Der verbotene Wald
Maddys Sicht
Bemüht versuchte ich einen Eindruck von Aufmerksamkeit zu vermitteln. Aber so sehr ich Professor Longbottom als Person auch schätzte; seine Begeisterung für Kräuterkunde und sein immenses Wissen darüber, das er so verzweifelt versuchte uns näher zu bringen, konnten wirklich ermüdend sein und so hatte ich schon gut vor einer Viertelstunde abgeschaltet. Zu Beginn des Schuljahres war ich noch motiviert und entschieden – vielleicht auch eingeschüchtert – genug gewesen, dass ich es nicht wagte, während des Unterrichts eine Sekunde lang unaufmerksam zu sein, aber das hatte sich mittlerweile gelegt. Gedankenverloren ließ ich den Blick durch das Gewächshaus schweifen. Wir alle saßen um ein großes Pflanzbeet herum, dem aber keiner wirklich Beachtung schenkte, da wir heute nur theoretischen Unterricht machten. Links neben mir saßen Ruby und James, die – wie so oft – die Köpfe zusammengesteckt hatten und miteinander tuschelten; auf meiner anderen Seite schien Cassie schon halb im Sitzen zu schlafen und noch ein paar Plätze weiter reichten die Zwillinge Jenna und Kenna einen Zettel hin und her.
Gefühlt die ganze Klasse schien nur noch körperlich anwesend zu sein; geistig war fast jeder woanders. Aber immerhin war es auch die letzte Stunde nach einem langen Schultag.
Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken und sorgte, dafür Cassie sich abrupt aufsetzte. Die ganze Klasse schien langsam wieder aufzuwachen und noch während Professor Longbottom uns die Hausaufgaben mitteilte; wir sollten in der Bibliothek über das Dianthuskraut recherchieren; packten alle ihre Sachen zusammen und fingen an miteinander zu reden. Zusammen mit Ruby und James verließ ich das Gewächshaus und machte mich durch die eisige Luft auf den Weg zum Schloss. „Es wird immer kälter", stellte Ruby zitternd fest und zog ihren Mantel enger um sich. Ich nickte. „Ja, langsam kündigt sich echt der Winter an." „Weißt du schon, was du an Weihnachten machst?", fragte Ruby mich daraufhin,
„Ich verbringe die Ferien zuhause, bei meiner Familie", antwortete ich und konnte nicht verhindern, dass sich ein leises Lächeln auf meine Lippen stahl. Ich vermisste Mom und Callum. Gleichzeitig bemerkte ich auch, dass sich für einen kurzen Moment Enttäuschung auf Rubys Gesicht widerspiegelte und mein Lächeln verblasste. Natürlich; nach dem Streit mit ihrer Mutter an Halloween hatten die beiden keinen Kontakt mehr, und ich konnte durchaus verstehen, dass sie deswegen an Weihnachten nicht nach Hause wollte. Aber da die meisten anderen Schüler; auch James, der Weihnachten zusammen mit seiner ganzen Großfamilie feierte; in den Ferien nach Hause gingen, wäre Ruby fast alleine in Hogwarts.
„Du kannst in den Ferien gerne mit zu mir kommen", schlug ich meiner Freundin vor und ihr Gesicht hellte sich auf. „Ehrlich? Aber ich will deiner Mutter nicht zur Last fallen..." „Ach was", winkte ich ab, „sie hat mich sogar schon gefragt, ob du Weihnachten nicht mit uns feiern möchtest. Sie und mein Bruder wollen dich wirklich gerne kennenlernen und würden sich sehr freuen. Und ich mich auch." Sie strahlte. „Abgemacht!"
Nachdem wir das Schloss betreten hatten, trennten sich unsere Wege. Ruby und ich gingen in die Bibliothek, um Hausaufgaben zu machen, während James, der müde war, sich verabschiedete und auf den Weg zum Gryffindor-Turm machte.
In der Bibliothek angekommen, setzte ich mich sofort an den Zaubertränke-Aufsatz, den wir bis morgen aufhatten, und Ruby suchte nach einigen Büchern, die möglicherweise Informationen über das Dianthuskraut, welches wir für Longbottom recherchieren sollten, enthielten. Ich hatte schon fast eine halbe Seite Pergament vollgeschrieben, als Ruby endlich an unseren Tisch zurückkam, in den Händen ein Buch. Ich warf einen Blick auf den Titel und – oh Wunder – es hatte nichts mit Kräuterkunde zu tun. „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind", las ich vor und sah Ruby mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Steht da zufällig etwas über das Dianthuskraut drin?", fragte ich mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme. „Nein", gab Ruby zu, „aber ich erinnere mich, dieses Buch mal bei den Potters zuhause gesehen zu haben. Ich glaube, es gehörte früher zu den Schulbüchern an dieser Schule. Aber ist ja auch egal, auf jeden Fall stehen einige echt interessante Sachen hierdrin und soweit ich weiß, leben einige der Tierwesen im Verbotenen Wald..." „Und was genau willst du mir damit sagen?", fragte ich, obwohl mir schon Böses schwante... „Ich will in den Verbotenen Wald!", antwortete sie strahlend und bestätigte somit meine bösen Vorahnungen. „Niemals, Ruby!", antwortete ich entsetzt. „Er heißt schließlich nicht umsonst „Verbotener Wald" und außerdem ist er gefährlich; das hast du am ersten Schultag selbst gesagt!" Ruby winkte ab. „So gefährlich jetzt auch wieder nicht. James Onkel George hat uns erzählt, dass er tausendmal da drin war, als er hier zur Schule ging, und ihm ist nie etwas zugestoßen. Und als ich das letzte Mal drin war, war ich erst 8; da erscheint einem alles gruseliger, als es wirklich ist." „Selbst wenn, es ist uns immer noch verboten ihn zu betreten!", argumentierte ich dagegen. Aber Ruby, stur wie sie war, ließ sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen. „Dann lassen wir uns halt nicht erwischen! Ach komm schon, das wird lustig! Sieh es einfach als ein Abenteuer an."
Noch immer zweifelnd guckte ich sie an. Entschieden sagte sie: „Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Dann geh ich halt alleine." Ich seufzte. Es schien unmöglich, sie umzustimmen... Aber wenn sie schon in den Verbotenen Wald ging, würde ich sie auf keinen Fall alleine lassen gehen. Wer wusste, was für Gefahren dort lauerten? „In Ordnung, ich bin dabei", antworte ich, wenn auch ein wenig widerwillig. Ruby stieß einen kleinen Freudenschrei aus und fiel mir um den Hals. „Du bist die Beste!", quietschte sie.
Wir gingen mit Straßenklamotten ins Bett und lange nach der Nachtruhe, als schon alle schliefen, schlichen wir uns die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum. Vor der Tür wartete James auf uns, der von Rubys Plan natürlich hellauf begeistert war. Er hielt einen Finger an die Lippen, um uns zu signalisieren, dass wir leise sein sollten. Innerlich verdrehte ich die Augen. Als ob das nicht offensichtlich wäre! Die Gänge des Schlosses waren dunkel, also erleuchtete ich meinen Zauberstab mit Lumos. Auf Zehenspitzen schlichen wir durch die Gänge, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber plötzlich ertönten hallende Schritte auf dem Flur. In Sekundenschnelle löschte ich meinen Zauberstab mit Nox, sodass wir im Dunkeln dastanden. „Verdammt", hörte ich Ruby murmeln. Aber James hatte anscheinend einen Plan; ich spürte, wie er meinen Arm packte und Ruby und mich in eine Wandnische zog, die mir vorher gar nicht aufgefallen war. Ich konnte nicht verhindern, dass ich leicht in Panik geriet. „Ich hab euch doch gleich gesagt, dass das 'ne Scheißidee ist", zischte ich den anderen zu. „Wir sind sowas von am Arsch..." „Halt die Klappe, Maddy", zischte Ruby zurück und ich verstummte. Die Schritte kamen immer näher und ich presste mich enger an die Wand, bis schließlich ein Lichtkegel in meinem Blickfeld erschien. Es war das Licht eines Zauberstabes, der Professor McGonagalls strenges Gesicht erleuchtete. Aber zu unserem Glück guckte sie nicht nach rechts oder links, sondern ging geradeaus weiter, bis sie um die Ecke bog. Erleichtert atmete ich aus. James murmelte: „Glück gehabt." „Aber sowas von!", kam es von Ruby zurück.
Den restlichen Weg nach draußen legten wir ohne weitere Komplikationen zurück. Vor dem Schloss schlug uns die eisige Kälte entgegen und zitternd kuschelte ich mich in meinen Schal. Erst nach dem wir uns einige Meter von Hogwarts entfernt hatten, wagten wir es wieder, in normaler Lautstärke miteinander zu reden. „Das ist so aufregend!", sagte Ruby begeistert. Und obwohl ich es nur ungern zugab, packte auch mich langsam die Abenteuerlust. Auf unserem Weg zum Waldrand erzählten mir James und Ruby Geschichten aus ihrer Kindheit und von allem möglichen Blödsinn, den sie angestellt hatten, um ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. „Aber Dad war früher schließlich auch nicht anders", sagte James, der rückwärts vor uns lief, und zuckte mit den Schultern. Das Gespräch endete abrupt, als die erste Baumgruppe des Verbotenen Waldes düster in den Himmel ragend vor uns auftauchte. Die heitere Stimmung von zuvor verblasste und stattdessen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Auch James machte ein ernstes Gesicht. Nur Ruby hatte ihre Tatkraft nicht verloren und betrat mit den Worten „Na dann, auf geht's" den Wald. Ich gab mir einen Ruck und folgte ihr. Erst nach wenigen Schritten fiel mir auf, dass James nicht hinter uns war. Ich drehte mich um und sah, dass er immer noch an der gleichen Stelle stand und ernst die Bäume betrachtete. „Kommst du?", rief ich ihm zu und schnell schloss er zu uns auf.
Je tiefer wir in den Wald gingen, desto enger standen die Bäume und desto dunkler wurde es, sodass ich erneut meinen Zauberstab erleuchtete. Während des Gehens wechselten wir kein Wort, wir waren zu sehr damit beschäftigt auf unsere Umgebung zu achten. Der Weg war schmal und von Wurzeln überwachsen; kahle dunkle Äste ragten in die Luft und immer wieder verhingen sich unsere Umhänge in Dornenbüschen. Von den Tierwesen, über die Ruby gelesen hatte, sahen wir aber keins; stattdessen wurde es nur immer kälter und ohne dass es uns bewusst war, drängten wir uns beim Gehen enger aneinander. Irgendwann fragte ich zögernd: „Wollen wir nicht vielleicht langsam zurückgehen?", aber Ruby teilte uns fest entschlossen mit, dass sie nicht umkehren würde, ehe sie nicht wenigstens ein Tierwesen gesehen hatte. Also gingen wir weiter, bis James auf einmal abrupt stehen blieb. Völlig unvorbereitet lief ich in ihn rein und beschwerte mich: „James, was soll denn das?" Er hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. „Hört ihr das nicht?" „Was sollen wir hören?" „Dieses Pfeifen!" Ruby winkte ab. „Ach, das war nur der Wind." Aber dann hörte ich es auch; ein hohes pfeifendes Geräusch, ein wenig unregelmäßig, aber ganz sicher nicht durch den Wind verursacht, das die Stille des Waldes durchbrach und mir einen Schauer über den Rücken jagte. „Was ist das?", flüsterte ich. Angestrengt versuchten wir im Dunkeln die Geräuschquelle auszumachen, und schließlich war es Ruby, die mich anstupste und sprachlos auf etwas zwischen den Bäumen zeigte. Ich folgte ihrem Finger und was ich sah, ließ mich erstarren. Da war eine schwarze, vermummte Kreatur; sie hatte in etwa die Gestalt eines Menschen, schien aber etwas gekrümmt zu gehen; das Gesicht war von einer Kapuze verdeckt. Aber das war noch gar nicht das Schlimmste; viel mehr waren es ihre pfeifenden Atemgeräusche, die angsteinflößend wirkten. Für einen Moment konnten James, Ruby und ich nur erstarrt dastehen und beobachten, wie die Gestalt sich einen Weg zwischen den Bäumen bahnte und immer näher auf uns zu kam. Aber dann reagierten wir alle auf einmal. Ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden, leise zu sein, rannten wir los, in Richtung des Waldrandes. Ein paar Mal stolperte ich fast, aber ich wagte es nicht, einen Blick zurück zu werden, obwohl ich das Gefühl hatte, dass die Kreatur mir die ganze Zeit im Nacken saß.
Erst als wir wieder außerhalb des Waldes waren, blieben wir stehen. Mit auf den Knien abgestützten Händen rang ich nach Luft; meine Atemwolken waren in der kalten Luft deutlich zu erkennen. Kalter Schweiß lief mir den Rücken runter. Schließlich sprach James das aus, was wir uns alle fragten. „Was – war – das?" „Ich habe keine Ahnung", antwortete Ruby. Ihr Gesicht machte unter dem Mondlicht einen leicht gelblichen Eindruck. Ich schüttelte den Kopf. „Und ich bin echt nicht scharf darauf, dem Ding nochmal zu begegnen", fügte ich hinzu. Wir blieben noch ein wenig vor dem Wald stehen, bis sich unsere Nerven halbwegs beruhigt hatten. Dann machten wir uns auf den Weg zurück zum Schloss.
Nachdem wir die Eingangstür passiert hatten, schlug uns eine wohlige Wärme entgegen und ich seufzte entspannt auf. „Jetzt will ich nur noch ins Bett", kam es von Ruby und ich nickte zustimmend. Aber ein plötzliches Räuspern ließ mich zusammenzucken. „Mr. Potter, Miss McLean, Miss Brown", ertönte McGonagalls schneidende Stimme und als ich mich langsam umdrehte, sah ich geradewegs in ihr strenges Gesicht. „Könnten Sie mir bitte erklären, was hier los ist?"
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