Kapitel 1
Schlecht gelaunt saß ich auf dem Beifahrersitz von meinem Pflegevater und fragte mich, wieso die Welt so ungerecht war? Warum sonst nahm man einer 17 Jährigen die ganze Familie weg? Das letzte Jahr war absolut beschissen, um es noch nett ausdrücken. Meine Tränen mussten komplett aufgebraucht sein. Im Radio lief schlechte Musik und als ich mich beschwerte, reagierte er überhaupt nicht darauf. Wütend vor mich hin nuschelnd, hörte ich meine eigene. Die Musik ist im letzten Jahr mein einziger Halt gewesen, weil niemand da war um mich zu trösten. Den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, betrachtete ich mein eigenes Spiegelbild. Dunkle Augenränder, ungeschminkt und mit Jogginghose. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Mit nur einem Fingerschnippen wurde mein ganzes Leben zerstört, und das sah man mir an. Wie gerne hätte ich jetzt meine Mom angerufen, um einfach ihre Stimme zu hören, oder meine Grandma, die mich in ihre Arme genommen hätte und ich ihren bezaubernden Duft hätte einatmen können. Oder mein Dad, der wieder seine Witze erzählte, von denen mein Bauch vor lachen wehtat. Oder mein Bruder, der erzählte wie ein Wasserfall. Aber das werde ich alles nie wieder haben. Meine Eltern sind letztes mit meinen Bruder zu einem Turnier gefahren, wo ich keine Lust hatte mitzukommen. Sie sind dort aber nie angekommen. Auf der Autobahn war es vom letzten Regenschauer noch sehr rutschig und meine Eltern sind vom Weg abgekommen, überschlugen sich mehrmals und krachten in eine Grube. Alle drei sind noch am Unfallort gestorben. Ich bin beim Training gewesen, als meine Grandma aufgelöst und verweint in den Saal gerannt kam. Sie redete mit meiner Trainerin und zitterte am ganzen Leib; besorgt um sie, legte ich ihr einen Arm um die Schultern und stütze sie. In diesem Moment stürzte meine Welt zusammen, und ehe ich mich versah, kauerte ich auf dem Krankenhaus Boden. Ich weinte die ganze Nacht durch und fand keinen Schlaf. Die Ärzte sagten uns, sie würden meine Eltern und meinen Bruder ins Leichenhaus bringen und wir könnten sie bestatten. Seitdem hasste ich Ärzte. 2 Wochen lang versteckte ich mich bei meiner Oma, wollte niemanden sehen oder hören. Jedem Abend musste ich mir Eis auf den Augen legen, weil sie so brannten und geschwollen waren vom ganzen Weinen. Meine Grandma war so besorgt um mich, dass sie mich zu einem Psychologen schickte. In der Anfangszeit redete ich kaum mit ihm, saß nur da und starrte in die Leere. Dann sagte er zu mir: "Tue es wenigstens für deine Grandma. Sie braucht dich auch, so wie du sie." Von da an redete ich. Ich half meiner Oma, wir lachten zusammen, auch wenn die Tage noch so grau waren, strengte ich mich an für sie. So wie sie es für mich tat. Für sie ging ich auch wieder in die Schule, um nichts zu verpassen. Bildung ist wichtig, wie sie zu sagen pflegte. Weil ich aber wochenlang weggewesen war und mich bei meinen Freunden nicht gemeldet habe, wendeten sie sich ab von mir. Außer Fay, sie wusste Bescheid, als sie mich das erste Mal wiedergesehen hat. Ich fragte sie, ob ich wirklich so schrecklich aussah und Fay antwortete absolut ehrlich mit Ja. Durch sie fand ich wieder Anschluss an die Welt, zeigte mir wie es war richtig zu lachen (und endlich ordentliche Klamotten zu tragen, außer Leggings und Oversize T-Shirts). Eines regnerischen Tages, als ich gerade mit Fay unterwegs gewesen bin, kam ich triefend und lachend zu Haustür von meiner Grandma rein. Wie immer saß sie in ihrem Sessel und schlief, aber an diesem Tag musste ich sie einfach wecken. Also schüttelte ich sanft an ihren Schultern und versuchte Grandma aufzuwecken. Dreimal schüttelte ich sie und nichts passierte. Tränen flossen über meine Nase auf ihr Gesicht, es fühlte sich an, als würde eine frische Wunde wieder geöffnet werden. Ich heulte mir die Seele aus dem Leib, und nach Stunden rief ich den Notarzt. Sie schenkten mir mitfühlende Blicke und einer der Sanitäter sagte mir, dass sie Tod seihe. Ich nickte nur und blieb an Ort und Stelle sitzen. Die Zeit ging an mir vorbei, und irgendwann kam jemand und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich interessierte mich nicht für die Person und starrte weiter. Die Person schüttelte mich und schaffte es, dass ich zu ihr hochschaute. Es war meine Tante. Die Schwester von meinem Vater. Ich hatte sie das letzte Mal gesehen auf der Beerdigung, seitdem hatten sie sich nicht mehr gemeldet, außer meine Cousine. Jade tauchte hinter ihrer Mutter auf und als ich sie sah, rannten mir wieder die heißen Tränen über die Wangen und ich sprang in ihre Arme, um mich von ihr trösten zu lassen. Sie nahmen mich mit nach Hause, dort erzählte ich Jade alles, was mir im Kopf rumspuckte.
Erschrocken fuhr ich rum, als mir jemand die Stöpsel aus den Ohren zog. >Oh mein Gott, musste das sein?< Mein Pflegevater sagte grimmig: >Ja, wir sind da.< Bedrückt schaute ich aus der Frontscheibe und betrachtete mein neues Zuhause. Virginia. Meine Pflegemutter kam aus dem Haus gerannt und umarmte mich herzlich. >Endlich bist du da, habe mich schon so auf dich gefreut! Komm mit rein und sieh dir dein neues Zimmer an. Ich hoffe es gefällt dir!< Sie zog mich hinter sich die Treppen hoch. >Tada, gefällt's dir?< Erstaunt guckte ich mich um. Ein großes Bett stand in der Mitte des Raums und war bedeckt mit vielen Kissen und einen wunderschönen Bezug. Direkt daneben platzierte ein passender Abstelltisch mit Lampe. Links an der Wand hatte sie einen großen Kleiderschrank hingestellt, wo schon einige meiner Sachen drin waren. Vor dem Bett an der Wand stand eine Kommode mit viel Schnick Schnack. Schmuck, Parfum, Cremen und vieles mehr. Darüber hing eine leere Pinnwand. Lisa räusperte sich. >Die habe ich extra gekauft, damit du deine neuen Erinnerungen dran haften kannst. Wie findest du es?< Mit einem aufgesetztem Lächeln drehte ich mich zu ihr um. >Ich finde es toll. Du hast ein Talent dafür, Zimmer einzurichten. Ich denke, ich werde mich hier sehr wohl fühlen.< Begeistert klatschte sie in die Hände. >Supi, freut mich, hatte schon Sorge. Also, ich lass dich jetzt erst mal allein, damit du deine Sachen auspacken kannst. Abendbrot gibt's um 6 Uhr, wir wollen auch noch einige Dinge mit dir besprechen. Bis nachher!< Lächelnd winkte sie und verschwand aus dem Zimmer. Seufzend ließ ich mich aufs Bett fallen. Das war also mein neues Zuhause. Mein neues Leben. Ein ganz neuer Anfang, ohne, dass dich Leute kennen und dir ihren Mitleid schenken. Ich fing an den ersten Karton auszupacken und verstaute alles in den Schrank. Dann den zweiten und den dritten, als ich gerade den vierten geöffnet hatte, kam mir ein Bild entgegengesprungen. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es. Auf dem Bild waren meine Eltern, mein Bruder und meine Oma zu sehen, die mich alle lachend umarmten. Es wurde am meinen 16. Geburtstag gemacht, als wir gerade Kuchen gegessen hatten. Das war schön. Sofort kamen mir die Tränen und fielen aufs Bild. Schnell wischte ich sie mir weg und stellte das Bild auf den kleinen Abstelltisch. Ohne den Karton weiter auszupacken, setzte ich mich auf die Fensterbank, die von Lisa mit Decken und Kissen ausgestattet wurde, und schaute hinaus. Draußen spielten kleine Kinder auf dem Burgersteig und nebenbei unterhielten sich die Eltern. Zwei kleine Mädchen umarmten sich und gaben sich ein Küsschen auf die Wange. Sie kicherten und spielten sich gegenseitig den Ball zu. Heiße Tränen rannten über meine Wange und ich ließ sie gewähren. Die Tränen liefen immer weiter und ich drohte zu ersticken. Die Gefühle überschlugen sich und ich hörte gar nicht mehr auf. Ich wusste nicht wie spät es war, als ich mich endlich ein wenig beruhigt hatte. Inzwischen waren die Mädchen weg und es wurde langsam dunkel draußen. Total zerknirscht und verheult guckte ich das erste Mal seit meiner Abreise auf mein Handy. Es war schon 10 vor 6, also gleich Abendbrots Zeit. Ich ging ins Badezimmer, um mich frisch zu machen, sogar hier hatte Lisa einiges verrichtet. Es war alles da, was ich benötigte. Shampoo, Duschgel und Co. Ich wusch mein Gesicht, zog mich um und kämmte meine Haare. Von unten rief Maik schon, mein Pflegevater, dass Abendbrot fertig sei. Ich ging nach unten , wo ein herrlicher Essensduft in der Luft war, und setzte mich an den Tisch. Es gab Nudeln mit Bolognese, mein Lieblingsessen. >Ich habe extra dein Lieblingsessen gemacht, damit du dich gleich viel wohler fühlst.< Sie schenkte mir ihr schönstes Lächeln und auch ich bemühte mich ordentlich zu lächeln. >Danke, sehr lieb von euch.< >Ach, ist doch kein Thema, das machen wir gerne!< Obwohl ich keinen Hunger hatte, aß ich, damit Lisa nicht enttäuscht war. Die beiden redeten von ihrer Arbeit und wie es ist in Virginia zu leben. Außerdem erzählten sie von der Natur und den Parks, die wundervoll sein sollten. >Ja, wir müssen dort mal mit dir hingehen oder du gehst alleine. In Virginia gibt es noch so viel zu entdecken, du wirst es lieben, das verspreche ich dir.< Mit Nudeln im Mund nickte ich. Sie waren sehr lieb zu mir und versuchten es mir so angenehm wie möglich zu machen. Lisa sah aus wie eine typische Hausfrau mollig, blonde Haare, klein und ein rundes freundliches Gesicht. Sowie Maik wie ein Vater aussah groß, braune Haare und ein kleines Bäuchlein. Ja, die beiden wären die perfekten Eltern, nur ich nicht die perfekte Ersatz Tochter. Und das tat mir leid. >Mhmm, deine neue Schule wird dir auch gefallen.< Erschrocken fuhr Lisa hoch. >Maik, sagt das doch nicht so direkt. Wir hatten besprochen, damit sachte anzufangen!< Ich schüttelte mit der Hand. >Kein Problem! Besser direkt, als nicht mit der Sprache rauszurücken.< Lisa zeigte einen warnenden und gleichzeitig Erleichterten Gesichtsausdruck. >Gut, dann können wir das ja gleich besprechen.< Sie setzte sich aufrecht hin und gab Maik ein Zeichen, das auch zu tun. >Also, du bist ja mit deiner Schule noch nicht fertig, und dann haben Maik und ich überlegt auf welche Schule du denn am besten gehen könntest.< Abwartend saß ich stumm da und ließ dieses Gespräch über mich ergehen. Darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht, aber nicht richtig ernst genommen. Ehrlich gesagt, wollte ich nur im Zimmer sitzen und Fernsehen gucken. >Genau, deshalb haben Lisa und ich einige besucht, und eine hat uns ganz besonders gefallen. Die Winterfold Highschool. Sie ist ganz in der Nähe und du müsstest nur 10 Minuten mit dem Auto fahren.< Lisa und Maik sahen mich erwartend an, aber ich wusste nicht was ich sagen sollte. Was soll man auch darauf antworten? Hey, cool, voll lieb von euch, dass ich wieder zur Schule gehen darf und damit neue Freundschaften knüpfen muss, weil mein Urverhalten ja so ausgeprägt ist. Ich schluckte den immer größer werdenden Klos runter und versuchte zu sprechen, ohne dass man mein entsetzen hörte. >Wow, ihr habt euch echt um alles gekümmert. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.< Beide nickten. >Wir wissen, dass das ein großer Schritt für dich sein wird, aber wir denken es ist besser für dich, so schnell wie möglich ein neues Leben zu beginnen und neue Freunde zu finden.< Neue Freunde? Ich wollte keine neuen Freunde und erst recht kein neues Leben. Ich will mein altes Leben, das mir weggenommen wurde, wie ein kaputtes Spielzeug, welches man austauscht. >Wann muss ich denn wieder zur Schule?< fragte ich verwirrt. >Gleich morgen, perfekt das morgen Montag ist. Wir fahren dich aber noch hin, besser gesagt ich, bis du ein eigenes Auto hast.< Lisa lächelte mich voller Stolz und Glück an. Morgen schon? Ich bin noch nicht mal einen Tag hier und schon muss ich zur Schule? Ich versuchte freundlich zu klingen. >Ok, das ist ganz schön viel auf einmal. Aber wenn ihr mich fahrt, dann ist es in Ordnung. Natürlich werde ich bald alleine fahren. Ähm, wann muss ich denn da sein?< >8 Uhr fängt der Unterricht für dich an. Also geh dich am besten gleich fertig machen, damit du morgen fit bist. Ich hoffe, wir haben es dir nicht zu direkt gesagt.< Nein, nein auf gar keinen Fall. Wie solltet ihr auch. >Nein, alles gut. Ich gehe dann mal nach oben. Das Essen war sehr lecker, Lisa. Gute Nacht, wir sehen uns morgen.< Total verdattert schliff ich meine Beine die Treppen hoch und ließ dieses Gespräch immer wieder Revue passieren. Eine neue Schule?Und was war Winterfold Highschool eigentlich für ein dummer Name? Ich wollte da überhaupt nicht hin, erst recht nicht mit neuen Menschen, die ich kaum kannte. Die 11 Klasse ist sowieso überfällig, oder? Na gut, nicht wirklich, sie ist schon wichtig. Außerdem werde ich mitten im Schuljahr reingeworfen, wo denn alle einen anstarren. Ich mag es gar nicht, im Mittelpunkt zu stehen, besonders in so einer kleinen Stadt. Verärgert darüber, wollte ich gleich ins Bett hupfen, ohne jegliches Beauty Programm. Aber, wenn man mit fettigen Haaren und Augenringen zur neuen Schule geht, kommt das, glaube ich, nicht so gut an. Genervt stieg ich in die Dusche und ließ das warme Wasser auf meine verspannten Schultern prasseln.
Voted und lasst gerne ein Kommentar da. Würde mich über eure Meinungen freuen :)
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