Jemand fällt aus dem Kamin
Maddys Sicht
Fassungslos starrte ich die Eule an, die soeben in unserem offenen Küchenfenster gelandet war. Ich konnte mich nicht genau daran erinnern, ob ich überhaupt schon jemals eine Eule in freier Wildbahn gesehen hatte - nichts desto trotz war ich mir sehr sicher, dass sie nachtaktive Tiere waren und im Wald lebten. Umso merkwürdiger war es jetzt, dass diese Eule mitten in London um 11 Uhr morgens einfach so durch ein offenes Fenster flog. „Morgen hat euer Vater frei, dann können wir alle zusammen in die Stadt fahren um schon ein paar Dinge für das neue Schuljahr zu kaufen", hörte ich meine Mutter zu meinem Bruder Cal sagen, die beide noch am Frühstückstisch saßen. „Kommst du auch mit, Maddy?", fragte sie. Aber ich war zu abgelenkt um zu antworten. „Maddy?", fragte Mom erneut. Cal schnaubte belustigt. „Sie ist bestimmt wieder in ihrer Gedankenwelt... Ich kann ein Brötchen nach ihr werfen, vielleicht hilft das ja?" Ohne mich umzudrehen, konnte ich mir genau vorstellen, welchen Blick Mom ihm jetzt zuwarf, der ihn zum Verstummen brachte. Ich kannte diesen Blick gut genug und wusste, wie einschüchternd er war.
„Maddy, was ist denn lo-?", fing Mom erneut an, verstummte aber jäh, als sie neben mich trat und die Eule sah, die sich jetzt seelenruhig das Gefieder putzte. Auch Cal war jetzt neugierig geworden und gesellte sich zu uns. Seine Reaktion war ähnlich, wie die meiner Mom und mir, aber er fasste sich als erster wieder. „Sie hat da was... Ist das - ist das ein Brief?", fragte er verwundert und tatsächlich - die Eule hatte einen Briefumschlag aus gelblichem Pergament auf die Küchentheke fallen lassen. Kaum hatte meine Mutter den Brief - sehr vorsichtig um keine Bekanntschaft mit dem spitz aussehenden Schnabel der Eule zu machen - aufgehoben, flatterte die Eule mit den braun gefiederten Flügeln, stieß sich ab und flog wieder aus dem offenen Fenster. Noch immer fassungslos schaute ich ihr hinterher, wie sie sich in die Luft erhob. „Er ist an dich adressiert" sagte Mom zu mir und runzelte die Stirn. Ich nahm ihr den Brief ab. In grüner Tinte war auf den Umschlag geschrieben: ‚Madeleine Brown, Lilienweg 11, London'.
„Mach ihn auf", forderte Cal mich auf. Ich riss den Umschlag auf und holte den Inhalt heraus - zwei Briefe, aus dem gleichen gelben Pergament wie der Umschlag. „Sehr geehrte Miss Brown", fing ich an vorzulesen. „Wir freuen uns ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am 1. September. Wir erwarten ihre Eule spätestens am 31. Juli." Verwirrt schaute ich auf. „Was bedeuet das?" Mom zuckte mit den Schultern. „Da hat dir wohl jemand einen Streich gespielt..."
„Gib mir mal diese Liste, von der die Rede war", bat Cal mich und ich reichte ihm den zweiten Pergamentbogen, der im Umschlag gewesen war. „'Miranda Habicht: Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 1 ... Ferner werden benötigt ein Zauberstab ...' Ein Zauberstab?! Was soll das denn bedeuten?" Kopfschüttelnd gab er mir den Brief zurück. „Da hat sich aber jemand wirklich Mühe gegeben, dich zu verarschen, Maddy."
Genau in diesem Moment hörte ich ein Poltern aus dem Wohnzimmer; zeitgleich mit Mom zuckte ich zusammen, dann stürmte ich noch immer mit dem Brief in der Hand ins Wohnzimmer, gefolgt von meiner Mutter und Cal. Was ich dort sah, ließ mich abrupt stehen bleiben: Auf dem Boden vor unserem Kamin kniete ein komplett fremder Mann, der scheinbar wie aus dem nichts aufgetaucht war. Er richtete sich auf und klopfte sich etwas Schwarzes - war das Ruß?! - von seinen Klamotten. Sein rundes Gesicht war leicht gerötet und auf seinen blonden Haaren saß ein merkwürdig aussehender spitzer Hut. Als er merkte, dass wir ihn mit großen Augen anstarrten, räusperte er sich und lief noch eine Spur röter an.
„Wer sind Sie und was machen sie in unserem Haus?", fragte Mom misstrauisch, aber bevor der Mann antworten konnte, platzte es aus mir heraus: „Sind Sie durch unseren Kamin gekommen?" Cal schnaubte. „Sei nicht dumm, natürlich ist er nicht durch unseren Kamin gekommen."
Der Mann räusperte sich erneut. „Nun, ich, ähm ... eigentlich bin ich wirklich durch den Kamin gekommen. Ich bin Professor Longbottom, Kräuterkundelehrer an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei. Sie sind bestimmt Miss Brown, oder?", fragte er dann an mich gewandt. Ich konnte nur stumm nicken. Er streckte mir die Hand entgegen, merkte dann aber, dass diese schwarz vor Ruß war und wischte sie so gut es ging an seinem Umhang ab. Er streckte sie erneut aus und perplex wie ich war schüttelte ich sie. Anschließend reichte er auch Mom und Cal die Hand, die scheinbar genauso fassungslos waren. „Sie haben bestimmt einige Fragen", sagte Professor Longbottom. „Wie wär's, wenn wir uns hinsetzen, während ich sie beantworte?"
Sobald hatten wir uns an den Küchentisch gesetzt, stellte Mum auch schon die erste Frage: „Also was machen Sie hier?" „Wie schon gesagt komme ich von Hogwarts und -", fing Professor Longbottom an, unterbrach sich dann selber und wandte sich an mich: „Sie haben Ihren Brief schon bekommen?" Ich nickte. „Ja, gerade eben." „Gut. Also wie fang ich jetzt am besten an? Was hat McGonagall nochmal gesagt?" Für einen Moment scheint er wirklich zu überlegen. Dann: „Achja! Also Hogwarts ist eine Schule - ein Internat für Kinder mit ... besonderen Fähigkeiten. Mit Zauberkräften um genau zu sein." Obwohl das so abwegig klang, dass es gar nicht wahr sein konnte, blieb mir für einen Moment die Spucke weg. „Mit Zauberkräften?", echote ich. „Genau", bestätigte Longbottom. „Sie sind eine Hexe."
Für einen Moment lang herrschte Stille. Dann fing Cal an zu kichern. „Ja, ich wusste schon bei deiner Geburt, dass du eine ziemliche Hexe sein wirst, Maddy." „Als ich geboren wurde, wusstest du noch nicht mal was eine Hexe ist, du warst schließlich erst zwei", konterte ich. „Ruhe jetzt, ihr beiden. Wollt ihr nicht hören, was Professor Longbottom zu sagen hat?", kam es von Mum, deren Misstrauen jetzt anscheinend durch Neugierde abgelöst wurde. Natürlich wollte ich das - dieser Tag war vermutlich der spannendste der ganzen Sommerferien -, also wandte ich mich wieder Longbottom zu. Diesem schien es etwas unangenehm zu sein, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, denn er räusperte sich erneut. Und dann erzählte er das Unglaublichste, was ich je gehört hatte.
„Also wie sich herausgestellt hat, verfügen Sie, Miss Brown, über magische Fähigkeiten. Es kommt nicht selten vor, dass Kinder aus Muggelfamilien Zauberkräfte besitzen. Ach richtig, Sie wissen ja nicht, was Muggel sind; das sind Menschen ohne Zauberkräfte. Ihre ganze Familie besteht vermutlich aus Muggeln, Miss Brown, aber Sie sind keiner. Sie sind eine Hexe. Und Hogwarts ist ein Internat, in dem junge Hexen und Zauberer ausgebildet werden und lernen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren und Magie gezielt anzuwenden. Überall auf der Welt gibt es solche Zauberschulen, denn es leben auch überall Zauberer und Hexen - ohne ihre wahre Identität preiszugeben, versteht sich -, aber Hogwarts wird als eine der besten angesehen. Ein paar der bekanntesten Zauberer der Welt wurden in Hogwarts unterrichtet: Albus Dumbledore, Harry Potter und, nun ja, darauf ist zwar niemand besonders stolz, aber auch Lord Voldemort war einst Schüler in Hogwarts..." Sein Blick glitt in die Ferne, als würde er sich an etwas Schreckliches erinnern.
Ich konnte ihn nur anstarren. Tausende Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Schließlich stammelte ich: „Lord - Lord Voldemort?" Der Professor setzte sich aufrechter hin. „Davon möchte und sollte ich jetzt besser nicht reden, du wirst noch früh genug von ihm erfahren, spätestens in Hogwarts." Er rang sich ein Lächeln ab. Ich nickte, so als würde ich verstehen, dabei verstand ich rein gar nichts. „Moment mal", mischte sich da meine Mutter ein. „Wer sagt denn, dass Madeleine auf diese Schule gehen wird? Überhaupt klingt das doch alles sehr abwegig... Muggel, Zauberer? Wieso sollten wir das glauben?"
Professor Longbottom's Lächeln sackte in sich zusammen. Aber nach einem kurzen Moment hellte sich seine Miene wieder auf und er sprang auf. „Ich kann's beweisen!", rief er aus, als wäre ihm das erst jetzt eingefallen. Gespannt, bzw. im Fall meiner Mutter eher skeptisch, sahen wir ihm dabei zu, wie er einen etwa 20 cm langen Stab aus Holz - einen Zauberstab, wie er erklärte - aus seinen Umhang zog. Er ließ seinen Blick durch die Küche schweifen, bis dieser schließlich an einem Kochtopf, der neben dem Herd auf der Theke stand, hängen blieb. Er richtete den Zauberstab auf ihn und sagte: „Wingardium Leviosa". Und nach einem kurzen Schlenker seiner Hand - da schwebte der Kochtopf mehrere Zentimeter über der Ablagefläche. Ich keuchte auf und Cal, der Longbottom am nächsten war, wich mit überraschter Miene ein Stück zurück.
Sanft ließ der Professor den Topf wieder auf der Küchentheke landen. „Wow", wisperte ich ehrfürchtig. „Wow", bestätigte mein Bruder und schluckte schwer. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und versuchte, das was ich soeben gehört hatte, zu verarbeiten. Ich, eine Hexe? Das war wie ein Traum, zu schön um wahr zu sein... Aber andererseits machte es durchaus Sinn. Es wäre eine Erklärung für all die merkwürdigen Dinge, die schon in meiner Gegenwart passiert waren. Zum Beispiel für die Sache mit der Vase, als ich bei meinen Großeltern zu Besuch war. Meine Großmutter hatte diese neue Porzellanvase gekauft, die meiner Meinung nach ziemlich hässlich, aber ihr ganzer Stolz und zudem auch noch recht teuer war. Ich hatte mit der Katze gespielt und dabei war ich gegen das Tischchen, auf dem die Vase stand, gestoßen – die Vase war heruntergefallen und für einen kurzen Moment hatte ich mich schon von meiner Großmutter an die Wand gekettet gesehen, aber anstatt dass die Vase auf dem Fliesenboden in tausend Einzelteile zersprungen war, war sie über den Boden gehüpft wie ein Flummi. Sie hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. Damals war ich zu froh gewesen, um mir wirklich Gedanken darüber zu machen und ehrlich gesagt, hatte ich den Vorfall schon fast wieder vergessen; erst jetzt war es mir wieder eingefallen.
Der Gedanke daran, wirklich zaubern zu lernen, ließ mein Herz hüpfen. Davon hatte ich schon immer geträumt. Ich unterbrach das Schweigen, dass bis eben im Raum geherrscht hatte und fragte übereifrig: „Wann fängt das Schuljahr nochmal an?" Mum musste lachen.
Während Professor Longbottom meine Frage beantwortete und uns genauere Infos gab, wie das Schuljahr ablaufen würde, schwebte ich wie auf Wolke sieben. Longbottom überreichte mir auch das Ticket für den Zug, mit dem ich nach Hogwarts fahren würde und erklärte uns, wo wir meine Schulsachen kaufen konnten. Schließlich folgten wir ihm ins Wohnzimmer zurück, wo er auf dem gleichen Weg verschwand, auf dem er auch hergekommen war – durch den Kamin. Dazu warf er eine Handvoll eines sandähnlichen Pulvers ins Feuer, woraufhin sich die Flammen grün färbten. Anschließend trat er ohne zu zögern in die Flammen hinein – ich zuckte zusammen, aber ihm passierte nichts – er sagte „Der Tropfende Kessel" und plötzlich war er verschwunden. Ich ließ mich aufs Sofa fallen. „Wahnsinn", murmelte Cal und setzte sich neben mich. Ich konnte nur sprachlos nicken. Was für ein Tag!
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