Was soll nun geschehen?

Heidrun:
„Baldor, wir bekennen Euch in allen Aspekten für schuldig! Ihr habt Euren Posten als Seelenherrn missbraucht, um die gesamte Menschheit auszulöschen, etwas das vollkommen gegen die Werte unseres Volkes verstößt!", verkündete Leyla mit fester Stimme. Ein Tag war seit dem Angriff der Seelenkrieger vergangen und nach Baldors Niederlage gegen Rowin war es relativ leicht gewesen die übrigen Kämpfe zu beenden. Auch Leyla war daran nicht unwesentlich beteiligt, da sie als Tochter des Seelenherrn ebenfalls eine nicht gerade niedrige Stellung hatte, ergaben sich viele Seelenkrieger auf ihren Befehl hin ganz einfach. Danach stellte sich uns aber natürlich die Frage, was die nächsten Schritte sein sollten. Schlussendlich entschieden wir uns dafür die Seelenkrieger im Allgemeinen unbestraft zu lassen, da sie ja alle von Baldor mehr oder minder gezwungen wurden die Berserker Insel anzugreifen. Den Seelenherrn selbst ließen wir dagegen alles andere als ungestraft. Mit der Zustimmung von Leyla, die wegen der Auflösung von Baldors Seelenbund vorerst den Platz ihres Vaters eingenommen hatte, stellten wir Berserker gemeinsam mit den Seelenkriegern das Ausmaß seiner Verbrechen fest und bestimmten zusammen eine angemessene Strafe.

Diese Strafe festzulegen, fiel uns allen relativ schwer, da nahezu jeder eine eigene Vorstellung davon hatte, was eine angemessene Bestrafung für Baldors Verbrechen war. Schließlich hatte sich dann aber Hicks mit seinem Vorschlag durchgesetzt, er war der Meinung, dass es den ehemaligen Seelenherrn mit seiner Abneigung gegenüber Menschen am schwersten treffen würde, wenn er den Rest seines Lebens unter Selbigen verbringen müsste. Daher hatten wir uns darauf geeinigt Baldor in den dunkelsten Kerkern der Berserker Insel einzusperren, wo er niemals wieder das Tageslicht, geschweige denn das Seelenreich wiedersehen würde. Bei diesem Gedanken fiel mein Blick auf den ehemaligen Anführer der Seelenkrieger, der nun mit gefesselten Händen, in der Mitte eines großen Saals kniete und seine Strafe erwartete. Die prächtige, schneeweiße Rüstung, welche er gerstern noch getragen hatte, war ihm schon längst abgenommen worden, genau wie alle anderen Dinge, die er sonst noch mit sich geführt hatte. Nun besaß der Mann, der noch vor Kurzem ein mächtiger Herrscher war, nichts mehr, als die grob gewebte Kleidung, die er am Leibe trug. Voller Verachtung wandte ich den Blick von ihm ab und sah stattdessen zu Rowin hinüber, der dem Ganzen aufgrund seiner hohen Stellung als Nachtschattenkrieger natürlich beiwohnte. Selbstverständlich trug er dabei wieder seine durchaus eindrucksvolle Nachtschattenrüstung, das Loch im Brustpanzer, wo ihn Baldors Dolch getroffen hatte, hatte er notdürftig geflickt.

„Nun werdet ihr die Strafe für Eure Taten erfahren", fuhr Leyla fort und zog meine Aufmerksamkeit so wieder auf sich. Trotz ihrer Verletzungen und trotz der Tatsache, dass es um die Verurteilung unseres eigenen Vaters ging, hatte sie darauf bestanden anwesend zu sein. „Diese Versammlung hat entschieden, dass Ihr den gesamten Rest Eures Lebens in den Kerkern des Berserkerstammes verbringen werdet, ohne jede Aussicht auf Begnadigung", erklärte Leyla entschlossen. Baldors Gesicht zeigte keinerlei Reaktion auf das Urteil, er starrte einfach nur ins Leere und sagte nichts. Mit einem Seitenblick zu Leyla, die nickte, wand sich Dagur an die Berserkerkrieger im Raum. „Führt ihn ab und schafft ihn ins Verlies! Sorgt dafür, dass er niemals wieder das Licht des Tages sieht, oder frische Luft atmet, von gutem Essen und Wasser ganz zu schweigen! Er wird so behandelt, wie jeder andere Verbrecher, der in unserem Kerker einsitzt!", befahl er barsch. Unter Jubel und Klatschen beobachtete die Menge, darunter natürlich auch ich, die Abführung des einstigen Monarchen. Das gab mir eine Möglichkeit mich einmal im Saal umzusehen und die Anwesenden einmal etwas genauer zu betrachten. Es hatten sich sowohl Berserker als auch Seelenkrieger gleichermaßen hier eingefunden und es war mehr als offensichtlich, dass sie der jeweils anderen Gruppe nicht so recht trauten. Zumindest nicht annähernd so weit, wie ich einen kleinen Amboss mittlerweile werfen konnte, allein dieser Gedanke brachte mich augenblicklich zum Lächeln. Die Auswirkungen des Seelenbundes waren für mich immer noch unglaublich. Trotzdem wurden meine Gedanken von diesem Misstrauen getrübt, zwar konnte ich es keinem von ihnen verübeln, da sie sich vor einem Tag immerhin noch gegenseitig umbringen wollten. Aber dennoch hoffte ich, dass sich beide Seiten wenigstens solange akzeptieren würden, bis die Seelenkrieger wieder abgezogen waren.

Rowin, Leyla, Dagur und ich hatten geplant, dass die Truppen spätestens morgen früh zurück ins Seelenreich aufbrechen würden, ein längerer Aufenthalt wäre viel zu gefährlich, für beide Seiten. „Nachdem wir das Schicksal unseres einstigen Anführers geklärt haben, gibt es nur noch einen Punkt, den es zu klären gilt", begann auf einmal der Seelenkrieger Sigfrid zu sprechen, „Die Nachfolge des Seelenherrn!" Es überraschte mich, dass er es ansprach, zugegeben, er hatte unserem Treffen bezüglich Baldors Strafe beigewohnt, aber er war die ganze Zeit still in einer Ecke stehen geblieben. Rowin hatte mir nur einige, wenige Dinge über ihn erzählt, als ich mich gewundert hatte, ihn in der Runde zu sehen. Anscheinend war Sigfrid ein sehr ehrlicher, respektabler und moralisch aufmerksamer Charakter, an dem es nichts auszusetzen gab. Ebenso hatte mein Freund mir erzählt, dass der junge Feuerschweifkrieger ein alter Kindheitsfreund von Leyla war und sich sehr um sie zu sorgen schien. Letzteren Aspekt hatte Rowin auch als Erklärung für seine Anwesenheit genannt, obwohl er im nächsten Atemzug meinte, dass er sich genauso gut täuschen könnte. Offenbar hatte er das auch, denn so wie er hier sprach, schien Sigfrid ja eine nicht gerade niedrige Stellung unter den Seelenkriegern zu genießen.

„Wir Seelenkrieger haben uns gemeinsam dazu entschlossen, unseren neuen Anführer in Gegenwart des Stammesoberhauptes der Berserker Insel zu wählen, da er ein genauso großes Recht daran hat einen für ihn passenden Kandidaten auf diesem Posten zu sehen, wie wir. Immerhin hat Baldor seine Insel ohne jeden vernünftigen Grund angegriffen und nicht wenige Mitglieder seines Volkes sterben lassen. Zum Schluss möchte ich nur noch einmal anmerken, dass ich von der Mehrheit der anwesenden Offizieren als unparteiischer Vermittler gewählt wurde und als solcher keinen Kandidaten bevorzugen werde", erklärte Sigfrid formell. Zustimmendes Gemurmel ertönte aus allen Richtungen des Saals, nur ich schien still zu bleiben. „Wer wird wohl Baldors Nachfolge antreten?", fragte ich mich unweigerlich in Gedanken, „Wahrscheinlich Leyla, immerhin ist sie es ja schon irgendwie, jetzt wollen sie es bestimmt nur noch offiziell machen." „Die erste Wahl der Offiziere fiel selbstredend auf Baldors Tochter Leyla, die auch von vielen befürwortet wurde", verkündete Sigfrid. „Dachte ich es mir doch", schoss es mir durch den Kopf. „Die zweite Wahl allerdings", führte der Seelenkrieger seine Ansprache fort, „war fast noch beliebter, als die erste. Als zweiten Kandidaten nannte die Versammlung den Nachtschattenkrieger Rowin, der Baldor im Zweikampf besiegte und uns die Augen öffnete."

Bei diesen Worten setzte mein Atem kurzzeitig aus, ich konnte einfach nicht glauben, dass Rowin der Anführer der Seelenkrieger werden könnte. „Ich möchte etwas zu dieser Auswahl sagen", ergriff plötzlich Leyla das Wort. „Euch sei es gestattet zu sprechen", erlaubte Sigfrid. „Rowin, du hast dich in den letzten Tagen als wahrer Nachtschattenkrieger gezeigt", meinte sie schließlich, „Du hast bewiesen, dass du in der Lage bist Recht und Unrecht voneinander zu trennen und das Richtige zu tun, viel besser als ich es tat. Aus diesem Grund würde ich dir erlauben den Platz meines Vaters einzunehmen und unser Volk in eine hoffentlich bessere Zukunft zu führen." Leylas Rede brachte meine Gedanken endgültig dazu, verrückt zu spielen. Sie wollte auf die Nachfolge ihres Vaters verzichten und Rowin diesen Platz ganz einfach überlassen, als wäre es das Normalste der Welt. Wie sich das wohl auf unsere Beziehung auswirken würde? Immerhin wusste ich ja, dass es eine Menge an Zeit bedurfte ein Volk zu leiten, gerade jetzt nach dem Beinahe-Krieg gegen die Menschheit.

„Rowin, nimmst du angesichts Leylas Rücktritt den Posten des Seelenherrn an?", fragte Sigfrid und trat mit dem Stab, den Baldor bei unserer ersten Treffen getragen hatte, in der Hand zu meinem Freund herüber. Anders als damals hatte dieser jetzt jedoch keine Spur an Farbe mehr in sich, er war eher durchsichtig und völlig glanzlos. Rowin hatte mir gestern Abend noch erklärt, woran das lag, angeblich verfügte dieser sogenannte Seelenstab nämlich über eine wahrhaft außergewöhnliche Fähigkeit. Er schien zu spüren, wer sein rechtmäßiger Träger, also der Seelenherr, war und passte seine Farbe den Schuppen des Selbigen an, deshalb war der Stab bei Baldor auch weiß gewesen. Doch nun, da es keinen wirklichen Seelenherrn gab, hatte er seine Farbe, sowie seinen Glanz verloren und wartete auf einen neuen Träger. Als der Feuerschweifkrieger schließlich genau vor meinem Freund stand, hielt er ihm den Stab entgegen und öffnete seine Hand ein Stück weit. Langsam schien Rowin danach zu greifen und ich dachte schon, er würde ihn sich nehmen, doch stattdessen schloss er Sigfrids Finger wieder um den Stab. „Es tut mir leid Sigfrid, aber ich kann diese Ehre nicht annehmen", sprach er mit einem leichten Anflug von Bedauern, „Ich bin leider kein Anführer, zumindest nicht in diesem Leben. Wären ein paar Dinge anders gelaufen und würde ich ein anderes Leben führen, als jetzt, dann vielleicht, aber in diesem hier bin ich nur der Nachtschattenkrieger", erklärte er, was mich doch etwas beruhigte.

Keiner im Saal wagte es zu sprechen, während Rowin sich zu Leyla drehte und langsam zu ihr trat. „Leyla, entgegen deiner Selbsteinschätzung muss ich dir sagen, dass du eine gute Seelenherrin abgeben würdest", meinte er, als er vor ihr stehenblieb, „Hättest du die Absichten deines Vaters früher erahnen können? Ja. Hättest du ihn aufhalten sollen? Gut möglich. Aber als es darauf ankam, hast du dich dazu entschieden, das Richtige zu tun und hast an deinem Entschluss festgehalten. Das sind die Eigenschaften, die es braucht, um ein Volk anzuführen, und diese Eigenschaften sind dir zu eigen, meine alte Freundin." Beim letzten Satz, hatten sich einige Tränen in Leylas Augen gesammelt und sie sah ihn dankend an. „Leyla, möchtet Ihr Eure Meinung bezüglich Eurer Nachfolge auf den Platz Eures Vaters ändern?", erkundigte sich Sigfrid und hielt ihr den Stab auf dieselbe Art hin, wie zuvor Rowin. „Ich nehme diesen Stab entgegen, um die Taten meines Vaters wieder gut zu machen. Um den Stolz meiner Familie wieder herzustellen. Und um die Seelenkrieger in eine bessere Zukunft zu führen", sprach Leyla, während sie vorsichtig nach dem Stab griff. Als sich ihre Finger um den Griff schlossen, begann sich das Relikt silbern zu verfärben und metallisch zu glänzen. „Der Seelenstab hat die Kandidatin offensichtlich akzeptiert", bemerkte Sigfrid, „Wie sieht es bei Euch aus Dagur, Oberhaupt der Berserker? Akzeptiert Ihr die neue Seelenherrin?"

„Da Leyla bewiesen hat, dass sie die Ansichten ihres Vaters nicht teilt und sich sogar gegen ihn gestellt hat, werde ich ihre Nachfolge auf den Posten der Seelenherrin zustimmen", antwortete mein Bruder. „Dann ist es entschieden!", verkündete Sigfrid, „Leyla, die Tochter von Baldor, wird den Platz der Seelenherrin übernehmen!" Lauter Jubel flutete den Saal von Neuem, Leyla nahm indessen eine stolze Pose ein und stellte den Stab betont langsam auf den Boden. Mit einer Handbewegung brachte sie die Menge nach etwa einer Minute zum Schweigen. „Als meine erste Amtshandlung werde ich veranlassen, dass wir Seelenkrieger uns so bald wie möglich wieder ins Seelenreich zurückziehen werden. Denn wie sich in den letzten Tagen gezeigt hat, sind wir noch nicht bereit sind in die Welt der Menschen zurückzukehren, zumindest die Meisten von uns. Deshalb werde ich als meine zweite Amtshandlung Rowin zu einem vollwertigen Nachtschattenkrieger ernennen. Er hat sein Schicksal erfüllt und uns wie bereits seine beiden Vorgänger vor einer großen Katastrophe gerettet, nur dass die Bedrohung dieses Mal von uns selbst ausging. Als ein solcher Nachtschattenkrieger werde ich Rowin außerdem ein besonderes Privileg verleihen, er darf das Seelenreich verlassen wann und wie lange er auch immer will." Bei diesem Satz hatte sich Leyla zu Rowin herumgedreht und schaute ihn auffordernd an, mehr als offensichtlich erwartete sie jetzt einen Kommentar von ihm. „Ich danke Euch, für diesen Vertrauensbeweis, Seelenherrin", meinte er formell. „Also für dich bin ich nach wie vor Leyla", korrigierte Baldors Tochter, „Aber nun kommen wir erstmal zu meiner dritten Amtshandlung, dafür habe ich mich entschieden Heidrun, die Schwester von Dagur, zu einem Ehrenmitglied unseres Volkes zu machen. Das bedeutet, sie darf das Seelenreich betreten und verlassen wann immer sie es wünscht, genauso wie Rowin." Während sie den letzten Teil gesprochen hatte, war ihr Blick zu mir herübergeschweift, was mir eindeutig vermittelte, dass sie nun auch von mir einen Kommentar erwartete. „Vielen Dank Leyla. Das bedeutet mir viel", sagte ich, halbwegs wahrheitsgemäß. „Als meine vierte und vorerst letzte Amtshandlung, werde ich nun die Verlobung zwischen mir und Rowin auflösen, sofern er nichts dagegen hat", verkündete sie. „Ich habe nichts dagegen unsere Verlobung zu lösen", antwortete Rowin sofort.

In diesem Moment fing mein Herz an, wie wild zu schlagen, bisher hatte ich überhaupt nicht realisiert, dass er Leyla theoretisch ja mit mir betrogen hat. Daher war ich auch ziemlich erleichtert, dass sie in diesem Punkt anscheinend nicht sehr nachtragend war und Rowin jetzt die Möglichkeit gab, ganz ‚sittsam' mit mir zusammen zu sein. „Dann werde ich unsere Verlobung hiermit für vollkommen nichtig erklären", meinte Leyla mit lauter Stimme, wobei sie leicht zu mir hinüberschielte. „Na toll, hoffentlich erwartet sie nicht, dass Rowin und ich uns jetzt sofort miteinander verloben", dachte ich im Stillen mit hochroten Wangen, „Denn das würde mir nun wirklich viel zu schnell gehen."

Rowin:
Die Abenddämmerung hatte sich wie eine Decke über die Berserker Insel gelegt und beinahe alle ihre Bewohner, sowie auch die Seelenkrieger hatten sich bereits schlafen gelegt. Ich war einer der Wenigen, die noch wach waren, und schlenderte gerade mit Leyla durch einen Wald auf der Rückseite der Insel. „Ich wusste gar nicht, dass du so ernst und feierlich sein kannst Leyla", bemerkte ich mit einem leisen Lachen, „Ganz davon zu schweigen, dass du die versammelte Menge so leicht zum Verstummen bringen konntest." „Na ja, ein wenig konnte ich mir bei meinem Vater schon abgucken", erwiderte Leyla, „Das Wichtigste ist sich selbst vom eigenen Selbstbewusstsein zu überzeugen, denn wenn du selbst nicht davon überzeugt bist, sind es die Zuhörer erst recht nicht." Eine Weile lang herrschte Stille zwischen uns, bis ich schließlich das Schweigen brach. „Wieso wolltest du denn eigentlich mit mir reden?", fragte ich vorsichtig. „Weil ich dich fragen wollte, was genau du jetzt vorhast", meinte sie. „Das ist tatsächlich eine gute Frage, nur muss ich sagen, dass ich keine Ahnung habe. Mein Leben lang wurde mir von irgendwelchen Leuten vorgegeben, was ich zu tun hätte, bis vor etwa zwei Monaten jedenfalls. Da habe ich erstmals angefangen mein Schicksal selbst zu bestimmen, weil ich nicht mehr zurück ins Seelenreich wollte. Aber jetzt, wo ich mein Ziel und sogar noch mehr erreicht habe, weiß ich nicht mal annähernd, was ich tun möchte", antwortete ich ihr. „Dann solltest du dich vielleicht mal erkundigen, was die Menschen, die du gerne hast, sich wünschen", schlug Leyla vor. „Nette Idee", gab ich zurück und musste unweigerlich an Heidrun denken. „Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen", dachte ich leicht amüsiert.

„Ich fürchte, jetzt muss ich dich verlassen alter Freund", meinte Leyla ganz plötzlich. „Wieso denn?", wollte ich wissen. „Weil mir Sigfrid garantiert den Kopf abreißen wird, wenn ich nicht bald ins Lager zurückkehre und mich ausruhe, um meine Wunde zu schonen", erklärte sie. „Habe ich dich so schwer getroffen?", erkundigte ich mich zugegeben etwas besorgt. „Nein, nein, aber du kennst doch Sigfrids besorgten Charakter. Er misst der Sache einmal mehr viel zu viel Bedeutung zu, auf lange Sicht ist das echt nervig", gab Leyla zurück, „Es war schon ein Krampf ihn zu überzeugen, dass er mich überhaupt aus dem Lager herauslässt." „Wieso hast du es ihm nicht befohlen?", fragte ich verwirrt. „Habe ich", antwortete sie, „danach hat er auf seine abgeschlossene Ausbildung bei unseren Heilern verwiesen und erklärt, dass er in Sachen der Gesundheit eine höhere Stellung bekleidet, als alle anderen. Mich natürlich eingeschlossen." „Und wie hast du ihn dann überredet?", stellte ich die entscheidende Frage. „Mit einem kleinen Kompromiss", erklärte die Seelenherrin, „dafür, dass er mich gehen gelassen hat, muss ich mich morgen auf dem Rückweg ins Seelenreich von ihm tragen lassen." Nur knapp konnte ich es vermeiden laut loszulachen, trotzdem konnte ich ein leises Kichern nicht verhindern. „Schön, dass dich das so erfreut", meinte Leyla etwas mürrisch, „Gute Nacht!" Mit diesen Worten drehte sich meine alte Freundin um und ging in Richtung des Feldlagers der Seelenkrieger.

Gerade wollte ich ihr auch noch schnell eine gute Nacht wünschen, als mir plötzlich ein Gedanke kam, den ich ohne weiter darüber nachzudenken sofort aussprach. „Hast du schon mal daran gedacht, dass Sigfrid sich so um dich sorgt, weil er sich ein wenig in dich verliebt hat?", fragte ich. Augenblicklich blieb Leyla stehen und blickte über die Schulter zu mir zurück. „Ist das dein Ernst?", fragte sie zurück, „Sigfrid soll in mich verliebt sein? Etwas verrückteres habe ich noch nie gehört." „Du meinst das ist noch verrückter, als die Tatsache, dass dein Vater jetzt wegen schwerer Verbrechen gegen die Menschheit im Kerker einsitzt und du seine Nachfolge angetreten hast?", erkundigte ich mich sarkastisch. „Na gut, der Punkt geht wohl an dich", stöhnte sie entrüstet. „Also, was sagst du jetzt?", wollte ich wissen. „Ich werde mal darüber nachdenken", gab Leyla schließlich zurück, „Jetzt aber erstmal gute Nacht!" „Gute Nacht", erwiderte ich, bevor sich unsere Wege trennten.

Eine halbe Stunde später stand ich alleine am Rand der Klippe vor den Ställen und beobachtete den Sonnenuntergang, dabei dachte ich auch darüber nach, was Leyla mir bezüglich meinen Zukunftsplänen geraten hatte. „Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde", hörte ich ohne Vorwarnung Heidruns Stimme hinter mir. Ehe ich reagieren konnte, hatte sie mir einen Arm um die Schulter gelegt und einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Wofür war der denn?", fragte ich neckisch. „Was, braucht man bei euch Seelenkriegern etwa einen Grund, um seinen festen Freund zu küssen?", fragte sie kichernd zurück. „Nein", antwortete ich und gab ihr meinerseits einen Kuss auf die Wange. Nach einem leisen Kichern sagte sie schließlich: „Ich habe übrigens noch kurz mit Hicks geredet und ihm ist etwas Interessantes bezüglich der Verbindung zwischen deinem Tattoo und dem Wappen seiner Akademie eingefallen." „Ach ja, was denn für eine Verbindung?", erkundigte ich mich. „Ganz einfach, Hicks hatte das Wappen auf einer alten Wandmalerei in Berks großer Halle gesehen. Es war dort auf dem Handrücken der Zeichnung eines großen Kriegers abgebildet, der die Wikingerstämme des Nordens vor etwa 200 Jahren fast ausgelöscht hätte, zumindest den Erzählungen nach", erklärte meine Freundin. „Also das klingt für mich sehr stark nach dem Nachtschattenkrieger, der unser Volk vor 200 Jahren gerettet hat", überlegte ich laut vor mich hin, „Damals hatten die Menschen von der Existenz der Seelenkrieger erfahren und angefangen sie zu jagen. Nicht etwa aus Hass oder Verachtung, sondern weil wir damals die mächtigsten Kämpfer der Welt hervorbrachten. Kaum war dies bekannt, wollten zahlreiche Wikinger einen Seelenkrieger umbringen, um sich zu beweisen und zu einer lebenden Legende zu werden. Außerdem wurden viele Mitglieder unseres Volkes von mächtigen Personen aus dem gesamten Inselreich gefangengenommen und als eine Art lebende Trophäe ausgestellt."

„Oh, also deswegen dachtest du, dass die anderen Seelenkrieger so unglaublich empfindlich darauf reagieren würden, wenn sie erfahren, dass ich von ihrem Geheimnis weiß", bemerkte Heidrun leise, „Und wie ist damals der Nachtschattenkrieger mit der Situation umgegangen?" „Er hat sich gewehrt", antwortete ich auf ihre Frage, „er hat so viele Seelenkrieger, wie nur möglich, unter seinem Banner versammelt und die Menschen frontal angegriffen. Es war ein gewaltiges Blutbad, das bis heute unübertroffen sein dürfte. Nur sehr wenige Menschen, die vom Geheimnis meines Volkes wussten, schafften es zu überleben und diese waren danach so schwer verstört, dass ihnen keiner mehr glauben wollte. Nach jenem Tag haben wir das Seelenreich für die nächsten Jahre nicht mehr verlassen, weshalb wir dachten, dass die Menschen uns einfach vergessen hätten." „Naja, wie du siehst ist das nicht ganz passiert", erwiderte meine Freundin, „Obwohl das Wissen um eure Fähigkeit zur Verwandlung tatsächlich vergessen wurde, hat die Menschheit den Angriff deines Volkes nicht vergessen." „Und jetzt, 200 Jahre später, hat Hicks das Nachtschattensymbol der Tätowierung unseres damaligen Helden als Wappen für seine Drachenakademie gewählt", meinte ich schmunzelnd, „Schon irgendwie ironisch." „Allerdings", stimmte Heidrun zu. Nach diesem kleinen Abstecher in die Geschichte meines Volkes, schwiegen wir beide erstmal eine Weile lang und betrachteten die purpurne Farbe des Sonnenuntergangs. „Wie sieht jetzt eigentlich unser Plan für die Zukunft aus?", fragte ich sie schließlich.

„Witzig, du bist heute schon der Zweite, der mich danach fragt", gab Heidrun kichernd zurück, „Mein Bruder hatte mich vorhin auch schon darauf angesprochen." „Und was hast du ihm gesagt?", erkundigte ich mich. „Ganz ehrlich, ich habe gesagt, dass ich die nächste Zeit am liebsten nur mit dir verbringen würde, Rowin. Darauf hat er geantwortet, dass sich das einrichten lassen könnte", erwiderte sie mit erröteten Wangen. „Also, wenn ich so ehrlich bin, wie du gerade, muss ich gestehen, dass ich gegen etwas gemeinsame Zeit mit dir auch nichts einzuwenden hätte", gestand ich ihr. „War das eine Einladung?", wollte Heidrun jetzt wissen. „Das könnte man sicher so verstehen, ja", gab ich zurück, „Also, was möchtest du machen?" „Wie, hast du da etwa keine eigenen Ideen?", fragte meine Freundin neckisch. „Eigentlich dachte ich, dass du nach den langen Tagen, an denen ich dir alles über deine neuen Fähigkeiten beigebracht habe, gerne die Führung bei unseren Unternehmungen übernehmen würdest. Außerdem gibt es in diesem Inselreich bestimmt noch genug paradiesische Orte, die du mir zeigen kannst", antwortete ich. „Ziemlich genau 115, wenn du es unbedingt wissen möchtest", meinte Heidrun. „Dann wird es wohl Zeit, dass du mich auf einen kleinen Rundflug mitnimmst!", schlug ich lachend vor. „Gerne doch!", stimmte die Berserkerin zu und gab mir noch einen Kuss auf die Wange.

-Ende-

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