Esgaroth
Ceanas Lungen brannten. Sie hatte sich wirklich beeilt, soweit es ihre Verletzungen zuließen, aber der Umweg machte sich bemerkbar. Noch während sie über den langen Holzsteg sprintete, der Esgaroth mit dem Festland verband, sah sie bereits einige Orks über die Dächer klettern. Trotz der Morgensonne war der Nebel über dem Wasser so dicht, dass die Stadt selbst noch in grauen Dunst gehüllt war, der nun aber langsam von der Dämmerung vertrieben wurde.
Sie beschleunigte noch einmal ihr Tempo und rannte einige wenige Orks, denen sie bei den ersten Häusern schon begegnete, kurzerhand über den Haufen, worauf diese jammernd und laut kreischend im Wasser landeten.
Ceana sprang hastig über mehrere schwimmende Stege, wobei die Morschesten unter ihrem aufkommenden Gewicht zerbrachen, und riss weiteren Orks, die nicht schnell genug vor ihr fliehen konnten oder die sie nicht rechtzeitig bemerkt hatten, knurrend die Kehle auf.
Im Schutze des Schattens einer maroden Hauswand hielt Ceana nach einigen Augenblicken inne und prüfte angespannt ihre Umgebung. Auf den ersten Blick konnte sie keine weiteren Orks im Nebel entdecken, doch ihr Instinkt sagte etwas anderes. Es waren definitiv noch irgendwo welche im Schatten unterwegs.
Zudem vernahm sie vereinzelte Geräusche, die nicht in die verschlafene Ruhe einer Stadt passten und ihr verrieten, dass die ersten Bewohner langsam ihre Häuser verließen, um ihren Tagwerk nachzugehen.
Um diese Tatsache zu unterstreichen, flog neben ihr eine Haustür auf, aus der ein noch recht verschlafener älterer Mann heraustrat, und sich lautstark in der Morgenluft streckte. Ceana musste unweigerlich die Nase rümpfen.
Die ganze Stadt roch an sich schon nach Fisch, was letztlich auf den Haupterwerb der Einwohner, den Fischfang, zurückzuführen war, aber Hygiene oder allgemein auch Seife schienen nicht bei jedem im alltäglichen Gebrauch zu sein.
Er schaute sich kurz um, entdeckte die Jägerin im Schatten zum Glück nicht, murmelte anschließend etwas vor sich hin und griff schließlich nach seinen Fischernetzen, bevor er in Richtung seines Bootes verschwand.
Ceana wog ihre Möglichkeiten ab. Esgaroth ist eine sehr verwinkelte Stadt mit schmalen Stegen und Wasserstraßen. Ein Wesen ihrer Größe würde früher oder später nicht mehr ungesehen bleiben, sobald die Sonne die Stadt in Gänze erhellt hatte, und das würde für einen ziemlichen Aufruhr unter ihren Einwohnern sorgen.
Dieser Umstand könnte der Jägerin im Grunde ziemlich gleichgültig sein, doch sie hatte nicht die Absicht, unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es würde nur in Angst und Schrecken unter den Bürgern enden, und diese hatte sie in ihrem Leben schon genug unter der unschuldigen Bevölkerung verbreitet.
Aus diesem Grund beschloss sie, sich in ihre menschliche Form zu wandeln, auch wenn alles in ihr dagegen schrie. Hier war sie nicht im sicheren Bruchtal oder in einem Palast, wo ihr prinzipiell nicht viel passieren konnte. Hier war sie in einer Stadt, mitten in der Öffentlichkeit, wo allerhand geschehen kann, und es alles andere als sicher für sie war.
Ceana fühlte sich dadurch von einem auf den anderen Moment auch sehr unwohl. Ihr Kopf schmerzte und ihr wurde übel. Ihr ganzes Innerstes schien in Aufruhr und sich dagegen zu wehren in dieser schwachen Gestalt zu sein. Sie presste die Hände an ihre Schläfen und sank auf die Knie.
Als hätte jemand in ihren Gedanken gewütet und einzelne Teile verbrannt, wusste die Jägerin plötzlich nicht einmal mehr, warum sie überhaupt so hastig in die Fischerstadt geeilt war.
Wollte sie ihre Freunde einholen, oder war es aus einem Instinkt heraus, ein Reflex, als sie die Orks gesehen hatte? Warum war sie überhaupt von den Zwergen getrennt worden?
Sie schloss ihre Augen, atmete langsam ein und aus, und versuchte so ihre Gedanken zu ordnen und sich wieder in Erinnerung zu rufen, warum sie hier war.
Doch fast so schnell wie sie verschwunden war, kehrte die Erinnerung auch schon wieder zurück und Ceana schnalzte verärgert mit der Zunge. Ihre Gedanken schienen ihr langsam böse Streiche zu spielen. Wie konnte sie ihr eigenes Vorhaben vergessen, wenn auch nur für einen kurzen Moment wie diesen. Allerdings stellte sie sich noch einmal die Frage, was denn ihr eigentliches Vorhaben nun war. Sie hatte die Orks gesehen und war daraufhin sofort los gesprintet, da diese den gleichen Weg wie die Zwerge nahmen.
Die Frage, die schon öfters in ihrem Kopf kursierte, waren ihr die Zwerge wichtiger als die Tatsache, ihren Bruder zu finden?
Ceana konnte sie letztendlich nur befürworten, und lächelte unbewusst in sich hinein. Ihren verfluchten Bruder zu finden war zweifellos wichtig, doch die Zwerge waren ihr auf dieser langen Reise so sehr ans Herz gewachsen, dass Ceana sie definitiv an die erste Stelle setzte.
Die Jägerin wusste, dass eine weitere Begegnung mit Martainn unausweichlich war, doch sie wusste auch, dass es das Letzte sein könnte, was sie tun würde.
Aufgrund dessen wollte sie noch so viel Zeit wie ihr gegeben und möglich war, mit der Zwergengruppe verbringen.
Ceana atmete noch einmal durch, raffte sich auf und schob weitere Gedanken beiseite. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf, um ihr vernarbtes Gesicht etwas zu verbergen und trat aus dem Schatten. Es war ein großes Risiko, aber sie spürte keine Orks in ihrer unmittelbaren Nähe. Sollte sie dennoch welchen begegnen, musste sie sich eben doch wieder wandeln, ganz gleich welche Folgen es haben könnte. Aber solange sie es verhindern konnte, würde sie es tun.
Nach den ersten Metern wurde Ceana gleich an den nächsten Nachteil dieser Form erinnert, ihre Verletzungen schmerzten sehr, und die Wunde an ihrem linken Bein machte ihr das Gehen schwer. Fili hatte sich zwar fürs Erste darum gekümmert gehabt, doch ihre Begegnung mit Martainn war nicht zum Vorteil gewesen. Und auch die menschliche Form war nicht förderlich.
Für einen Moment dachte sie daran, ihr Vorhaben aufzugeben, doch sofort schalt sie sich innerlich für diesen schwachen Gedanken und ermahnte sich, sich zusammenzureißen.
Entschlossen setzte sie ihren Weg fort und versuchte so unauffällig wie möglich zu bleiben. Sie suchte aufmerksam jeden Winkel und jeden Meter der schmalen Stege ab. Mittlerweile gingen die meisten Bürger ihrer Arbeit nach, priesen von Booten aus ihre wenigen Waren an, oder eilten aus diversen anderen Gründen über die Stege. Ceana wich immer wieder einigen Leuten mit fließenden Bewegungen aus, sonst wäre sie das eine oder andere Mal mit jemandem zusammengestoßen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde Ceana immer genervter. Sie wanderte schon eine ganze Weile durch Esgaroth und fand dennoch keine einzige Spur, die auf die Zwerge deuten könnte. In menschlicher Gestalt konnte sich sich auch nicht auf ihren Geruchssinn verlassen, um die anderen zu finden, unter anderem auch, weil die Stadt eben auch ihren eigenen Gestank hatte.
Es schien ihr jedoch unmöglich, dass eine Horde Zwerge nicht aufzufinden schien. In Ceana keimte kurz der Gedanke auf, dass sie die Reisegruppe verpasst haben könnte und diese vielleicht schon gar nicht mehr in der Stadt waren. Andererseits war aber noch nicht so viel Zeit vergangen, als das Thorin und die anderen ihre Reise so schnell fortgesetzt haben könnten, zumal sie glaubte, gehört zu haben, dass die Zwerge sich noch Waffen und Proviant besorgen wollten.
Die Jägerin schnaufte frustriert und überlegte ihre weiteren Schritte, als sie eine vertraute Gestalt hinter der gegenüberliegenden Häuserreihe verschwinden sah. Ceana sprang kurzerhand über zwei Boote auf die andere Wasserseite, eilte der Gestalt hinterher und holte sie nach wenigen Metern zum Glück schon ein.
"Ihr da", sprach sie den dunkelhaarigen Mann an, der sich so hektisch zu ihr umdrehte, als wäre er bei irgendwas ertappt worden. Skeptisch musterte er die Frau vor sich.
"Wer seid Ihr?"
"Das spielt keine Rolle, aber wir sind uns schon einmal begegnet, auch wenn Ihr mich wahrscheinlich nicht erkennt, Bard", entgegnete Ceana ihm und betonte seinen Namen, um aufkommende Zweifel aus dem Weg zu räumen. Ob er ihr Glauben schenkte oder nicht, war ihr aber im Grunde gleich. Bard wurde dadurch noch skeptischer.
"Dann sagt, was wollt Ihr?", fragte er, und versuchte, die Frau vor sich zuzuordnen. Durch die Kapuze konnte er ihr Gesicht nicht ganz erkennen, aber das würde ihm letzten Endes auch nicht helfen, was er natürlich nicht weiß.
"Die Zwerge, die mit Euch unterwegs waren, sagt mir wo sie sind." Es war keine Frage, Ceana wusste, dass die Gruppe mit dem Schützen das Wasser überquert hatte.
"Es ist ziemlich unverschämt, Forderungen zu stellen, ohne sich vorzustellen, und sich stattdessen hinter einer Kapuze zu verstecken", stellte er gereizt klar, doch Ceana ließ sich davon nicht beeinflussen.
"Wie ich schon sagte, wir sind uns schon begegnet. Die Zwerge?"
"Die sind nicht mehr hier", verriet Bard ihr schließlich. "Doch sagt, warum wollt Ihr das wissen?" Er misstraute Ceana und schaute aus einem Reflex heraus kurz über den großen See, eine Bewegung, die Ceana nicht entgangen war.
Sie schaute schnell in die gleiche Richtung wie der Bogenschütze und sah ein Boot mit mehreren Personen über den See fahren. In dem Fall mit mehreren Zwergen, und es war schon ein gutes Stück von Esgaroth entfernt. Ihr Herz setzte für einen kurzen Schlag aus, sie hatte ihre Freunde tatsächlich knapp verpasst.
Ceana fluchte lautstark und machte kurzerhand auf dem Absatz kehrt. Sie überlegte angestrengt was sie nun tun sollte, und ignorierte die überraschten Rufe von Bard, der die Situation in dem Moment nicht einordnen konnte. Sie dachte darüber nach, sich einfach eines der Boote zu nehmen, jedoch hatte sie zu ihrer Schande keine Ahnung, wie man rudert. Schwimmen kam auch nicht in Frage, sie wäre zu langsam und der Weg dafür zu weit.
Ceana drehte sich abrupt zu Bard um, der ihr zügig hinterhergelaufen war. Durch das plötzliche Bremsen der Jägerin, wäre der Schütze beinahe in sie hinein gelaufen und stolperte einen Schritt zurück.
"Was liegt dort am Ufer unterhalb des Berges?", fragte sie aufgebracht, zeigte in Richtung des davon schwimmenden Bootes und überrumpelte Bard damit regelrecht.
"Thal", war seine knappe Antwort und sie legte die Stirn in Falten.
"Wie lange brauche ich auf den Landweg dorthin?"
"Zu Land?", fragte er erstaunt, und sah kurz über den See. "Genau kann ich Euch das nicht sagen, niemand hier nimmt den Landweg nach Thal, aber der Umweg wäre wahrscheinlich zu Pferd nur wenige Stunden, höchstens einen halben Tag länger...wenn man schnell reitet", erklärte er.
Das war alles, was Ceana hören musste. Sie war als Wolf schneller und ausdauernder und würde es wahrscheinlich in kürzerer Zeit schaffen.
Die Jägerin grinste innerlich und machte erneut schnell kehrt, diesmal um Esgaroth zu verlassen. Sie sollte jedoch nur wenige Meter weit kommen, als sie von einer anderen vertrauten Stimme aufgehalten wurde.
"Na, wen haben wir denn hier? Äußerst gewagt von Euch, so ganz allein und in dieser schwächlichen Gestalt."
Ceana schnaufte genervt, verlangsamte ihre Schritte und schaute neben sich, wo der Besitzer dieser spöttischen Worte gerade aus dem Schatten eines Vordaches trat. Worte, die nichts weiter als eine Anspielung sein sollten, und Ceana erfolgreich an empfindlicher Stelle trafen. Sie hätte noch nicht mal hinsehen müssen, um zu wissen, um wen es sich handelte. Ceana knurrte regelrecht.
"Schert Euch in Euren Wald, Elbenprinz!"
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