Der Hogwarts-Express

Maddys Sicht:

Obwohl ich von meinem gestrigen Besuch in der Winkelgasse schon einiges unglaubliches gewöhnt war, war ich anfangs skeptisch gewesen, als Professor Longbottom mir erklärt hatte, wie man zum Gleis 9 ¾ kommen sollte. Aber es hatte geklappt - ich war, wie er gesagt hatte, einfach durch die Absperrung zwischen Gleis 9 und 10 hindurchgeglitten, als ich darauf zu gegangen war und jetzt stand ich auf besagtem Gleis. Den Griff meines Gepäckwagens mit dem Koffer voller magischer Bücher und Sachen, die ich in der Winkelgasse gekauft hatte, und dem Korb mit meiner schwarz-weiß gemusterten Katze Lucy - ebenfalls in der Winkelgasse erstanden - fest umklammert, schaute ich mich staunend um. Auf dem Bahnsteig stand eine scharlachrote Dampflok bereit; einige Waggons waren schon mit Schülern besetzt, die sich aus den Fenstern lehnten, um sich von ihren Familien zu verabschieden, während andere sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnten; vielleicht um ihre Freunde, die sie womöglich die ganzen Sommerferien über nicht gesehen hatten, zu suchen und zu begrüßen. Es herrschte lautes Stimmengewirr, untermalt von den Schreien einiger Eulen und miauenden Katzen.

Erst als sich neben mir zwei Mädchen lauthals kreischend in die Arme fielen, riss ich mich von dem Anblick los und schob meinen Gepäckwagen, auf der Suche nach einem freien Waggon, den Bahnsteig hinunter. Dabei sah ich mich aus irgendeinem Grund nach einem bekannten Gesicht auf dem Bahnsteig um - was natürlich völliger Blödsinn war, wen sollte ich hier schon kennen? Aber tatsächlich erblickte ich ein Mädchen, dessen Gesicht mir bekannt vorkam; ich war gestern in der Winkelgasse mit ihr zusammengestoßen! Sie verabschiedete sich gerade von ihrer Mutter und da ich nicht den Eindruck machen wollte, ich würde die beiden beobachten, wandte ich mich ab und ging weiter. Ich hatte mich von meinen Eltern und Cal schon auf dem Bahnhof verabschiedet; sie hatten zu viel Respekt vor der doch sehr stabil aussehenden Absperrung zwischen Gleis 9 und 10, als dass sie mir auf dieses Gleis gefolgt wären. Der Gedanke daran, sie bis zu den Weihnachtsferien nicht wieder zu sehen, versetzte mir einen kleinen Stich; ich war bisher noch nie länger als zwei Wochen am Stück von meiner Familie getrennt gewesen und jetzt würde es gleich ein halbes Jahr sein. Aber durch die Möglichkeit, an Hogwarts unterrichtet zu werden, wurde mir ein Traum erfüllt und obwohl das alles immer noch schwer zu glauben für mich war, wollte ich diese Möglichkeit nutzen.

Schließlich wurde ich auf meiner Suche nach einem freien Abteil fündig. Eine kleine Treppe führte zu der Waggontür und unter großer Anstrengung wuchtete ich meinen schweren Koffer Stufe für Stufe hoch; dabei verlor ich einmal fast das Gleichgewicht, aber schließlich schaffte ich es, den Koffer unfallfrei im Gang des Zuges abzustellen. Ich sprang die Stufen wieder hinunter und stellte auch den Korb mit Lucy in den Zug. Nachdem ich noch einen letzten Blick auf den sich mittlerweile schon leerenden Bahnsteig geworfen hatte, stieg ich schließlich selber ein und ließ mich auf einen Platz am Fenster sinken.

Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung. Draußen auf dem Gang hörte ich einen leisen Schrei und dann Gelächter; anscheinend hatte jemand noch keinen Sitzplatz gefunden und war, als der Zug losgefahren war, ins Taumeln geraten. Da glitt plötzlich die Waggontür auf und ein Junge und ein Mädchen betraten das Abteil; vermutlich waren sie diejenigen, die ich gerade eben noch auf dem Gang gehört hatte. Die beiden waren etwa in meinem Alter. Das Mädchen hatte braune, glatte Haare und ich brauchte nicht lange, um sie wiederzuerkennen; mit ihr war ich gestern in der Winkelgasse zusammengestoßen und sie hatte ich auch eben auf dem Bahnsteig schon gesehen. „Hey! Können wir uns zu dir setzen?", fragte sie und deutete auf sich und den Jungen neben ihr. Er hatte schwarze, strubbelige Haare und nickte zustimmend. „Alle anderen Abteile sind schon belegt", fügte er hinzu. „Klar, setzt euch", erwiderte ich. Während die beiden ihr Gepäck verstauten, beobachtete ich sie. Sie schienen gute Freunde zu sein, vielleicht sogar Geschwister, überlegte ich. Da sie sich aber ganz und gar nicht ähnlich sahen, schloss ich den Gedanken schnell wieder aus.

„Ich bin übrigens Ruby", stellte sich das Mädchen vor, als die beiden schließlich saßen. „Und das ist James." „Maddy", erwiderte ich. Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: „Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber- " „-wir sind gestern in der Winkelgasse zusammengestoßen?", beendete sie meinen Satz und lachte. „Ja, daran erinnere ich mich. Sorry nochmal, dass ich in dich reingerannt bin." James schüttelte gespielt enttäuscht den Kopf und sagte: „Ach, Ruby... Immer so unaufmerksam. Was soll so nur aus dir werden?" Angesprochene verdrehte genervt die Augen. Ich musste lachen. „Schon gut, ist ja nichts passiert", winkte ich ab.

Danach herrschte für einen kurzen Moment Stille. Verstohlen schaute ich zwischen Ruby und James hin und her. Sie waren nach Professor Longbottom die ersten beiden anderen Zauberer, die ich namentlich kannte, überlegte ich. Dabei sahen sie ganz normal aus; sie hätten genauso gut Schüler an meiner alten Schule - einer Muggelschule sein können. „Das ist dein erstes Jahr in Hogwarts, oder?", brach Ruby schließlich das Schweigen. Ich nickte. „Meins und James auch. Vielleicht kommen wir ja ins gleiche Haus", fügte sie hinzu.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Haus?", fragte ich und kam mir dabei ein wenig dumm vor. „Ich dachte, Hogwarts sei ein Schloss." „Das ist es ja auch", beeilte Ruby sich zu antworten. Sie schien nicht sehr überrascht zu sein, dass ich nicht Bescheid wusste - anscheinend waren muggelstämmige Zauberer und Hexen keine Seltenheit, was mich ein wenig beruhigte. „Es ist nur so, dass am Anfang ihres ersten Schuljahres alle Schüler in Hogwarts einem Haus zugeteilt werden", sprach sie weiter. „Die Häuser sind nach den vier Gründern von Hogwarts benannt; Gryffindor, Ravenclaw, Hufflepuff und Slytherin. Jedes Haus hat einen eigenen Gemeinschaftsraum und eigene Schlafsäle."

„Und was noch viel wichtiger ist", unterbrach James sie, „jedes Haus hat auch eine eigene Quidditch-Mannschaft." Den Begriff Quidditch kannte ich schon. Als ich Professor Longbottom gestern in der Winkelgasse auf die Besen angesprochen hatte, die in einem der Schaufenster ausgestellt waren, hatte er mir erklärt, dass Quidditch, der beliebteste Sport der Zaubererwelt, auf Besen gespielt wurde. James schien ein sehr begeisterter Quidditch-Fan zu sein; auf jeden Fall leuchteten seine Augen, als er jetzt anfing, mir ausführlich die Regeln der Sportart zu erklären. Ich versuchte aufmerksam zuzuhören, allerdings schaffte ich es nicht, durchgehend bei der Sache zu bleiben; zumal ich auf Anhieb auch nicht all die Spielerpositionen und Namen der verschiedenen Bälle im Kopf behalten konnte. Die wichtigsten Punkte bekam ich dennoch mit; zum Beispiel, dass James Eltern, die wohl ebenfalls Hogwarts besucht hatten, Mitglieder der Gryffindor-Quidditch-Mannschaft gewesen waren und seine Mutter eine Zeit lang sogar professionelle Quidditch-Spielerin für die Holyhead Harpies gewesen war.

Auch danach blieben wir noch beim Thema Familie. Icherfuhr, dass fast alle in Rubys und James Familien Zauberer waren und dassJames auch noch zwei kleine Geschwister hatte; Albus und Lily. Ich erzählte ihnen dafür von Callum und meinen Elternund davon, wie überrascht, wir alle gewesen waren, als der Brief angekommen war.

Am frühen Nachmittag wurde die Abteiltür von einer freundlich lächelnden Hexe mit einem Imbisswagen aufgeschoben. Zusammen mit Ruby, die mir einige gute Süßigkeiten empfehlen wollte, trat ich auf den Gang hinaus. Dort fiel mir auf, dass sich erstaunlich viele Schüler um den Imbisswagen tummelten, von denen aber nur wenige besonders interessiert an den Auslagen schienen; die anderen wirkten eher so, als versuchten sie möglichst unauffällig einen Blick auf etwas hinter meinem und Rubys Rücken zu werfen. Aber da war nur die Abteiltür, durch dessen Fenster man James sehen konnte, der in einer Zeitschrift blätterte. Ich runzelte die Stirn.

Als Ruby und ich, um ein paar Sickel ärmer und mit Kürbispasteten und Schokofröschen beladen, ins Abteil zurückkehrten, brachte ich meine Verwunderung zum Ausdruck: „Ist dir auch aufgefallen, dass alle da draußen versuchen, in unser Abteil zu starren, Ruby?" Ruby seufzte. „Ja, und ich weiß auch, wieso." Sie sah James an, der jetzt seine Zeitschrift zur Seite legte und das Gesicht verzog. „Ja, das liegt vermutlich an mir", sagte er nüchtern. „Dad sagte schon, dass ich mit sowas rechnen müsste. Ihm gings in seiner eigenen Schulzeit schließlich auch nicht anders..." Nach einer kurzen Pause, in der ich ihn fragend anschaute, ergänzte er: „Mein Vater ist Harry Potter."

„Aber du bist muggelstämmig, also weißt du vermutlich nicht, wer das ist, oder?", fragte Ruby mich. „Doch ... also nein, nicht wirklich. Professor Longbottom hat den Namen nur mal erwähnt, im Zusammenhang mit einem anderen, irgendwas mit W", erwiderte ich nachdenklich. „V", verbesserte Ruby mich. „Du hast bestimmt Voldemort gemeint." „Ja, das kann sein. Was hat es denn nun damit auf sich?"


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top