Die Mordanklage (Teil 2)
Grobian zog sich wieder ein Stück zurück, als Haudrauf eine Axt ergriff, sich den Teenagern zuwendete und lauthals verkündete: „Meine Geduld ist abgelaufen!". Sogleich zuckten alle Verdächtigen zusammen. „Wa ... Was hast du mit der Axt vor?", wimmerte Fischbein eingeschüchtert. „Wenn der Täter sich nicht zu erkennen geben will, dann soll er seine Schandtat mit sich ins Grab nehmen", verkündete er seinen Entschluss. „Aber du weißt doch gar nicht wer es war!", gab Astrid zu bedenken. „Guter Einwand. Daher sollte der Mörder jetzt auch lieber gestehen, wenn er erstens nicht sterben und zweitens seine Freunde nicht mit sich ins Verderben reißen möchte", fuhr der Chef fort. Sogleich starrten alle Anwesenden mit großen, schockierten Augen zu dem rothaarigen Mann. Es war klar, dass Hicks Haudraufs Ein und Alles gewesen war und dem Oberhaupt nun nichts mehr geblieben war, aber so eine drastische Maßnahme fanden alle übertrieben. Die Angeklagten zitterten wortwörtlich um ihr Leben. „Will jemand gestehen?", fragte Haudrauf und führte die Klinge seiner Axt nacheinander jedem der Teenager so dicht an den Hals, dass diese das kalte Eisen förmlich spüren konnten. Dann trat Haudrauf einen Schritt zurück und beobachtete die Drachenreiter. Fischbein wimmerte und zitterte, Rotzbakke hatte panische Angst, die Zwillinge hatten ausnahmsweise mal aufgehört sich zu streiten und hielten sich stattdessen gegenseitig an den Händen, Astrid saß einfach ruhig da und versuchte ihre Tränen der Trauer unter Kontrolle zu kriegen, da sie offenbar nicht weinend sterben wollte. Doch niemand von ihnen sagte ein Wort. Es war totenstill in der Halle. „Keiner? ... Schön, wer will als Erster sterben?", meinte Haudrauf bald. Schon näherte er sich erneut mit der Axt.
„Halt! Ich gestehe! Ich war es", schrie da plötzlich jemand. Haudrauf legte sicherheitshalber seine Axt weg, da er nicht wusste, ob er sich sonst beherrschen könnte. Gerade hatte er nur geblufft. Natürlich hätte er keinen der Verdächtigen umgebracht! Aber es war die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, die Wahrheit zu erfahren. „Du hast meinen Sohn ermordet!?", stellte Haudrauf fest. „Ich wollte es nicht, das musst du mir glauben! Es war ein Versehen!", wimmerte Rotzbakke. „Ein Versehen?", war das Oberhaupt nicht überzeugt. „Ja, ich ... Ich wollte Hicks um eine Revanche bitten. Ich wollte, dass er mit mir kämpft. Ganz fair. Ich wollte noch eine Chance, um meine Ehre wiederherzustellen. Also bin ich zu ihm. Kurz bevor wir zur Akademie sollten, wo sich alle unsere Drachen nach dem Flug ausgeruht haben. Ich bin zu ihm und habe ihn um ein faires Duell gebeten, aber er hat abgelehnt. Er meinte, dass er nicht nochmal gegen mich antreten würde. Ich habe mir gedacht, dass ich ihn dazu bringen könnte, indem ich ihn provoziere. Also habe ich ihn fast eine halbe Stunde lang provoziert und beleidigt. Doch es hat alles nichts genützt, Hicks hat sich einfach nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er saß ganz gelassen an seinem Tisch und hat einfach weiter an diesem blöden Schwert gearbeitet. Ich hab mir so viel Mühe gegeben, ihn zu einem Kampf zu überreden, aber es war zwecklos. Als Hicks dann aufgefallen ist, wie spät es war, wollte er an mir vorbei. Ich ... Ich wollte ihn nicht gehen lassen, bevor ich meinen Willen erreicht hätte, daher habe ich ihn geschubst. Ich habe nicht gesehen, dass die Schwertklinge so weit über die Tischkante geragt ist! Er ... Er ist einfach gegen sie gestolpert. Es ging so furchtbar schnell, ich habe es gar nicht richtig realisiert. Plötzlich ist er umgekippt. Ich wusste nicht, was los war, bis ich gesehen habe, dass das Schwert in seinem Rücken steckte. Ich habe dann ... An ihm gerüttelt und gefleht, dass er mir antwortet ... Aber das tat er nicht. Und dann war da so viel Blut. Ich ... Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe Panik bekommen und bin weggerannt. Ich wollte einfach ... Einfach nur fort! Dann habe ich die Anderen getroffen. Sie wollten zu Hicks. Ich habe versucht mir nichts anmerken zu lassen und habe mir eine Ausrede für meine Verspätung überlegt, die sie mir abkaufen würden. Zusammen sind wir dann zurück zu Hicks. Es war noch schlimmer als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn verlassen hatte. Ich hatte mir so gewünscht, dass es nur ein Traum war. Aber das war es nicht. Es tut mir so schrecklich leid! Ich wollte es nicht! Es war nie meine Absicht gewesen ihn zu töten! Es war nur ein Versehen, ein schreckliches Versehen", brach Rotzbakke vor lauter Reue in Tränen aus.
Keiner wusste, was er dazu sagen sollte. Wenigstens war es keine Absicht gewesen. Aber die Tatsache, dass Hicks dennoch gestorben war, machte es nicht viel besser. „Schön, ich glaube dir, dass du es nicht gewollt hast, aber wieso um Thors Willen hast du ihn danach weggeschafft? Gothi hätte ihm vielleicht noch helfen können, aber du hast das verhindert! Wieso hast du ihn verschwinden lassen? Womöglich wäre mein Sohn noch zu retten gewesen!", machte Haudrauf dem Jorgenson schwere Vorwürfe. „Ab ... Aber das habe ich doch gar nicht", wimmerte Rotzbakke. „Wie bitte?", damit hatte das Oberhaupt nicht gerechnet. „Ich habe Hicks Leiche nicht verschwinden lassen! Nachdem wir in seinem Zimmer waren bin ich sofort los, um dich zu suchen. Das hat zugegebenermaßen etwas länger gedauert, weil ich mich erstmal kurz beruhigen musste und du als Oberhaupt echt schwer zu finden bist, da du überall im Dorf zu tun hast, aber nachdem ich meinen Verstand wieder unter Kontrolle hatte, habe ich mich sofort auf die Suche nach dir begeben", erzählte er. „Was soll das, Rotzbakke", seufzte der Häuptling erschöpft von dieser Diskussion. „Ich weiß, nachdem, was ich Hicks angetan habe, ist es schwer zu glauben, aber ich habe doch bereits gestanden, also wieso sollte ich jetzt noch lügen!?", gab der Jorgenson nicht auf. Das leuchtete Haudrauf sogar ein. Rotzbakke hatte keinen Grund weiterhin zu lügen. „Aber wenn du ihn nicht fortgeschafft hast ... Wer war es dann?", grübelte Grobian. „Na ganz toll! Ich hatte gedacht, dass der Fall endlich gelöst sei", seufzte der Vater des Opfers. Auch die Teenager schienen nicht begeistert von dieser Entwicklung zu sein. Jeder wollte einfach nach Hause und in Ruhe um Hicks trauern.
„Da wir davon ausgehen können, dass Rotzbakke nicht mehr lügen würde, ist er erstmal außen vor. Zu deinem Urteil kommen wir jedoch später noch!", kündigte der Häuptling grimmig an. Rotzbakke schluckte und senkte beschämt seinen Blick. „Also gehen wir davon aus, dass entweder Astrid, Fischbein oder Raffnuss und Taffnuss die Leiche weggebracht haben. Was habt ihr getan, nachdem ihr Hicks Leiche entdeckt habt?", wollte das Oberhaupt nun von den Teenagern wissen. „Ich bin sofort los, um Gothi zu holen. Allerdings war sie nicht in ihrer Heilerhütte, weswegen ich sie im Dorf suchen musste, was mich einige Zeit gekostet hat", begann Astrid. „Ich ... Ich bin bei dem Anblick ohnmächtig geworden. Ich hab nur noch gehört, wie Astrid Hicks angefleht hat durchzuhalten und dann losgelaufen ist. Danach wurde mir schwummrig und alles ist schwarz geworden. Ich wurde erst wach, als die Zwillinge mir Wasser übers Gesicht gekippt haben. Sie haben mich gleich gefragt, wo Hicks hin ist. Als ich dann gesehen habe, was sie meinten, habe ich beinahe nochmal mein Bewusstsein verloren", gab Fischbein verlegen zu. „Wir sind los, um Wasser zu holen, damit Fischbein wieder aufwacht", erzählte Raffnuss. „Als wir dann wieder vom Fluss zurückkamen, war Hicks bereits weg", sagte Taffnuss.
„O allmächtiger Thor! Das kann doch wohl nicht wahr sein!", verzweifelte das Oberhaupt. Langsam wurde es Haudrauf wirklich zu viel. Das war der schwierigste Prozess seines Lebens und ausgerechnet dieser lag ihm so sehr am Herzen! „Gehen wir doch einfach mal alle Möglichkeiten durch! ... Astrid hat Hicks geliebt. Sie wollte seine Leiche nur für sich. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Daher hat sie sich es auf dem Weg zu der Heilerhütte anders überlegt. Sie ist zurück, hat gesehen, wie die Zwillinge gegangen sind und fand Fischbein bewusstlos. Diese Gelegenheit hat sie genutzt und Hicks von dort weggebracht. An einen Ort, wo ihn ihr niemand mehr wegnehmen könnte. Wo sie ihn für immer bei sich behalten könnte, anstatt ihn auf einem brennenden Schiff im Meer untergehen zu sehen. Fischbein hätte allerdings auch nur so tun können, als ob er in Ohnmacht gefallen wäre, obwohl er das nicht ist. Als er dann gehört hat, dass die Zwillinge die Hütte verlassen, ich er aufgestanden, hat Hicks Leiche fortgeschafft und danach ist er zurück, hat sich wieder hingelegt und so getan, als ob er bewusstlos wäre. Und das alles, weil er als Hicks bester Freund genau wusste, dass Hicks nicht wollen würde, dass sein Vater ihn so sieht. Als letzten Freundschaftsdienst hat er also die Leiche versteckt, um andere vor diesem grausamen Anblick zu schützen. Kommen wir nun zu den Zwillingen. Während Fischbein bewusstlos war, hätten sie auch einfach nicht zum See gehen können. Sie hätten Hicks Leiche wegschaffen und danach erst Wasser holen können. Vermutlich ist das Verstecken einer Leiche auch so eins ihrer komischen Familienrituale, das irgendein verrückter Onkel von ihnen erfunden hat", wollte Rotzbakke sich nützlich machen, indem er verschiedene Theorien aufstellte. „Diese Annahmen sind gar nicht mal schlecht", musste Grobian gestehen.
„Ich liebe Hicks, aber für mich hatte es oberste Priorität, dass Gothi zu ihm kommt, um ihm zu helfen! Ich hätte in diesem Moment nie an mich gedacht", äußerte sich Astrid. „Ich war Hicks bester Freund und ja, er hätte bestimmt nicht gewollt, dass sein Vater oder Grobian ihn in diesem Zustand sieht, aber ich hätte es nie geschafft ihn wegzubringen. Auf der Klippe kümmere ich mich zwar um kleinere Wunden, aber sobald ich Blut sehe, da gehen bei mir alle Lichter aus! Besonders bei so viel Blut. Ich bin erstaunt, dass ich so lange durchgehalten habe", meldete sich Fischbein zu Wort. „Genau, das Blut! Wer auch immer Hicks weggeschafft hat, dessen Kleidung hat unweigerlich Blut abbekommen. Da es, abgesehen von der Blutlache, keine Blutspur am Boden gab, muss Hicks vom Tatort weggetragen worden sein", wurde Grobi bewusst. „Na und? Wir wissen, dass Astrid stark ist und Fischbein hätte Hicks leicht über seine Schulter werfen können. Und die Zwillinge waren zu zweit. Und danach hätte der Täter sich einfach frische Kleidung anziehen können. Das bringt uns also auch nicht weiter", war Haudrauf pessimistisch. „Da hast du allerdings recht, aber wir könnten ihre Häuser durchsuchen", schlug Grobian vor. „Ja, das werden wir wohl tun müssen ... Ach, wieso muss das alles so kompliziert sein!? Ich will doch nur meinen Sohn bestatten, so wie er es verdient hat", war Haudrauf traurig und verzweifelt.
„Du brauchst die Häuser nicht zu durchsuchen, das wäre reine Zeitverschwendung. Wir waren es", gab Taffnuss zu. „Es tut uns leid, wir haben nicht daran gedacht, was wir dir damit antun würden, indem wir Hicks Leiche wegschaffen. Wir haben nicht bedacht, dass wir damit verhindern, dass ihm geholfen wird und wir ihm damit die Bestattung verweigern, die er mehr als nur verdient", entschuldigte sich Raff. „Wieso habt ihr das getan?", wollte Haudrauf verwundert wissen. „Naja, es war so, dass uns Beiden klar war, dass Hicks das Streichverbot nicht aufheben würde. Er meinte zwar, dass er es sich überlegt, aber wir konnten ihm ansehen, dass er nicht wirklich vorhatte seine Strafe zurückzuziehen. Als Raffnuss dann auf Toilette musste, war ich alleine. Sie hat so lange gebraucht, also hab ich aus dem Fenster geschaut. Und da habe ich Raffnuss gesehen, wie sie Hicks Hütte betreten hat. Als wir dann später Hicks tot aufgefunden haben, dachte ich, dass sie es gewesen wäre", erklärte der Thorston Junge. „Aber wenn du Hicks nicht getötet hast, was wolltest du dann bei ihm?", wendete sich Haudrauf an Raffnuss. „Also ich bin in eure Hütte, um eure Toilette zu benutzen. Aber danach ist mir aufgefallen, dass jemand um die Hütte geschlichen ist. Als ich aus dem Fenster gelurrt habe, habe ich gesehen, dass es sich dabei um meinen Bruder handelt. Ich bin dann gegangen. Taff ist nach mir zurückgekommen und als wir Hicks Leiche entdeckt haben, bin ich davon ausgegangen, dass Taff herumgeschlichen ist, da er Hicks etwas antun wollte und es nachdem ich weg war auch durchgeführt hat", erzählte das Zwillingsmädchen. „Warum warst du überhaupt auf Hicks Toilette?", wunderte sich ihr Bruder. „Na, hast du etwa schon das Festmahl vergessen!? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie unser Klo gerade aussieht? Wir können es bestimmt eine Woche nicht mehr benutzen", erinnerte sie ihn. „Oh, ja! Stimmt, das war mir entfallen", erinnerte sich Taffnuss jetzt wieder. „Iewww!" - Widerlich" - „Ich will es gar nicht genauer wissen", ekelten sich die Leute.
„Warum bist du überhaupt dort rumgeschlichen?", wollte nun Raffnuss erfahren. „Ich dachte, du redest nochmal mit ihm und ich hatte gehofft, dass ich vielleicht euer Gespräch belauschen kann, aber das hat nicht funktioniert, dafür sind die Wände zu dick", gestand er. „Das heißt, dass ihr Hicks weggeschafft habt, weil ihr jeweils dachtet, dass der Andere der Täter sei!?", erkannte der Schmied. „Genau! Als Taff dann vorgeschlagen hat, dass wir die Leiche wegbringen sollten, war ich sofort dabei, da ich dachte, dass man ihn sonst überführen würde. Ich wollte verhindern, dass er verurteilt wird" - „Und ich wollte meiner Schwester es nicht so schwer machen. Ich wusste doch, dass sie niemals von sich aus fragen würde, ob ich ihr dabei helfen würde die Leiche zu beseitigen. Aber ein Leben hinter Gittern würde sie nicht aushalten, daher habe ich den Vorschlag gemacht. Ich wollte sie schützen", stimmten die Zwillinge zu. „Und was habt ihr dann getan?", wollte das Oberhaupt die ganze Wahrheit wissen. „Wir haben das Schwert aus seinem Rücken rausgezogen, immerhin kann das ja niemand anschauen, wenn in jemandem ein Schwert steckt und dann haben wir aus einer von Hicks Truhen eine Decke geholt mit der wir ihn umwickelt haben, damit von der Wunde keine Bluttropfen auf dem Boden landen und unseren Weg verraten", erzählte Taff. „Und zusammen haben wir ihn dann durch den Hinterausgang in den Wald gebracht und in einer Höhle abgesetzt. Danach sind wir zum See, haben unsere Hände gewaschen, die vom Einwickeln blutig geworden waren, aber dank der Decke waren sie auch das Einzige, was Blut abbekommen hat. Schließlich haben wir dann mit unseren Helmen Wasser mitgenommen, um Fischbein aufzuwecken", beendete Raff.
„Wo ist die Mordwaffe jetzt?", erkundigte sich Grobian. „Es war kein Mord, es war ein Versehen!", regte sich Rotzbakke auf. „Also wo ist das Schwert?", verbesserte sich der Schmied. „Wir haben es einfach unter Hicks Bett geschoben, wieso ist das wichtig?", zuckte Taff nur verständnislos mit den Schultern. „Damit der Fall abgeschlossen werden kann dürfen keine offenen Fragen mehr bestehen", erklärte Grobian und legte Haudrauf zur Aufmunterung eine Hand auf die Schulter. „Jetzt gibt es nur noch eins zu tun", meinte der Vater des Braunhaarigen traurig. „Hicks verdient eine richtige Bestattung", stimmten die Zwillinge zu. „Hey, wartet! Was ist mit Rotzbakke? Er war für Hicks Tod verantwortlich! Lässt du ihn etwa einfach ohne Strafe davonkommen, nur weil es keine Absicht war?", beschwerte sich Astrid lautstark. „Natürlich nicht! Aber ich möchte zuerst meinen Sohn bestatten", beruhigte Haudrauf sie. „Damit Rotzbakke eine Gelegenheit bekommt sich aus dem Staub zu machen? Wir alle wissen, was für ein Feigling er ist! Sobald du deinen Fuß vor die Tür setzt, um Hicks Leiche zu suchen, ist er schon auf Hakenzahn und sucht das Weite", war das Hofferson Mädchen überzeugt. „Astrid, beruhige dich! Ich bin auch sauer auf Rotzbakke, dafür, dass er mir meinen Sohn genommen hat. Du weißt gar nicht wie sehr! Aber ..." - „Kein Aber! Wenn du es nicht tust, dann übernehme ich es halt!", wollte Astrid nicht mehr warten. Sofort stand sie von ihrem Stuhl auf, ergriff die von Haudrauf vorher auf dem Tisch abgelegte Axt und sprintete Rotzbakke hinterher, welcher in weiser Voraussicht schon mal losgelaufen war. „Wenn ich dich erwische ...! Na, warte! Komm sofort zurück! ... Du kannst mir sowieso nicht entkommen, Jorgenson", schrie sie ihm hinterher. „Sollte nicht jemand was unternehmen?", fragte Fischbein beunruhigt nach. „Wieso? Sie schafft das bestimmt auch alleine!", meinte Haudrauf gelassen. Sogleich schauten die Teenager und Grobian ihn ungläubig an. Erst jetzt wurde Haudrauf bewusst, dass er das laut gesagt hatte. Ja, innerlich wünschte er sich, dass Astrid Rotzbakke so richtig fertig machen würde, für das, was er Hicks angetan hatte, aber er wusste, dass er das als Häuptling nicht zulassen dürfte. „Ich meine, ähm ... ASTRID, LASS IHN IN FRIEDEN", schrie das Oberhaupt der Wikingerin halbherzig zu. „Nein! Er hat Hicks auf dem Gewissen! Er hat meine wahre Liebe getötet! Das wird er mir büßen! Rotzbakke, fang schon mal an bei Hicks Geist um Verzeihung zu betteln!", riet Astrid dem Schwarzhaarigen, als sie ihn schließlich in eine Ecke gedrängt hatte. „Oh bei Thor! Oh großer Odin! Hicks, es tut mir so unglaublich leid!", winselte Rotzbakke verzweifelt. Dann kauerte er sich noch mehr zusammen und hoffte auf Gnade. Und zu seinem Glück wurde sie ihm erteilt: „Ich verzeihe ihm".
Sogleich hielt jeder inne. Astrid ließ ihre Axt sinken. Rotzbakke riskierte einen Blick. Tatsächlich! Im hellen weißen Schein des Mondlichts, welches durch die offene Tür drang, stand Hicks. Wie ein Geist stand er dort, so unwirklich. „Ich verzeihe dir, Rotzbakke", wiederholte die anmutige Gestalt. „Wow, ich werde ab jetzt viel öfter zu den Göttern beten", brachte Rotzbakke nur hervor. Hicks Haar wehte in der kühlen Nachtbrise, die durch die Tür zog. Seine Haut war blass, was durch den Mondschein noch verstärkt wurde. „Ein echter Geist", staunten die Zwillinge. Die Wikinger fürchteten sich, immerhin hatte noch niemand eine Begegnung mit einem Geist gehabt. Außerdem hieß es, dass Geister Leute heimsuchen und sich meistens an jemandem rächen wollen. Jedoch mussten sie zugeben, dass Hicks Geist da eine Ausnahme zu sein schien, da er seinem Mörder gerade vergeben hatte und auch generell keinen wütenden Eindruck machte. Im Gegenteil! Gelassen stand er dort, eingehüllt im Schein des Mondes, umweht von einem Lufthauch. Es hatte wahrhaftig etwas Erhabenes. Daher wandelte sich die Furcht bei den meisten Leuten auch schon bald in Faszination um. Nur Rotzbakke hatte noch panische Angst. „Es tut mir alles so leid! Das war ganz alleine meine Schuld! Dieses blöde Ego! Ich hasse mich für das, was ich dir angetan habe! Ich werde nie wieder jemanden dazu drängen etwas zu tun, was er nicht will. Es war so unglaublich blöd von mir! Ich bin der größte Schwachkopf im Archipel. Es tut mir so wahnsinnig leid, Geist von Hicks!", flehte er und warf sich vor der Gestalt auf die Knie.
„Ich hab doch schon gesagt, dass ich dir vergebe! Und könntet ihr jetzt bitte aufhören so einen großen Aufstand deswegen zu machen", hatte Hicks genug von diesem übertriebenen Theater. Mit seiner Hand griff er hinter sich und knallte die Tür zu. Doch zum Erstaunen aller verschwand das geisterhafte Wesen nicht. Hicks war immer noch da. Im Schein der brennenden Fackeln stand er. „Du ... Du bist kein Geist!? Du ... Du lebst?", stotterte Rotzbakke perplex. „Natürlich bin ich kein Geist", hielt Hicks diese Annahme für mehr als nur lächerlich. „Aber wie?", brachte nun auch Fischbein ein Wort raus. Haudrauf war unterdessen bereits zu seinem Sohn gerannt und hatte ihn in seine Arme geschlossen. „Au! Vater, nicht so fest", biss Hicks die Zähne zusammen. „Tut mir leid. Tut mir so leid, mein Junge", sogleich ließ Haudrauf ihn los und fuhr ihm stattdessen liebevoll durch die Haare. Er war unglaublich erleichtert, dass er seinen Sohn doch nicht verloren hatte. „Naja, Ohnezahn hat nach mir gesucht und als er mich gefunden hatte, hat er mich zu Gothi gebracht. Sie hat mich behandelt und als ich aufgewacht bin, hat sie mir erzählt, was passiert war. Dass Ohnezahn mich zu ihr gebracht hat, dass alle denken, ich wäre tot, dass gerade eine Gerichtsverhandlung abgehalten wird", beantwortete Hicks die Frage von Fischbein. Erst jetzt fiel den Wikingern auf, dass Ohnezahn und die Heilerin gar nicht anwesend gewesen waren. Jeder war da, nur die Heilerin nicht! Wieso war ihnen das nicht aufgefallen? Und wie hatten sie übersehen können, dass Hicks loyaler Drache gefehlt hatte?!
„Aber was war mit dem Schwert? Es hat in dir gesteckt. Das sah ziemlich schlimm aus", meinte Rotzbakke leicht verunsichert, ob es klug wäre, Hicks darauf anzusprechen. „Gothi meinte, dass das Schwert nicht tief genug drin gesteckt hat, um Organe zu beschädigen. Sie meinte, ich hätte unglaubliches Glück gehabt. Auch wenn sie etwas verwirrt darüber war, dass ich in einer Decke eingewickelt war, was ich mir irgendwie nicht erklären kann", war Hicks verwirrt. Er wusste immerhin nicht, was mit ihm geschehen war. Die Zwillinge warfen sich einen Blick zu und lächelten dann schuldbewusst. „Tut uns leid" - „Dafür sind wir verantwortlich", gestanden sie. „Das muss euch nicht leid tun! Gothi meinte, dass es zwar ziemlich unkonventionell verbunden war, aber dass die Decke dennoch die Blutung gestoppt hat. Es hätte mir zum Verhängnis werden können, wenn ich zu viel Blut verloren hätte", berichtete Hicks. „Wenn das so ist, gern geschehen", freute sich Raffnuss. „Ich glaube, wir sollten mal überlegen, ob wir uns zu Heilern umschulen lassen sollten", sagte Taff. „Müsstet ihr, um euch umschulen zu lassen nicht erstmal eine Lehre abgeschlossen haben?", meldete sich Fischbein zu Wort. „Mäh, Kleinigkeiten", entgegnete der männliche Thorstonzwilling.
Auch wenn Hicks lebte, war die Stimmung noch ziemlich angespannt. Natürlich lag das daran, dass sie sich dafür schämten, dass Hicks beinahe wegen ihnen gestorben wäre. Sie hatten alle Fehler begangen. Sie hätten alle besser handeln können. Besonders unangenehm war es ihnen auch, dass sie sich vorhin so gegeneinander gestellt hatten. Sie hatten wirklich jedem von ihrer Truppe einen kaltblütigen Mord zugetraut. Ihnen selbst war es zugetraut worden! Derweil war es alles doch nur ein Versehen gewesen. Wie hatten sich die Truppenmitglieder nur so gegeneinander stellen können? Sie waren doch Freunde, sie hätten zusammenhalten sollen! Hicks hätte es sicher nicht gewollt, dass sie sich wegen ihm gegenseitig fertig machen würden! Auch wenn nochmal alles gut gegangen war, wusste keiner, wie er sich jetzt in dieser Situation vor Hicks verhalten sollte. „Das heißt, du wirst wieder ganz gesund?", traute sich Astrid etwas zu sagen. Sie war so unglaublich glücklich, dass er noch lebte. Er war zwar etwas blass vom Blutverlust und vermutlich auch ziemlich geschwächt, aber er lebte. Dennoch wusste sie, dass er vermutlich noch sauer auf sie war und vielleicht gar nicht mit ihr sprechen wollte. „Ja, ich werde wieder ganz gesund. Allerdings wird wohl eine Narbe bleiben. Und dafür, Rotzbakke, wirst du noch die Konsequenzen zu spüren kriegen", kündigte Hicks an. „Ich dachte, du hast mir verziehen!?", meinte dieser und versuchte unschuldig zu lächeln. Hicks schaute ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen und einem 'Ist-das-dein-Ernst'-Blick an. „War nur ein Scherz! Ich habe jede Strafe verdient! Und ich werde sie akzeptieren", nahm er es sogleich zurück.
„Astrid", meinte Hicks in einer ihr undefinierbaren Tonlage, die in besagter Wikingerin Bedenken aufkommen ließ. War Hicks etwa sauer auf sie? Wieso? Weil sie Rotzbakke was antun hatte wollen? Oder schlimmer noch, hatte er gehört, was sie kurz zuvor gesagt hatte? Wusste er, dass sie in ihn verliebt war? „Wolltest du Rotzbakke wirklich umbringen ... Nur wegen mir?", fragte er sie kühl. „Nein, ich ..." - „Du wolltest doch, dass er meinen Geist um Verzeihung bittet, also für mich klang das schon ziemlich danach", merkte Hicks an. Na toll! Er musste es ja gehört haben! Natürlich musste er das! Astrid wollte am liebsten sofort im Boden versinken und nie wieder auftauchen. Was sollte sie jetzt bloß sagen? „Hicks, ich ... Ich ... Ähm ... Ich ...", stotterte sie verlegen. „Es tut mir leid", sagte da plötzlich Hicks. Mit einem Mal hatte sich sein Tonfall von resigniert und abweisend zu liebevoll und einfühlsam geändert. „Wie bitte? ... Wieso entschuldigst du dich denn?", konnte sie es gar nicht verstehen. „Weil ich dich so lange Zeit ignoriert habe, Astrid. Als ich heute bei Gothi saß und noch nicht wusste, ob meine Verletzung tödlich ist oder nicht, da ist mir etwas bewusst geworden", meinte er und trat noch einen Schritt näher. „Ach ja? Und ... Und was?", wollte sie verunsichert wissen. Hicks schüttelte nur lächelnd den Kopf. Doch bevor Astrid sich versah, hatte er sich schon zu ihr runtergebeugt und seine Lippen auf ihre gelegt. Sie konnte kaum glauben, dass das wirklich gerade passierte. Dennoch schloss sie sogleich ihre Augen und gab sich ihm hin. Es dauerte gefühlt einige Minuten, bis sie sich endlich voneinander lösten. „Wow", brachte Astrid nur hervor und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Hicks lächelte.
Also diese Geschichte würde so schnell wohl niemand mehr vergessen! Natürlich war es super praktisch, dass Hicks jetzt eine Freundin hatte, da sein Zimmer noch voller, mittlerweile getrocknetem, Blut war und es sich daher als unbewohnbar qualifizierte und er nun bei Astrid unterkommen konnte. Da Hicks verwundet war, überließ sie ihm natürlich ihr Bett und wollte selbst am Boden liegen. Da Hicks jedoch nicht zulassen konnte, dass Astrid ihr Bett für ihn aufgab, endete es damit, dass sie es sich teilten. Aber wie hätte es auch anders sein können!? Fischbein durfte aufgrund von Hicks angeschlagenem Gesundheitszustand und nach Hicks Einwilligung, die dieser mit Freuden gegeben hatte, die Neuerungen des Drachenbuches vorstellen. Rotzbakke musste zuerst mal Hicks Zimmer saubermachen, was sich bei so viel eingetrocknetem Blut auf dem Holzboden und Teilen der Möbel als ziemlich anstrengende und zeitintensive Aufgabe erwies. Hoffentlich würde er es geschafft haben, bis Hicks wieder ganz gesund war. Und was die Zwillinge betraf, für ihren - zwar nicht bewusst gemachten, aber lebensrettenden - Verband durften sie sich nicht nur über die Aufhebung ihres Streichverbotes freuen, sondern auch auf eine baldige Wiederkehr von 'Thors mächtigem Hammer', was sicher sehr zum Leidwesen Rotzbakkes, aber zu Freuden Astrids sein dürfte!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top