Kapitel 4

Mittlerweile ist es schon Mittag, die sieben Sonnen stehen hoch am Himmel und heizen alles auf, was sie berühren. Mühsam wische ich mir den Schweiß von der Stirn und sehe, dass es Grace in ihrer roten Drachenschuppenrüstung nicht anders ergeht. Sie hat sich wacker geschlagen, wurde jedoch von einem der Zwillinge besiegt, genauso wie ich. Oakley und Callum kommen aus den südlichen Provinzen. Sie haben dunkle Haut und sind zwei Köpfe größer als ich. Das war auch der Grund meiner Niederlage. Einen größeren Gegner zu Fall zu bringen ist mit meinem kaputten Bein quasi unmöglich. Grace hingegen wurde von Callum an der Stirn getroffen und ist daraufhin zusammengebrochen. Allerdings verwenden beide nicht mehr Kraft als nötig, um ihre Gegner zu Fall zu bringen, weswegen ich ihnen meinen Respekt zolle. Der Kampf zwischen Aria und Caleb war eher weniger spektakulär. Caleb mag zwar intelligent sein, aber nicht besonders begabt im Zweikampf. Als auch Zoey und Amber bereits ein Mal gekämpft haben, hat sich sehr schnell herausgestellt, wer von uns die Überhand hat: Rowan. Dieser steht nun ganz gelassen Blake gegenüber, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Der Gewinner wird die Ehre haben, gegen Silver antreten zu dürfen. "Los, Rowan! Zeig's ihm!", jubelt Grace neben mir, was er mit einem liebevollen Lächeln in ihre Richtung quittiert. Ich hoffe sehr, dass die beiden zueinander finden.

Genauso wie vorhin bei mir zieht Blake seinen Dolch aus dem Futteral seines Gewands und greift Rowan damit an. Dieser weicht -mit weiterhin verschränkten Händen!- unbekümmert aus, bis er den richtigen Moment sieht, um Blake die Waffe aus der Hand zu schlagen. Der Dolch fliegt zur Seite und somit außer Reichweite. Man sieht Blake seine Anspannung an, wie er wütend mit den Zähnen knirscht. Der Prinz schließt die Augen und hebt die Hände. Es dauert einen Moment, bis wir sehen, was er damit bezweckt. Um ihn herum erscheint der rote Schild, welcher nur ganz zart sichtbar ist. Er lässt die Hände wieder sinken. "Na dann zeig mir mal, welches Talent dir deine Familie mit in die Wiege gelegt hat, Bauernjunge!"

Blitzschnell schlägt Rowan zwei Haken, lässt sich fallen und tritt Blake gegen das Knie. Dieser taumelt und sieht Rowan fassungslos an. "Dein Schild ist darauf ausgerichtet, feindliche Magie abzuwehren. Du hast allerdings vergessen, physische Attacken zu bedenken", bellt Rowan und als er seine Hand auf den Schild krachen lässt, entsteht eine so heftige magische Druckwelle, dass Blake zwei Meter nach hinten geworfen wird und mit dem Kopf auf der Matte aufschlägt. Kurz halten wir den Atem an und fangen dann an zu jubeln, als er sich nicht erhebt. Er hat gewonnen! "Rowan! Rowan! Rowan!", hallt es aus unseren neun Mündern, denn wir haben keinen weiteren Verlust zu beklagen.

Silver bedeutet uns, wieder Ruhe einkehren zu lassen. Er schreitet anmutig nach vorne und misst Blakes Puls. "Du hast seine Durchblutung im Gehirn unterbrochen", merkt er ehrfürchtig an und legt dem Prinzen eine Hand auf die Stirn, der kurz darauf wieder erwacht. Schwerfälligen Schrittes taumelt Blake zu uns und wirft jedem einen vernichtenden Blick zu. Silver hat die Robe der Kriegsmagier abgelegt. Unter dieser trägt er ein rotes, eng anliegendes Gewand trägt. Seine Muskeln zeichnen sich deutlich unter dem Stoff ab. Um die Hüfte trägt er einen schwarzen Gürtel und um den Oberkörper eine schwarze Scherpe. Beide zeigen das Zeichen der Kriegsmagier: eine Hand, über der eine magische Kugel schwebt. "Ich kenne deine Familie gut, Rowan. Du bringst das gleiche magische Talent mit, wie dein Bruder damals. Ich bin mir sicher, dass du mich nicht enttäuschen wirst." Über Rowans Miene huscht ein Schatten, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann führt er die Hand ans Herz und verbeugt sich kurz. "Es ist mir eine Ehre, gegen euch kämpfen zu dürfen, Silver." Der Kriegsmagier beugt den Kopf und nimmt ein paar Meter von Rowan Position. "Zeig mir, wie weit deine magischen Fähigkeiten sind. Zeig mir die Kraft deines Stroms!"

Rowan lässt einen euphorischen Schrei erklingen und schickt eine Feuersalve gegen Silver, währenddessen er hinter ihr nach vorne rennt. Die Salve trifft, wie erwartet, auf den Schild und erlischt. Doch womit Silver wohl nicht gerechnet hat, ist, dass Rowan hinter dem Feuer hervorspringt und ihm einen Dolch in die Milz treibt. Erschrocken zucken wir zusammen und sehen dabei zu, wie Rowan die blau glimmende Klinge aus Silvers Körper zieht. Amber zieht scharf die Luft ein. "Seht ihr das blaue Glimmen? Das ist nicht bloß irgendein Dolch. Dieser Dolch wurde von einem Alchemisten präpariert." Sie hat recht. Die silberne Klinge gibt ein stetiges blaues Glimmen von sich, fast so wie die Kristalle, welche viele Magier um den Hals tragen. Das muss auch der Grund sein, warum die Waffe durch den magischen Schild gedrungen ist. Silver war einfach nicht darauf eingestellt, dass der Dolch magisch verstärkt ist.

"Ihr seid besiegt. Vielleicht ist es an der Zeit, Eure Robe abzulegen." Rowan wischt das Blut an seinem Hemdärmel ab und macht auf dem Absatz kehrt. Ächzend erhebt Silver sich, legt die Hand auf seine Milz und schließt kurz die Augen. "Magische Verletzungen sind viel schwerer zu heilen. Stellt euch mal vor, was passiert wäre, wenn das Gift einer Pfeilschwinge an der Klinge gewesen wäre! Da hätte ihm wohl nur Mildred helfen können", betont Aria schockiert. Entgegen meiner Erwartung schüttelt Grace den Kopf. "Nein. Die großen Drei beherrschen alle den fünften Abschnitt ihres Stroms. Er hätte sich heilen können. Nur nicht so schnell und bei weitem nicht so effektiv, wie Mildred es kann." Kurz bevor Rowan bei uns angelangt ist, hat sich Silber von seiner Verletzung erholt. "Dein Bruder war ein ehrenhafter Schüler. Und genauso ist er gestorben: mit Ehre."

Das scheint zu viel für Rowans Gemüt gewesen zu sein. "Ihr habt meinen Bruder auf dem Gewissen! Er hat für euch sein Leben gelassen, ihr Bastard!" Meine Vermutung, dass mehr als nur eine begabte Familie die beiden verbindet, bestätigt sich nun. Nur hatte ich nicht gedacht, dass es um so etwas gehen würde. "Kaidan hat mich in den vierten Abschnitt geführt! Er hat mir gezeigt, wie ich ihn beherrschen kann! Und das ganz ohne eure Akademie besuchen zu müssen, die nichts weiter tut, als den Tod zu verherrlichen!" In Rowans Hand erscheint prompt eine rote magische Kugel, die unaufhörlich pulsiert. "Maru, du sicherst mich!", brüllt Silver augenblicklich unserem Staffelführer entgegen. Dieser nickt, hebt die Hände und schafft einen Schild sowohl um Silver, als auch um uns. Dann greift Silver an. In seiner Hand erscheint ebenfalls eine rote Magiekugel, die er Rowan entgegenschleudert.

Die Explosion ist so gewaltig, dass ich meine Augen zukneifen muss. Die Druckwelle prallt gegen den Schild, was Maru ein Keuchen entlockt, der mittlerweile in unserer Mitte steht. Rowan liegt vor uns auf dem Boden und starrt Silver aus hasserfüllten Augen an, der über ihm thront. Auch den anderen scheint nicht zu entgehen, dass Rowans Gesichtszüge immer wieder unnatürlich entgleisen. "Blake, was tut er da? Du beherrscht doch Magie!", stottert Caleb aufgebracht. Der Prinz runzelt die Stirn. "Ich glaube, Silver versucht, Rowans Muskeln zu lähmen. Aber er scheint mit Magie dagegen zu halten. Was bedeutet... Ihr glaubt es nicht, dass ist Wahnsinn! Der Kerl beherrscht mindestens zwei Wege!"

Ich weiß nicht wieso, doch so etwas wie Ehrfurcht überkommt mich. Rowans Gefühle treiben ihn dazu an, sich Silver in den Weg zu stellen, ihm die Stirn zu bieten! "Der vierte Abschnitt. Maru, was hat es damit auf sich?" Mein Blick gleitet fragend zu unserem Staffelführer, der die beiden Kontrahenten aufmerksam beobachtet. "Er wird nicht von vielen Magiern beherrscht und von noch weniger in so jungen Jahren. Sobald du diesen Abschnitt deines Stroms gemeistert hast, bist du fähig, alle drei Wege der Magie zu bestreiten, wenn dein Geist und Körper stark genug sind." Ein Raunen geht durch unsere Reihen.

Erneut versucht Rowan seinen magisch verstärkten Dolch in Silvers Haut zu treiben, doch diesmal verhindert Marus Schild sein Vorgehen. Stattdessen entlädt sich eine heftigere Druckwelle als zuvor, die Silver ein paar Meter zurück treibt. Marus Keuchen wird heftiger. "Der Junge ist stark, das muss man ihm lassen. Er raubt mir mehr Energie, als ich gedacht hätte. Wenn das so weitergeht, brauche ich bald die Reserven meines Drachen." Calebs Jammern steigert sich abermals. "Aber du bist doch ein Reiter, du musst uns beschützen können!" Maru lässt ein missbiligendes Geräusch hören. "Calcax und ich waren die ganze Nacht auf Patrouillenflug. Weder mein Drache noch ich waren bis jetzt in der Lage, uns auszuruhen. Magie hat ihren Preis. Und je höher der Abschnitt, desto höher ist auch das, was du dafür geben musst."

Plötzlich rennen Mildred und Keaton auf uns zu. Unsere Blicke richten sich auf die beiden, welche sich mit Silver in Gedanken auszutauschen scheinen. "Ihr seid nicht würdig, den Namen Großmeister zu tragen, genauso wie ihr diese Robe nicht verdient habt!" Völlig außer sich beschwört Rowan eine Geisterklinge hervor. Sie schimmert wie ein Kristall und wirft Regenbogen zurück, als das Licht der sieben Sonnen sich darin bricht. "Wieso schaltet Silver ihn nicht einfach aus? Er hat doch bestimmt mehr drauf, als das!", stottert Caleb, dem vor Angst jedwede Farbe aus dem Gesicht gewichen ist. "Weil er nicht kann... Mildred, beruhige ihn endlich, verdammt!", ruft Maru, der mittlerweile zittert. Er erhält schon seit über zehn Minuten den Schild aufrecht, was sichtbar an seinen Kräften zerrt. "Selbst wenn wir keine Schutzmagier wären, könnte Silver ihn nicht ausschalten. Das hat er geschworen."

Die Meisterin der Heilung wirft Keaton einen vielsagenden Blick zu. Dann richtet sie ihre ganze Konzentration auf Rowan, der anfängt sich zu winden wie ein verletztes Tier. Seine Magie versiegt augenblicklich. Maru schließt die Augen und legt die Stirn in Falten. "Sie zwingt sein Herz, langsamer zu schlagen und bremst die heftigen Atemzüge. Aber sein Geist beruhigt sich einfach nicht." Mit schwerfälligen Schritten bewegt sich Silver auf den jungen Mann zu. "Keaton, gib ihm einen Sinnesbetäuber", presst er angestrengt hervor. Die Druckwelle scheint ihn ernsthaft verletzt zu haben.

Der Meister der Alchemie nickt, lässt sich auf ein Knie sinken und zieht eine Phiole aus seinem Gewand hervor. Die zähe Flüssigkeit ändert von Augenblick zu Augenblick immer wieder ihre Farbe. "Komm schon, mein Junge. Du brauchst das jetzt", spricht er liebevoll, aber nachdrücklich. Dann trinkt Rowan den Inhalt auch schon aus. "So ist gut. Dir wird es gleich besser gehen." Und tatsächlich, Rowans Bewegungen werden immer schwerfälliger.

"Ich habe Kaidan geliebt wie meinen eigenen Bruder. Deswegen will ich, dass du weißt, was wirklich damals geschah." Silver öffnet seinen Geist für uns. Eine Erinnerung, so klar und deutlich, dass man denkt, man erlebt das Geschehene selbst, spielt sich in meinem Kopf ab. Kaidans Körper ist vom Leib eines Drachen eingeklemmt. Mühevoll versucht Silver, den roten Leib zu bewegen, die Schuppen zu durchschneiden, doch er ist bereits zu schwach. Tränen brennen heiß in seinen Augen, immer wieder lässt er seine Lebensenergie in Kaidans geschundenen Leib fließen, doch sie verweilt nicht dort. Sein Körper ist zermalmt, die Wunden so schwer, dass nicht einmal Mildred ihn hätte heilen können. Schreiend vor Verzweiflung bricht er neben seinem Waffenbruder zusammen. Kaidans grüne Augen funkeln ihn liebevoll an. "Du musst mich gehen lassen, Silver. Bring diese Schlacht zu Ende. Gewinne sie." Silver erwidert aufgebracht seinen Blick, ohne die Kraft zu haben, seine Tränen zu verstecken. Er legt dem jungen Kriegsmagier eine Hand auf den Arm, versucht so gut es geht, seine Schmerzen zu lindern, bis er die Schwelle des Todes überschritten hat. "Versprich mir, auf Rowan aufzupassen. Er wird mal ein großer Magier, das weiß ich", flüstert Kaidan angestrengt. Silver nickt. "Ich verspreche es."

Und dann muss er mit ansehen, wie sein bester Freund, sein Wegggefährte und Waffenbruder, seinen Platz in den Hallen der Toten einnimmt. Er ist wie gelähmt, seine Tränen wollen nicht versiegen und ein unfassbarer Schmerz scheint sein Innerstes zu zerreißen. Eine Frau lässt sich neben ihm nieder. Sie legt ihm zärtlich eine Hand auf die Schulter. "Was ist passiert?" Mühsam versucht er, sich zu beruhigen. "Er hat mich gerettet. Als der Drache hinabfiel, da hat er mich beiseite geschubst. Kaidan wusste, dass mein magischer Schild mir sonst jede Energie geraubt hätte, die ich übrig habe."

Als sich die Erinnerung verflüchtigt, ist Silver auf den Knien und hält sich mit verzerrtem Gesicht die Schläfen. "Ich habe alles getan, was ich konnte, um ihn zu retten. Verzeih mir, dass ich zu schwach war", flüstert er mit brüchiger Stimme. Auf Rowans Gesicht glänzen Tränen, ehe er sich schwerfällig in Silvers Arme wirft. "Ich vergebe Euch. Kaidan hätte es nicht anders gewollt."

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