Kapitel 1
Der fahle Lichtstrahl der Straßenlaterne neben dem Friedhof schien auf das Grab des Brillenträgers.
Auf dem Grab lagen ein paar vertrocknete Blätter, die der Wind von den Bäumen gefegt hatte. Sie kratzen an der harten steinernen Platte, welche die Überreste des Mannes und die Oberfläche voneinander trennte.
Es herrschte Totenstille auf dem gesamten Friedhof. Schließlich war es nun fast Mitternacht. Niemand war dumm genug um Mitternacht den Toten einen Besuch ab zu statten, dem seine Psyche lieb war.
Genau deswegen war Mikey nun hier.
Er hielt vor den grauen Mauern an und stellte den Motor seines Motorrades ab. Der Lichtkegel, welcher bis eben noch die Mauer ihm gegenüber erhellt hatte, erlosch keine Sekunde später ebenso.
Aufgrund der kühlen Herbstluft waren seine Ohren rötlich angelaufen. Der Blondschopf versenkte seine Nase daher etwas tiefer in dem schwarzen Schal, bevor er von seinem Gefährt ab stieg.
Sein Handy lag in seinem weißen Rucksack, welcher einen starken Kontrast zu seinen schwarzen Klamotten darstellte. Er hatte es noch aus geschalten bevor er los gefahren war.
Die von der Fahrt zerzausten Haare des Blondschopfes wehten leicht im kühlen Herbstwind als er an der mit Efeu bewachsenen Mauer entlang lief, die selbst ihm nur bis zur Schulter reichte.
Neben dem Rascheln der Blätter und den Kratzgeräuschen, welche diese an den Gräbern hervor riefen, waren nur seine eigenen Schritte zu hören.
Mit einem quietschen öffnete sich die viel zu kleine Gartentür, die die Lebenden von den Toten trennte und bereits zu rosten begonnen hatte.
Hinter dem Blondschopf fiel die Tür wie von Geisterhand wieder mit einem Klirren in ihr Schloss.
Für eine Sekunde lagen die Tiefschwarzen Augen des Erwachsenen, welche - aufgrund ihrer dunklen Farbe - beinahe in Konkurrenz mit seiner Umgebung standen, auf dem mit Schnörkeln verzierten Gartentürchen.
Innerlich ausatmend hob der 26 jährige seinen Blick wieder an und wandte seine Aufmerksamkeit auf den mit Kies ausgelegten Pfad zurück, welchen er ursprünglich gehen wollte.
Die Kieselsteine knirschten unter seinem Gewicht als er an den Gräbern entlang schritt.
Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Grabsteine schweifen und las vereinzelt die Namen, die auf ihnen eingraviert waren.
In regelmäßigen Abständen erhellte der dunkle Lichtschein einer alten Straßenlaterne einen Teil seines Weges, bevor sich seine Umgebung wieder in Dunkelheit hüllte.
Mikey versenkte seine eisigen Hände in den Taschen seines viel zu großen Hoodies.
Neben den vertrockneten Blättern, dem Efeu, welches sich bereits über einige Gräber legte, sprossen auch ab und an einige Grashalme unter dem Kies hervor.
Alles in allem war der Friedhof in einem miserablen Zustand. Selbst die wenigen Blumen auf einigen der Gräber waren vertrocknet oder von dem Wind auf den Weg getragen und unter dem Kies halb begraben worden.
Mikey blieb schließlich vor dem Grabstein der Brillenschlange stehen und blickte ausdruckslos auf den Schriftzug und anschließend auf die Platte hinab.
"Eine Beziehung auf rein sexueller Basis wie ich es mit Draken vor hatte, hm?" Mikey murmelte diese Worte gegen den Schal, welcher sie nach außen hin beinahe unverständlich machte.
'Mir ist es egal aus welchen Gründen du das willst. Nur dieses Mal wirklich ohne Gefühle.', gingen ihm die Worte des Brillenträgers durch den Kopf.
"Du hast mir versprochen mir zu helfen meinen Traum zu verwirklichen."
Selbst heute noch, 8 Jahre nach seinem Tod, besuchte Mikey regelmäßig das Grab des Brillenträgers und erinnerte sich an die Schmerzen. Die Schmerzen, welche ihn wieder wie ein normaler Mensch fühlen lassen hatten.
Seit dem Tod des jüngeren hatte er dies kein weiteres Mal mehr erleben können. Weder die Schmerzen, noch das Gefühl von Normalität.
"Und dann stirbst du einfach."
Mikey nahm die Hände wieder aus den Taschen seines Hoddies. Noch immer lag sein Blick ausdruckslos auf dem grauen Grabstein.
Einige Augenblicke später ging er vor dem Grab in die Hocke und legte seinen Rucksack auf der eisigen Platte ab.
Mit einem viel zu lauten Geräusch öffnete sich der Reisverschluss der Tasche nur schwer, sodass er mehrmals an jenem ziehen musste, bis er sie auf bekam.
Anschließend legte sich wieder eine unangenehme Stille über den alten Friedhof.
"Ich habe dir gesagt, dass ich es nicht alleine kontrollieren kann."
Der Blondschopf versenkte seine Augen und durchkramte derweil den Rucksack.
"Während du gelebt hast, hat es funktioniert, aber nicht weil ich es damals konnte. Ich konnte es nie und schon gar nicht alleine."
Der Blondschopf zog ein Messer aus dem Rucksack, während seine Stimme immer emotionaler wurde.
"Hast du gehört?! Ich kann es nicht alleine!"
Erneut legte sich Stille über den Friedhof nachdem Mikey seine Gefühle gegen den reglosen Grabstein geschrien hatte.
Die Augen des Blondschopfes wurden glasig, sodass er nicht einmal mehr den Schriftzug lesen konnte.
"Ich weiß nicht weiter." Er biss sich auf die Lippe und umschloss den Griff des Messers.
"Ich kann es nicht mehr unterdrücken. Allein kann ich es nicht einmal gegen mich selbst lenken."
Die Augen des Blondschopfes fielen auf die Klinge.
"Du hast das alles gewusst und trotzdem hast du mich allein gelassen."
Mikey fiel letzten Endes vor dem Grab auf die Knie. Der Kies knirschte und die kleinen Spitzen der Steine bohrten sich durch den feinen Stoff seiner weiten schwarzen Hose.
"Warum? Ich verstehe es einfach nicht."
Er ballte seine Hände zu Fäusten.
"Wenn du Ken-chin wirklich beschützen hättest wollen, hättest du mich umbringen sollen."
Er krümmte seinen Rücken und hielt den Griff des Messers so fest wie nur irgend möglich.
"Hast du gehört?! Du hättest mich umbringen sollen und nicht versuchen Sanzu zu töten oder was auch immer du vor gehabt hattest!"
Agitiert zog der Blondschopf seinen Mantel aus und riss anschließend an den Ärmeln seines Hoddies, bis er sie so weit hoch gekrämpelt hatte, dass sein linker Unterarm ganz zu sehen war.
Auf jenem befanden sich unzählige Schnitte und obgleich sie so tief waren wie die Narben, die Kisakis Messer auf seiner Haut hinterlassen hätte, hatten sie ihm in keinster Weise geholfen den Schmerz zu rekonstruieren.
Mit dem Messer durch trennte er seine Haut. Immer und immer wieder. Außenstehende würden ihn als verrückt betiteln. Vielleicht auch als Selbstmordgefährdet oder gar sofort die Polizei informieren.
Genau deswegen war er um Mitternacht hier.
Nachdem selbst der tiefste Schnitt die Dunkelheit nicht verjagt, sondern nur mehr angefacht hatte, kullerten mehrere Tränen über das Gesicht des Blondhaarigen. Sein Körper begann zu zucken als er zu schluchzen an fing.
Der Blondschopf umklammerte den Griff des Messers als würde sein Leben davon abhängig sein, ehe er sich geradewegs nach vorn auf das Grab fallen ließ.
"Wie konntest du mich einfach so zurück lassen?! Warum müssen alle Leute sterben, die mir nahe stehen?! Warum müssen alle sterben, die mir helfen wollen?! Warum?! Was habe ich getan, um das zu verdienen?!"
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