und scannt dabei eindringlich mein Gesicht. Offenbar befürchtet sie, ich würde vielleicht doch alle Vorsätze über Bord werfen und einfach im Krankenhaus aufkreuzen.

»Ganz sicher«, beruhige ich sie. »Ich verspreche dir, keine Dummheiten anzustellen.«

****

Mittlerweile sind fünf Stunden seit Madelaines erstem Anruf vergangen und ich frage mich, wann sie sich endlich wieder meldet. Hilflos starre ich auf mein Handy und versuche es mit meinem Blick zum Klingeln zu bewegen. Natürlich erfolglos.

Irgendwann schaffe ich es dann doch, mein Telefon neben mir abzulegen und mich aus meinem Bett zu erheben, um mir eine Dose Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Gedankenverloren öffne ich das Getränk und nehme einen Schluck der kühlen Flüssigkeit.

Wenn ich doch nur fühlen könnte, wie es ihm geht.

Als mein Handy plötzlich ein leises Piepen von sich gibt, schrecke ich zusammen. Eilig stelle ich die Dose auf der Arbeitsplatte ab, um auf der Stelle zu meinem Telefon aufzuschließen.

Neue Nachricht von Cassie:

Hey! Schon was
Neues? Tut mir leid,
dass ich dich alleine
gelassen habe.

Die Verabredung
mit deinen Eltern
abzusagen, war
keine Option!
Und nein, keine
Neuigkeiten bisher.

Madelaine wird sich
bestimmt bald melden.
Ich wollte in einer
halben Stunde hier
aufbrechen, dann
komme ich direkt
zu dir, ja?

Alles klar.
Bis gleich xxx

Seufzend lege ich das Handy in meinen Schoss, während meine Gedanken mal wieder zu Ethan abschweifen. In meinem Kopf herrscht absolutes Chaos und kurz verfluche ich es, offenbar nicht mehr rational denken zu können.

Genau in diesem Moment beginnt mein Telefon erneut zu klingeln. Diesmal ist es jedoch tatsächlich ein Anruf. Eine mir nicht bekannte Handynummer probiert mich zu erreichen und ich versuche die Enttäuschung darüber, dass es nicht das Krankenhaus ist, gedanklich wegzuschieben.

»Hallo?«

»Hier ist Madelaine.«

Ihre Worte lassen das Adrenalin durch meinen Körper schießen und ich setze mich auf der Stelle aufrecht hin. Offenbar hat sie mich diesmal direkt von ihrem privaten Handy angerufen.

»Dr. Davis ist noch bei Mr. Marsh, aber soweit ich es mitbekommen habe, sind die ersten Untersuchungen positiv ausgefallen«, beginnt sie leise, während ich jedes ihrer Worte in mich aufsauge. »Ich war vorhin nur einmal kurz bei ihm im Zimmer. Er ist natürlich noch sehr schwach und gesprochen hat er bisher auch noch nicht. Das ist aber nicht weiter ungewöhnlich und sein Zustand wird sich bestimmt innerhalb der nächsten Tage noch deutlich verbessern.«

»Es ... es geht ihm also so weit gut?«, fasse ich ihre Worte zusammen. Wenn ein Mensch aus dem Koma erwacht, ist schließlich nie absehbar, was einen erwartet.

»Ich denke schon, ja«, antwortet die Ärztin und mein Herz macht einen Sprung. »Trotzdem musst du mir versprechen, nicht einfach hier aufzukreuzen, okay?«

»Versprochen.«

»Wir haben am Freitag zusammen Nachtdienst. Vielleicht bekommst du dann die Möglichkeit, zu ihm zu gehen, aber das besprechen wir am besten, wenn es so weit ist.«

»Danke«, bringe ich gerade so hervor, bevor sich meine Augen mit Tränen füllen. Schon wieder.

»Keine Ursache. Wenn das Schicksal euch auf irgendeine verkorkste Weise zueinander geführt hat, will ich sicher nicht diejenige sein, die sich dem in den Weg stellt. Ich mag zwar manchmal etwas schräg sein, aber mit dem Universum lege ich mich dann doch lieber nicht an«, scherzt sie und schafft es damit tatsächlich, mich zum Lächeln zu bringen.

»Wie kann ich das jemals wieder gut machen?«

»Vielleicht mit einer Portion Sushi«, gibt sie lachend zurück, bevor sie dann doch wieder ernst wird, »ich muss jetzt wieder auf die Station, sonst fällt mein Fehlen noch jemandem auf.«

»Du bist die Beste«, sage ich, während ich einfach nur dankbar bin, dass es Ethan gut zu gehen scheint.

»Lass das besser nicht Cassie hören«, kichert sie. »Wenn es Neuigkeiten gibt, melde ich mich! Bis dann, Allie.«

Mit diesen Worten endet unsere Verbindung und ich kann nichts weiter tun, als ungeduldig auf meinen nächsten Nachtdienst zu warten.

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