22. Kapitel: Licht in Zeiten der Dunkelheit
Gunnar:
Sanft strich mir der Wind übers Gesicht und die Augenlider, während ich mich aufs Atmen konzentrierte. Zuerst tief ein, dann die Luft eine Weile lang in der Brust behalten und erst danach wieder aus. Das wiederholte ich einige Male, bis ich erfreut feststellte, wie sich mein Herzschlag immer weiter verlangsamte. Ein schmales Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich mir vorstellte, wie ich auf einer erhörten Position stand, meinen Bogen zückte und einen Pfeil an die Sehne legte. Anschließend zielte ich gedanklich auf eine relativ kleine Zielscheibe, die gut 400 Meter entfernt stand und wartete noch kurz. Ich wartete und hörte auf meinen Puls, bevor ich den Pfeil schließlich losließ, genau zwischen zweien meiner Herzschläge. Leise schmunzelnd öffnete ich die Augen kurz darauf wieder, wobei ich mir ganz sicher war, dass dieser Schuss die Mitte des Ziels sauber durchschlagen hätte. Das heißt, sofern das Ganze nicht nur eines meiner kleinen Gedankenspiele gewesen wäre. Während ich meinen Blick über das Dorf der Flügelmädchen, was sich vor mir erstreckte, schweifen ließ, hörte ich auf einmal Schritte hinter mir, sowie ein leises Fluchen. Ein wenig irritiert darüber, dass es Venatrix war, die da fluchte, drehte ich mich in ihre Richtung und staunte nicht schlecht. Immerhin war ihre komplette Rüstung von oben bis unten mit einer Schicht Schlamm bedeckt und dazu hatte sie noch einige blaue Flecken im Gesicht.
„Was ist dir denn passiert?", fragte ich erstaunt. „Na ja, weißt du noch, als ich zu dir sagte, dass ich mal nachsehen wollte, was das für eine große Grube hinter dem Dorf ist, die wir bei der Landung gesehen haben?", stellte sie einfach ihre Gegenfrage. „Ja?", gab ich eher fragend zurück und hob eine Augenbraue. „Na ja, wie sich herausgestellt hat, war das eine Wildschweingrube und zwei der Flügelmädchen dort hatten gerade Lust auf eine Runde... Und natürlich haben wir die der Fairness halber mit der Regel gespielt, dass sie beide gleichzeitig gegen mich antreten...", erklärte Venatrix schließlich. „Mhm, verstehe... Also normalerweise würde ich jetzt ja fragen, wie es ausging, aber das kann ich mir wohl sparen...", entgegnete ich und sah kurz nochmal auf ihre völlig verdreckte Rüstung. „Ja... Sag mal hast du zufällig gerade einen Lappen? Ein Eimer Wasser geht vermutlich auch...", erkundigte sie sich und blickte dabei ebenfalls an sich herab. „Nein, aber in der Hütte gibt es ja eine Badewanne. Ich denke mal, du kannst da so in der Rüstung reinspringen und sie dann gleich mitwaschen", schlug ich vor und lächelte schmal. „Vielleicht... Aber wehe du kommst rein!", verwarnte sie mich mit scharfer Stimme. Dabei ging sie bereits in Richtung der Hütte, in der wir von den Flügelmädchen für die Dauer unseres Besuch untergebracht worden waren. „Sag mal, was denkst du denn von mir?", gab ich nur zurück und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Dennoch blieb ich natürlich auf der kleinen Veranda vor der Hütte sitzen und fuhr noch eine Weile lang mit meinen Atemübungen fort. Schließlich wurde es mir aber doch ein wenig zu eintönig, weshalb ich aufstand und ins Innere unserer bescheidenen Behausung trat. Wie bereits erwartet war die Tür zum Badezimmer verschlossen und nach den Geräuschen zu urteilen, war Venatrix gerade dabei ihre Rüstung abzuwaschen. Ich kümmerte mich jedoch nicht weiter darum, stattdessen ging ich kurz in mein Schlafzimmer und holte meine Ausrüstung, ehe ich mich mit ihr an den Tisch im Hauptraum setzte. Auf ihm legte ich Köcher samt Pfeile vorerst ab, während ich den Bogen und einen geölten Lappen in die Hand nahm, um das Holz meiner Waffe damit ein wenig zu pflegen. Mit dieser Behandlung fuhr ich fort, bis der stabile, hellbraune Holz-Körper durch das Öl ein wenig glänzte, dann erst gab ich mich zufrieden. Nachdem ich den Bogen vorsichtig auf den Tisch gelegt hatte, nahm ich mir einen der Pfeile aus meinem Köcher und begann damit dessen Schaft ebenfalls zu ölen. Ich war so tief in meine Arbeit vertieft, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis ich bemerkte, wie Venatrix hinter mir die Tür zum Badezimmer wieder öffnete und in den Raum trat. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ich hiernach ein paar Übungen zur besseren Konzentration machen sollte, um meine allumfassende Wachsamkeit zurückzuerlangen.
„Hast du deine Ausrüstung nicht erst vor zwei Tagen gepflegt?", fragte Venatrix ein wenig irritiert. „Ja, das habe ich in der Tat", antwortete ich trocken, ohne von meiner Arbeit aufzusehen. „Und meinst du nicht, dass sie es dann noch etwas länger ausgehalten hätte, bis du dich ihr erneut widmest?", hakte sie nach. „Genau deshalb bist du keine Scharfschützin. Für so jemanden reicht es nämlich nicht, seine Waffe einfach nur gut zu kennen, er muss sie als Teil von sich selbst behandeln und jederzeit in bestem Zustand halten. Denn nur ein Krümmel Dreck reicht oft schon aus, um die Flugbahn eines Pfeils minimal zu verändern, was sich auf ein paar hundert Meter durchaus bemerkbar machen kann. Aus diesem Grund nutzen wir Scharfschützen jede nur mögliche Gelegenheit, um unsere Ausrüstung zu reinigen", erklärte ich ihr und drehte mich anschließend zu ihr um. Ganz kurz erschreckte ich mich dabei, denn natürlich hatte sie sich nach ihrem Bad nur ein Tuch um den Körper gewickelt, was mich kurz aus dem Konzept brachte. „OK... Mal eine einfache Frage, wann hast du zuletzt einfach mal abgeschaltet und ein wenig Spaß gehabt?", erkundigte sich Venatrix daraufhin und sah mich etwas besorgt an, was ich nicht richtig versehen konnte. „Ich weiß nicht, vielleicht irgendwann als ich noch im Seelenreich gelebt habe", entgegnete ich wahrheitsgemäß. „Aber... Das ist inzwischen bestimmt acht Jahre her", gab Venatrix fast sprachlos zurück. „Kann sein", erwiderte ich nur schulterzuckend. „Und wie... Wie hast du das nur solange ausgehalten? Also all deine persönlichen Bedürfnisse hintenanzustellen und immer nur davon auszugehen, dass alles in deiner Nähe voller Gefahren ist, meine ich?", fragte sie scheinbar völlig schockiert.
„Ich habe es solange geschafft, weil ich keine andere Wahl hatte. Denn bis du, Rowin und die anderen mich gefunden habt, musste ich jeden Tag seit meiner Verbannung allein in der Wildnis leben. Immer umgeben von wilden Drachen, Tieren und wenig freundlich gesonnenen Menschen. Wenn ich da auch nur für ein paar Sekunden unachtsam war, dann hätte ich sterben können", antwortete ich ihr. „Und wann hast du bitte geschlafen?", wollte sie nun völlig geschockt wissen. „Immer dann, wenn sich gerade eine passende Gelegenheit ergab", erwiderte ich nur. „Na schön... Du weißt aber schon, dass du jetzt nicht mehr jederzeit in Gefahr bist und du dich gelegentlich auch etwas entspannen kannst?", hakte sie vorsichtig nach. „Hm, entspannen...", murmelte ich leise, „inzwischen weiß ich glaube ich nicht einmal mehr, wie genau das geht." Ein leises Stöhnen war von Venatrix zu hören, während sie angespannt nachzudenken schien. Ich drehte mich derweil wieder um und fuhr damit fort meine Pfeile zu pflegen. „Also gut, dann ist es beschlossen", meinte sie schließlich und ging scheinbar in Richtung ihres Zimmers. „Was ist beschlossen?", hakte ich nun ein wenig verwirrt nach. „Ganz einfach, dass ich mich jetzt umziehe und dir dann zeige, was ich immer mache, wenn ich entspannen will. Keine Ahnung, vielleicht es dir ja auch", entgegnete sie, während sie schon durch die Tür war. Ich derweil saß nur wie vom Donner gerührt auf dem Stuhl, da gerade das Eine geschehen war, was mir bereits seit Jahren nicht mehr passiert war. Für einen Moment hatte ich meine Fassung vollkommen verloren.
Terek:
„Geht es dir jetzt ein wenig besser?", fragte ich Minden, als wir uns etwas von der Trauerfeier für Liv und Eira entfernten. „Ich denke schon", antwortete sie und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. „Danke, dass du mir Gesellschaft leistest", meinte sie dann noch und lächelte ein bisschen. „Kein Problem, aber ich denke mal, dass du auch so nicht allein gewesen wärst. Sicherlich hätte sich eine deiner vielen Glaubensschwestern bereiterklärt, dir in dieser schweren Zeit beizustehen", entgegnete ich und freute mich dabei stumm über ihr Lächeln. Als ich damals meine Mutter verlor, hatte es bedeutend länger gedauert, bis ich mich zumindest ein wenig wieder über etwas freuen konnte. „Ich weiß, aber... irgendwie bin ich froh, dass du bei mir bist und nicht eine meiner Schwestern. Vor allem, weil sie ja vermutlich genauso sehr trauern, wie ich es tue", gab Minden zurück und wandte verlegen den Blick von mir ab. „Ich verstehe schon... Und es freut mich, wenn ich dir helfen kann", erwiderte ich ihr wahrheitsgemäß. Zwar konnte ich es nicht so recht erklären, doch aus irgendeinem Grund ertrug ich es nicht sie traurig zu sehen. Wie gerne hätte ich gewusst, woran das wohl lag. Hatten meine Freunde vielleicht doch Recht damit, dass ich mich ein wenig in sie verguckt hatte? Nein! Bevor ich mir freiwillig deren ganzen Sprüche anhören würde, kämpfte ich doch lieber gegen einen Skrill... Während eines Gewitters!
Sehr viel mehr Gedanken verschwendete ich nicht mehr auf dieses Thema, da ich bemerkt hatte, dass wir beide uns inzwischen ein gutes Stück von der Feier entfernt hatten und auf den nahen Wald zuliefen. „Möchtest du irgendwo hin?", erkundigte ich mich an sie gerichtet. „Ehrlich gesagt, ja. Ich dachte mir, ich gehe zu meinem Lieblingsort hier auf der Insel, dort ist es fast immer schön ruhig, ein idealer Platz zum Nachdenken", antwortete sie. „Soll ich dich dann ab hier allein lassen, damit du in Ruhe deine Gedanken sortieren kannst?", fragte ich höflich. „Nein, wie ich dir vorhin schon sagte, irgendwie tröstet mich deine Anwesenheit, also warum sollte ich jetzt auf einmal Abstand von dir suchen?", fragte sie bloß zurück. „Ich weiß auch nicht, ich dachte einfach nur, da es dein Lieblingsplatz auf der Insel ist, möchtest du ihn unter Umständen nicht einfach so jemand anderem zeigen, was dein gutes Recht wäre", erklärte ich ihr. „Ach so ist das, aber mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe nichts dagegen, dir diesen Ort zu zeigen, immerhin besuchst du diese Insel ja sowie nur selten, also habe ich ihn trotzdem weitgehend für mich allein", meinte sie und grinste dabei schelmisch. „Na gut, dagegen komme ich wohl nicht an", erwiderte ich und konnte mir ein leises Schmunzeln ebenfalls nicht verkneifen. In erster Linie freute ich mich aber, dass es Minden schon soweit gut ging, dass sie wieder Scherze machen konnte. Einige Minten Fußmarsch später kamen wir schließlich bei einer schmalen Klippe an, welche ziemlich genau im Westen der Insel lag. Entsprechend hatten wir nun, da die Dämmerung anbrach, einen wunderbaren Blick auf die untergehende Sonne, welche das Meer feurig schimmern ließ, als bestünde es ganz aus Edelsteinen.
„Wow, das ist...", vor lauter Staunen schaffte ich es noch nicht einmal meinen Satz zu beenden, stattdessen betrachtete ich einfach nur das Farbspiel. „Und dabei kommt das Beste noch", entgegnete Minden leise kichernd und setzte sich auf den Felsvorsprung. Kurz zögerte ich, aber schließlich trat ich zu ihr und setzte mich auf das überraschend glatte Gestein. Zusammen beobachteten wir anschließend, wie sich die Sonne immer weiter dem Horizont entgegen neigte und schließlich im Meer versank, was wirklich für einen wahrhaft unglaublichen Anblick sorgte. Dabei wagte es keiner von uns die Stille zu brechen, es war eine stumme Übereinkunft, aber irgendwie verstanden wir es beide und hielten uns daran. Erst, als die Sonne schon fast nicht mehr zu sehen war und sich langsam nächtliche Dunkelheit über das Inselreich legte, erhob Minden wieder ihre Stimme. „Ich habe diese Stelle hier entdeckt, kurz nachdem zum Flügelmädchen geworden war. Danach bin ich immer hierhergekommen, wenn ich einmal gründlich nachdenken musste, mein Findelkind nicht zur Ruhe kommen wollte, oder ich einfach mal eine kleine Pause brauchte. Wenn ich das jetzt so sage, muss ich gestehen, dass ich eigentlich sogar ziemlich oft herkomme", erzählte sie und lachte leise. „Na ja, jeder hat so seine Mittel und Wege, ein wenig vom Alltag auszuspannen und wieder neue Kraft zu schöpfen", gab ich nur zurück, da ich nicht genau wusste, was ich sonst sagen sollte. „Ja, da hast du wohl Recht", meinte Minden und als ich den Kopf leicht zu ihr drehte, bemerkte ich leicht überrascht, dass auch sie nicht mehr zu dem wundervollen Sonnenuntergang, sondern direkte zu mir blickte.
Bevor ich wirklich verstand, was hier vorging, kamen wir uns auf einmal immer näher und näher, bis der Abstand zwischen unseren Gesichtern auf einmal geringer war, als es mir lieb gewesen wäre. In diesen Moment allerdings platzte plötzlich Mindens Klingenpeitschling wortwörtlich hinein, indem er seinen Kopf nach vorne zwischen unsere streckte und leise quengelte. Augenblicklich zuckten wir beide wieder auseinander und sahen uns kurz verlegen an, ehe Minden den jungen Drachen auf den Schoß nahm, um ein wenig mit ihm zu knuddeln. „Ich glaube, er fühlte sich einfach ein wenig vernachlässigt, nachdem ich die letzten Tage von meiner Trauer abgelenkt wurde", erklärte sie schließlich. „Dann ist ja gut", brachte ich nur hervor und fragte mich, was da eben zwischen uns passiert war. Da Minden aber scheinbar nicht darauf bedacht war, es nochmal anzusprechen, beließ ich es einfach dabei und genoss gemeinsam mit ihr den Rest des Sonnenuntergangs.
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