1. Kapitel: Es geht wieder aufwärts

Astrid:
Seitdem ich Rowin getroffen hatte, waren weitere sechs Monate ins Land gezogen und mein Leben hatte sich schlagartig zum Guten gewandelt. Neben der Tatsache, dass ich endlich mit dem Trinken aufgehört hatte, hatte Rowin mir auch tatkräftig dabei geholfen den Haushalt zu organisieren. Zuerst war mir das peinlich gewesen, immerhin war ich die Besitzerin der Hütte, doch irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt. In dieser Zeit weihte mich mein neuer Freund auch in sein wohl größtes Geheimnis ein. Er war ein Seelenkrieger, also Mitglied, oder besser ehemaliges Mitglied, einer Gemeinschaft, deren Angehörigen sich in Drachen verwandeln konnten. In Rowins Fall war das ein Nachtschatten, aber er konnte außerdem noch die Sprache der Drachen verstehen, was mich am Meisten verwunderte. Erklärt hatte er das damit, dass Seelenkrieger den sogenannten Seelenbund eingehen müssen, um sich verwandeln zu können. Dabei vereinen sie ihre Seele mit der eines Drachen und können sich danach in selbigen verwandeln, zumindest hatte ich es so verstanden. 

Tatsächlich ergänzten Rowin und ich uns trotz unserer Unterschiede ganz gut, denn jeder verfügte über etwas, was der jeweils andere nicht besaß, aber dringend brauchte. So hatte ich eine sichere Bleibe, aber starke emotionale Probleme, die es mir unmöglich machten sie richtig zu führen. Rowin hingegen hatte kein Haus, konnte sich aber gut um eines kümmern und mir helfen aus meinem Loch herauszukommen. Allerdings stellten wir, als es mir wieder ganz gut ging, fest, dass es doch eines gab, was uns beiden fehlte, nämlich Geld. Keiner von uns Beiden hatte großartige Rücklagen, oder einen ehrbaren Beruf, um welche anzulegen. Deshalb beschlossen wir nach etwa einem Monat, es mit dem Aspekt der Ehrlichkeit nicht mehr so genau zu nehmen und etwas anderes auszuprobieren. Für uns beide war es ein unglaubliches Gefühl, als wir feststellten, dass das Einzige, was zwischen uns und einem glücklichen Leben stand, manchmal so zerbrechlich war, wie ein dünnes Holzbrett. 

Man fragt sich jetzt vielleicht, wie wir zwei allein mit unseren Drachen es geschafft haben, solch ein Leben durchzuziehen und das lässt sich ganz einfach beantworten. Wir blieben nämlich nicht lange alleine. Neben Heidrun und ihrem Klingenpeitschling Windfang, nahmen wir auch Aliena mit ihrem Tagschatten Ayla in unser Team auf. Ja, böse Zungen könnten uns wohl zurecht als Diebe bezeichnen, aber wir hielten uns doch an ein paar Grundregeln. Erstens, wir verletzten nie jemanden, es sein denn er hatte es verdient und auch dann nur wenn es unbedingt nötig war. Zweitens, wir stahlen nur von Drachenjägern, die wir alle nicht im Geringsten bemitleideten. Letzterer Aspekt war auch der Grund, weshalb Heidrun und Aliena uns unterstützten, sie beide hatten nämlich noch genug offene Rechnungen mit diesen Jägern. Aufgrund dessen, dass die Drachenjäger und vor allem Johann jedoch nicht gerade sehr schnell vergaßen wer sie bestohlen hatte, zogen wir bald in Hicks altem Stützpunkt ein, der Drachenklippe. Dort würde uns Johann sicherlich nicht vermuten und außerdem wusste er ja selbst nicht genau, wo diese Insel lag.

Jetzt gerade saßen wir alle um den großen Tisch mit der Feuerstelle im Clubhaus und aßen zu Abend. „Als ich mich auf den nördlichen Marktinseln umgehört habe, bin ich wieder über ein Gerücht gestoßen, dass die Drachenjäger einen neuen Außenposten auf der Insel der Schattenflügler aufbauen wollen", berichtete Aliena zwischen zwei Bissen. „Wie oft wollen die es denn noch versuchen, dort etwas aufzubauen", erwiderte ich leicht genervt. Immerhin hatten sie es bereits fünfmal versucht und jedes einzelne Mal hatten wir ihnen ein dicken Strich durch die Rechnung gemacht. „Keine Ahnung, aber unsere Antwort darauf bleibt dieselbe, oder?", erkundigte sich Heidrun. „Allerdings", meinte Rowin, „morgen Nacht ist auch wieder Neumond. Die perfekte Voraussetzung also, für einen Angriff aus dem Hinterhalt." „Stimmt, dann können wir ihre Schiffe versenken und einen großen Teil ihrer Ladung stehlen. Die letzten paar Male waren immerhin einige wirklich wertvolle Stücke dabei", ergänzte Aliena. „Warum ist Johann eigentlich so versessen darauf einen Außenposten genau dort zu errichten?", fragte ich nach einer kleinen Pause in die Runde. Bisher hatten wir uns nie mit dieser Frage beschäftigt, doch ich fand es berechtigt sie einmal zu klären. „Genau weiß ich es auch nicht, aber diese Insel liegt in der Nähe von einigen wichtigen Handelsrouten, die Johann sicherlich gerne unter Kontrolle hätte", vermutete Heidrun. „Vielleicht", gab ich darauf zurück und konzentrierte mich wieder auf das Essen. 

Heute hatte Rowin für uns alle ein paar Hühnerkeulen mit Kartoffeln und Soße gekocht, einmal mehr war ich erstaunt über sein Geschick in diesem Fach. Neben Heidrun war er von uns vieren der Einzige, der wirklich kochen konnte, aber das kümmerte uns nicht weiter. Immerhin hatten beide Spaß dabei und halfen sich von Zeit zu Zeit auch gegenseitig, was meistens die Tage waren, an denen es besonders gut schmeckte. „Hat jemand von euch eigentlich eine Idee wo Ayla hin ist? Ich habe sie nämlich seit Sonnenuntergang nicht mehr gesehen", fragte Aliena plötzlich. Ehrlicherweise schüttelte ich verneinend den Kopf und blickte danach interessiert in die Runde. Heidrun schien genauso ratlos zu sein wie ich, doch Rowin wand leicht verlegen den Blick ab und kratzte sich am Hinterkopf. „Rowin, möchtest du uns etwas sagen?", erkundigte ich mich. „Das muss ich wohl", meinte dieser, „Ayla ist wahrscheinlich mit Ohnezahn irgendwo auf der Insel, wo sie ungestört sind. Ihr müsst wissen, dass im Moment die... ‚Paarungszeit' der Schattendrachen ist, da passiert sowas häufiger als man vielleicht denkt. Ich schlage vor du stellst dich darauf ein, dass sie erst nach Mitternacht wieder hier sind. Oh, und such sie auf keinen Fall! Während dieser Zeit sind die meisten Drachen äußerst reizbar und das Letzte was man als Mensch erleben möchte, ist ein stinkwütender Drache in seiner Paarungszeit." 

Nach dieser Erklärung schwiegen wir alle erstmal, da wir diese Flut an Informationen noch verarbeiten mussten. „Woher weißt du das denn so genau?", fragte Aliena schließlich. „Ganz einfach, Feuerblitz ist, obwohl er ja nur noch in meinem Geist lebt, genauso betroffen von dieser Zeit, was ich automatisch auch merke", antwortete unser Freund. Schmunzelnd dachte ich an den Moment zurück, wo ich Rowin ungläubig angeguckt hatte, als er mir gerade erklärte, dass die Seele des längst verstorbenen Nachtschatten Feuerblitz in seinem Geist weiterlebte. Damals hatte ich ihm selbstverständlich nicht glauben können, aber nachdem ich seine Verwandlung gesehen hatte, änderte sich das. „Verstehe, dann muss der abendliche Rundflug mit Ayla heute wohl ausfallen", meinte Aliena traurig. „Tut mir leid, aber wie schon gesagt, es ist sicherer Ayla und Ohnezahn nicht zu stören, bis sie von selbst zurückkommen", versuchte sich Rowin in ein paar tröstenden Worten. „Wenn du möchtest kannst du stattdessen mit mir und Windfang fliegen", bot Heidrun aus heiterem Himmel an, „wir beide wollten heute sowieso noch eine kleine Runde um die Insel drehen." „Gern", lenkte Aliena ein. Für den Rest des Essens schwiegen wir alle und trennten uns schließlich voneinander. Während Aliena mit Heidrun noch einen kleinen Rundflug unternahm, gingen Rowin und ich schon ins Bett, zumindest vermutete ich das, als ich sah wie er in seine Hütte ging. 

Es war die alte Haupthütte von Hicks, die eigentlich ich nach unserem ersten Plan bewohnen sollte, aber ich brachte das einfach nicht übers Herz. Deshalb bewohnte Rowin sie nun und hatte auch Ohnezahn mehr oder minder bei sich aufgenommen. Ich hatte mich indessen in einer hellblauen Hütte, die mit einem Nadder-Kopf verziert war, eingerichtet. Darin legte ich mich nun ins Bett und versuchte schnell einzuschlafen, was mir natürlich nicht gelang. Stattdessen lag ich unruhig da und drehte mich von Zeit zu Zeit von einer Seite auf die Andere. Als ich es schlussendlich nicht mehr aushielt, stand ich wieder auf, warf mir schnell einen kleinen Umhang über und ging etwas spazieren. Nach einer Weile hielt ich aber bei einer kleinen Klippe und blickte verträumt aufs Meer hinaus. „Kannst du auch nicht schlafen?", fragte Rowins Stimme völlig ohne Vorwarnung hinter mir. „Ja, wie du siehst", antwortete ich ihm. „Wieder die Gedanken an Hicks?", hakte er vorsichtig nach. Ich nickte einfach nur, da es schwierig für mich war, darüber zu sprechen, auch jetzt noch, ein Jahr nach seinem Tod. Generell war Rowin der Einzige aus unserer Gruppe, der von meinem Schlafproblem und den Albträumen, die ich manchmal von Hicks Verlust hatte, wusste. Das lag sicher auch daran, dass er selbst immer mal wieder Albträume von seiner Verbann- und Brandmarkung hatte, wir waren einfach in einer ähnlichen Situation. 

Einige Steinchen knirschten unter den schweren Lederstiefeln des Seelenkriegers, als er neben mich trat, dabei fiel mir auf, dass er trotz der frischen Temperaturen ein Oberteil mit kurzen Ärmeln trug. Soweit ich es wusste, zog er bei seinen nächtlichen Ausflügen solche Kleidung an, da er es genoss die kühle Nachtluftauf seiner Haut zu spüren. Außerdem war seine Haut durch den Seelenbund anders, als die eines Menschen, wodurch ihm die Kälte weniger ausmachte. Genau wie die Schuppen eines Drachen war seine Haut nämlich dazu in der Lage unangenehme Temperaturen außen und gleichzeitig die eigene Körpertemperatur drinnen zu halten. „Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte Rowin nach einer Weile. „Nein", antwortete ich schlicht, „höchstens indem du das Thema heute Abend nicht mehr ansprichst." „Alles klar", gab er zurück. Schweigend standen wir also nebeneinander und betrachteten den Mond, der über dem Ozean hinwegschien. 

„Wie steht es eigentlich zwischen dir und Heidrun?", fragte ich plötzlich, um auf andere Gedanken zu kommen. Davon einmal abgesehen interessierte es mich allerdings tatsächlich, immerhin war mir schon vor Monaten aufgefallen wie er sie manchmal ansah. Bei dieser Frage wendete Rowin auf der Stelle das Gesicht von mir ab, trotzdem konnte ich erkennen, dass sich seine Wangen leicht rötlich verfärbt hatten. „Ich... ich weiß nicht was du meinst", versuchte er es abzustreiten. „Komm schon ich merke doch, wie du sie ansiehst", konterte ich, „ganz wie ein halb verdursteter Wikinger ein Fass Met ansehen würde, welches eine Handbreite außerhalb seiner Reichweite steht." „Das denkst du dir doch nur aus...", versuchte Rowin noch eine dürftige Verteidigung, aber es gelang ihm nicht wirklich. „Kannst du endlich mal damit aufhören und anfangen dir deine Gefühle einzustehen?", fragte ich leicht genervt. „Du klingst ja schon fast wie Feuerblitz", gab er leicht giftig zurück. „Aha, dann stimmt es also, dass du ein Auge auf Heidrun geworfen hast", meinte ich triumphierend. 

Was Rowin nicht wusste, war das Heidrun mir einmal anvertraut hatte, dass sie seine Nähe irgendwie angenehm fand, sich das aber nicht erklären konnte. In diesem Moment hatte ich erkannt, wie gut die Beiden doch zusammenpassen würden, zumindest wenn sie endlich mal genauer über ihre Gefühle nachdenken würden. „Ja", stöhnte Rowin, „ja verdammt nochmal! Bist du jetzt zufrieden?" Seine Reaktion brachte mich schlagartig zum Lächeln, irgendwie war es schon niedlich, wenn er sich so aufregte. „Komm schon Rowin", versuchte ich ihn zu beruhigen, „ich will doch nur, dass du dir über deine eigenen Gefühle im Klaren bist." „Also jetzt klingst du wirklich wie Feuerblitz", kommentierte er. „Ach, tatsächlich? Ich meine er ist ein Nachtchatten?", erkundigte ich mich lachend. „Schön, die Sprachen sind verschieden, aber inhaltlich sagt ihr genau dasselbe, fast wortwörtlich", erwiderte Rowin. „Vielleicht weil wir Recht haben?", mutmaßte ich und rang ihm damit ein leises Stöhnen ab. „Vielleicht...", seufzte Rowin entrüstet. 

„Also was willst du jetzt machen?", hakte ich nach. „Keine Ahnung", gab er zurück, „über solche Dinge habe ich bisher noch nie nachgedacht." „Warte, heißt das, du warst noch nie in deinem Leben verliebt?", fragte ich überrascht. „Ja, willst du mir das jetzt mein Leben lang vorhalten?", erkundigte Rowin sich genervt. „Nein, aber vielleicht solltest du Heidrun ja mal sagen, was du für sie empfindest", schlug ich vor. „Ach, ich bin bei schwierigen Dingen nicht so gut mit Worten", meinte Rowin verlegen. „So leicht kommst du mir nicht davon", erwiderte ich, als er sich bereits wieder abwenden wollte, „es gibt viele Wege Heidrun deine Gefühle zu gestehen. Zum Beispiel mit Blumen, oder einem kleinen Gedicht." „Schön, reicht es dir, wenn ich sage, dass ich darüber nachdenken werde?", fragte er, um endlich aus dieser Situation herauszukommen. „Das wäre zumindest ein Anfang, also, ja das reicht mir vorerst", beschloss ich ihn erstmal vom Haken zu lassen. „Herzlichen Dank", murmelte Rowin, „guten Nacht noch." „Willst du mich etwa einfach so hier allein zurücklassen?", erkundigte ich mich gespielt erschrocken. „Ja, immerhin gibt es auf dieser Insel nicht besonders viele Gefahren und selbst wenn, bist du eine gute Kriegerin. Daher muss man sich um deine Sicherheit meiner Meinung nach nicht besonders viele Sorgen machen", erklärte er lächelnd, bevor er sich zum Gehen wandte. „Stimmt, da war ja was", gab ich ebenso grinsend zurück, „dir auch noch eine gute Nacht." Rowins Reaktion darauf war ein kurzes Winken mit der rechten Hand, ehe er im an der Klippe angrenzenden Wald verschwand. 

Ein leises Kichern verließ meine Kehle, als ich Rowin nachblickte. Bei unseren Einsätzen verkörperte er meist den großen, starken Krieger, den die Drachenjäger auch fürchten, aber hier konnte er manchmal ziemlich verlegen und schüchtern sein. Außerdem hob ein Gespräch mit Rowin so gut wie immer meine Stimmung an, was mir schon oft weitergeholfen hatte. So betrachtete ich noch ein Weilchen den Mond, sowie auch seine Spiegelung im Meer, bevor ich zurück zu meiner Hütte ging und endlich einschlafen konnte. Albträume von Hicks und seinem Tod hatte ich ebenfalls nicht, wodurch ich seelenruhig vor mich hin schlummern konnte.

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