✰ Kapitel 10
Es herrscht eine spürbare Anspannung auf der Station und trotz Übergabe durch den Frühdienst, fühle ich mich ein wenig deplatziert. Allerdings scheint mir die Hektik auch dabei zu helfen, zumindest vorübergehend meine eigenen Probleme zu vergessen.
»Allie«, wendet sich unser Stationsleiter Anthony an mich und gibt mir ein Handzeichen, ihm an die andere Seite des Schwesternzimmers zu folgen. »In einer halben Stunde muss Mr. Marsh für eine Computertomographie nach unten in die Radiologie gebracht werden und ich möchte, dass Madelaine und du den Transport begleiten.«
Mr. Marsh ist besagter Patient, wie ich während der Übergabe erfahren habe, und abhängig von dem Ergebnis der Untersuchung wird wohl über eine erneute Operation entschieden. Plötzlich kommen mir meine eigenen Probleme furchtbar lächerlich vor.
»Natürlich«, antworte ich und er nickt dankbar.
Anschließend schließe ich eilig zu Madelaine auf, welche schon ungeduldig im Türrahmen auf mich wartet.
»Welcher von den ganzen Menschen war nochmal Dr. Davis?«, frage ich, während wir bereits über den Flur in Richtung Patientenzimmer eilen. Im Schwesternzimmer waren so viele fremde Gesichter, dass ich vollkommen durcheinander bin.
»Dr. Davis ist der Mann mit den graumelierten Haaren und der schwarzen Brille, die wahrscheinlich mehr gekostet hat, als wir in einem Jahr verdienen«, flüstert sie mir beeindruckt zu. »Außerdem ist er der Chefarzt der Neurochirurgie und verantwortlich für Mr. Marsh.«
Unsere Station ist keine reine Intensivstation, allerdings betreuen wir hin und wieder Menschen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Da alle Zimmer auf der Neurochirurgie sowie der Intensivstation aktuell belegt sind, haben wir den Patienten bei uns aufgenommen.
Als wir vor dem Zimmer mit der Nummer 144 angekommen sind, nickt Madelaine mir kurz zu, dann öffnet sie vorsichtig die Tür. Ich warte, bis sie eingetreten ist und folge ihr leise. Während sie sofort an einen der Monitore herantritt, werfe ich einen flüchtigen Blick in das Bett.
Ich finde es immer furchtbar bedrückend, wenn ein Mensch an so viele Maschinen angeschlossen ist. Meist vermeide ich es, mich intensiv mit dem Schicksal hinter den Patienten auseinanderzusetzen. Anderenfalls würde es mich vermutlich zerstören.
Doch obwohl ich wirklich nur einen kurzen Blick riskieren wollte, bin ich plötzlich wie paralysiert. Egal, wie sehr ich es auch versuche: Ich schaffe es einfach nicht, mich von ihm abzuwenden.
Regungslos liegt er in dem grauen Krankenhausbett, bekleidet mit einem dieser klassischen Hemdchen, welche am Rücken offen sind. Sein Kopf ist mit einem weißen Verband umwickelt, was wohl auf die vorangegangene Operation zurückzuführen ist. Die Augen sind geschlossen und das Einzige, was zumindest halbwegs – zwischen Verband und Beatmungsschlauch – zu erkennen ist.
Der durchsichtige Schlauch führt von seinem Mund zu einer Maschine, die auf der einen Seite neben dem Bett platziert wurde und in regelmäßigen Abständen ist das für Beatmungsgeräte typische Piepen zu hören.
Er ist mit einer dünnen weißen Decke bedeckt, seine Arme liegen jedoch frei auf der Matratze, da er intravenös mit verschiedenen Medikamenten versorgt werden muss. Auch auf der anderen Seite steht ein großer Apparat, welcher unter anderem seine Herzaktivität überwacht.
»Ist alles okay mit dir?« Madelaines Ansprache reißt mich aus meinen Gedanken und ich schaffe es endlich, den Blick abzuwenden. Bevor ich etwas sagen kann, hat sie auch schon zu mir aufgeschlossen, um mich besorgt zu mustern. »Wenn es dir zu viel ist, kann ich auch jemand anderen mit in die Radiologie nehmen.«
»Passt schon«, antworte ich um Fassung bemüht. Unter keinen Umständen soll sie denken, ich sei unprofessionell.
»Na gut, aber dann nimm dir ein Tuch aus dem Spender und wisch dir die Tränen aus dem Gesicht«, erwidert sie und deutet in Richtung des kleinen Waschbeckens, neben dem ein Papiertuchspender angebracht ist.
Irritiert fasse ich mir in mein Gesicht und stelle mit Entsetzen fest, dass sie recht hat – meine Wangen sind tränenüberströmt. Peinlich berührt renne ich zum Waschbecken, um mir mit einem der Tücher mein Gesicht zu trocknen. Als ich mich umdrehe, ist die Assistenzärztin jedoch damit beschäftigt, die Vitalwerte des Patienten auf einen Kontrollbogen zu übertragen und sieht davon ab, meinen unfreiwilligen Gefühlsausbruch zu hinterfragen.
In der Zwischenzeit wandert mein Blick zu dem kleinen Identifikationsschild am Fußende des Bettes. Ethan Marsh steht dort in Verbindung mit seinen Geburtsdaten. Wow, er ist tatsächlich nur ein Jahr älter als ich und kämpft bereits um sein Leben.
Als alles vorbereitet ist, manövrieren wir das Bett samt dem Patienten vorsichtig durch die Tür. Zwei weitere Krankenschwestern sind dafür zuständig, die Maschinen mit denen Ethan verbunden ist, neben uns herzuschieben. Ein Transport von Menschen die im Koma liegen, wird eigentlich nur äußerst selten vorgenommen, allerdings ist es in diesem Fall unvermeidbar. Einzig eine Computertomografie kann Aufschluss darüber geben, ob Mr. Marsh erneut operiert werden muss.
Nachdem wir ihn sicher mit dem Patientenfahrstuhl in das Kellergeschoss – wo sich die Radiologie befindet – verbracht haben, atme ich erleichtert auf. Ich habe es eindringlich vermieden, ihn erneut anzusehen und trotzdem bin ich vollkommen durch den Wind.
Während wir vor der schweren Zugangstür darauf warten, dass wir den Patienten wieder entgegennehmen können, bekomme ich auf einmal keine Luft mehr. Mein Herz rast und ich weiß überhaupt nicht, was los ist.
»Atmen!«, höre ich Madelaine rufen. Sie hat eine Hand zwischen meinen Schulterblättern platziert und übt einen unangenehmen Druck auf meinen Rücken aus. »Ganz ruhig ... Einatmen ... Ausatmen ...«
Irgendwie schaffe ich es tatsächlich meine Atmung zu regulieren und die junge Ärztin sieht wirklich erleichtert aus.
»Tut mir leid«, krächze ich leise. Ich schäme mich unglaublich und bin in diesem Moment froh, keine Gedanken lesen zu können.
»Hast du öfter mit Panikattacken zu tun?«, will sie einfühlsam von mir wissen, woraufhin ich sie mit großen Augen ansehe.
»Panikattacken?«, wiederhole ich schließlich entsetzt, »nein, habe ich nicht. Ehrlich gesagt, habe ich gerade ein wenig Stress im privaten Bereich, aber das wird schon wieder.«
Als ich es laut ausspreche komme ich mir irgendwie dumm vor, aber auf die Stelle wollte mir einfach keine bessere Erklärung für mein Verhalten einfallen. Dies liegt vielleicht auch daran, dass ich selbst keine Ahnung habe, was mit mir los ist.
Glücklicherweise realisiert sie sofort, dass ich nicht weiter darüber reden möchte. »Schon gut«, winkt sie ab und deutet stattdessen auf den Zugang der Radiologie. »Man könnte fast meinen, du kennst ihn persönlich, so sehr wie dich sein Fall mitzunehmen scheint.«
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