Jackie ist schuld

Seit einer Stunde liege ich heulend auf meinem Bett. Es ist laut meiner Armbanduhr, die übriges feuerresistent ist, genau 10:37 Uhr. Eigentlich soll ich jetzt auf meinem Fest sein und tanzen. Aber ich kann jetzt einfach nicht so tun als ob alles wie immer wäre. Als ob alles in Ordnung wäre. Ich habe bis kurz nach dem Essen durchgehalten, aber dann... als Lukas auftauchte und mich frech grinsend fragte, ob ich mit ihm tanzen wollte, war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Lukas ist Nikolas Zwillingsbruder. Er kam von seinem ersten Kampf zurück und ... und Niklas nicht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mich damals total freute, als seine grüne Gestalt am Horizont erschien, denn ich dachte er wäre Niklas. Ich dachte, er hätte überlebt. Doch er war es nicht. Ich freute mich zwar für Lukas, doch ich wartete sehnsüchtig auf seinen Bruder. Der nicht kam. Der nie wieder kam. Und Lukas war viel zu sehr damit beschäftigt sich darüber zu freuen, dass er noch lebte und mit Helena rumzuknutschen um auch nur einen Gedanken an Niklas zu verschwenden.

Seitdem zieht sich mein Herz jedes Mal zusammen, wenn ich ihn sehe. Manchmal einfach nur, weil er Nikolas so ähnlich sieht, doch meistens habe ich sein glückliches Gesicht vor Augen. Und ich packe das einfach nicht.

Wenn ich so darüber nachdenke laufen mir nur noch mehr Tränen über die Wangen. Doch ich kann nicht damit aufhören. Es geht nicht. Ich frage mich, ob ich irgendwie herausfinden kann, wer Niklas getötet hat. Doch was würde es mir bringen? Vielleicht ... nein. Oder doch? Würde ich den Drachen töten, der Niklas getötet hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob es der erste Kampf des Mörders war, oder ob er auf einem Routineflug auf Nikolas stieß. Kann ich ihn wirklich dafür verurteilen, dass er nach dem Gesetz der Drachen gehandelt hat?

Langsam beginne ich an dem Gesetz zu zweifeln. Wieso müssen wir alle an unserem sechzehnten Geburtstag zu Mördern werden? Und damit nicht genug. Wieso müssen wir, wann immer wir auf einen anderen Drachen treffen, wieder und wieder morden? Meine Lehrerin für Geschichte, Deutsch, Englisch, Französisch und Elbisch... Entschuldigung ich meine natürlich Rulin... sagte einmal, dass es sich hierbei gleichzeitig um natürliche Auslese handelt. Schwachsinn, wenn man mich fragt. Aber mich frägt ja keiner, also ist das ja egal.

Jackie kommt in mein Zimmer und springt neben mir auf mein Bett, wobei sie freundlicherweise auf mein Bein tritt. Bis vor einer halben Stunde oder so hatte sie zuvor schon neben mir gelegen und gewinselt. Vielleicht wollte sie mir helfen, indem sie mich ablenkte, aber ich schätze eher, dass sie mal raus muß um ein Geschäft zu erledigen. Ihr Pech. Sie legt sich neben mich und vergräbt ihr Gesicht unter meinem Ellenbogen. Dann fängt sie wieder an zu winseln.

Trotz allem muss ich lachen, woraufhin mir salzige Tränen in den Mund laufen. Ich weiß, wahrscheinlich ist das seltsam, aber ich mag den Geschmack. Wieso auch immer.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich ihn ständig im Mund und das wurde dann wohl so zur Gewohnheit, dass ich kein Problem damit habe. Damals war ich drei Jahre alt und bekam noch nicht so viel mit. Doch dass meine Mutter plötzlich nicht mehr da war und dass Manuel, mein Vater und Tante Amelie schrecklich traurig waren bemerkte ich. Wann ich es kapierte weiß ich nicht mehr so genau. Emilia war ein Jahr alt. Ich habe wenigstens schleierhafte Erinnerungen an meine Mutter. Meine Schwester hat gar keine. Das Ganze bringt mich noch mehr zum heulen und die Tränen rennen in Strömen meine Wangen hinab. Ein paar tropfen Jackie auf den Kopf, aber es scheint ihr nichts auszumachen. "Na Jackie? Hast du heute auch so einen scheiß schlechten Tag?", frage ich und streichle ihr über den Kopf, den sie langsam hebt, als sie ihren Namen hört. Ich weiß, dass sie nicht antworten wird, trotzdem tut es gut mit jemandem reden zu können. Und ich erzähle es ihr. Ich erzähle ihr alles. Von Nikolas, von Armando und von der Ernennung. Jackie blickt mich nur aus ihren verständnisvollen, verschiedenfarbigen Augen an.

Als ich ihr alles erzählt hatte, hatte ich mich einigermaßen beruhigt und setze mich auf. Durch mein offenes Fenster dringen Stimmen zu mir herauf. Sie sind ganz nah, als würde jemand vor der Haustür stehen. Es sind eine männliche und eine weibliche Stimme. Mein Bruder? Emilia? Oder vielleicht mein Vater? In meinem Zimmer ist es dunkel, ich kann kaum etwas sehen außer Jackie, mein Bett und die meeresblaue Wand dahinter.

Langsam stehe ich auf und gehe zum Fenster. Tatsächlich. Vor der Haustür, die fast unter meinem Fenster ist, stehen Manuel und Clarissa. Und sie küssen sich. Stehen eng umschlugen beieinander. Das ganze wird mir zu viel und ich wende den Blick ab. Hoffentlich haben sich nicht vor rein zu kommen, weil sie denken hier wäre niemand. Dann muss ich sie nämlich enttäuschen. Mit extra lauten Schritten verlasse ich mein Zimmer und gehe ins Badezimmer. Ich blicke in den Spiegel. Verdammt, sehe ich schrecklich aus, stelle ich fest, als ich in den Spiegel über dem Waschbecken blicke. Meine Augen sind geschwollen und blutunterlaufen, mein ganzes Gesicht ist fleckig. Die Wimperntusche, die ich aufgrund des besonderen Ereignisses trage, ist verlaufen und hat sich unschön über meine Wangen verteilt. Meine Nase ist rot. Sie ist, weshalb auch immer, immer etwas rötlich, aber jetzt sehe ich aus wie Rudolf. Genervt stöhne ich auf und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Die Wimperntusche verläuft noch mehr. Ein paar schwarze Tropfen fließen bis zu meinem Kinn hinab, wo sie sich sammeln und dann nacheinander ins Waschbecken tropfen.

Da sowieso nichts mehr zu retten ist, nehme ich ein Tuch, mache es Nass und wische über mein Gesicht. Die Wimperntusche geht erst nach dem achten Mal einigermaßen weg. Aber ohne sie sehe ich auch nicht gerade besser aus. Man wird jetzt viel mehr auf die geschwollenen, blutunterlaufenen Augen aufmerksam. Von der roten Nase und den Flecken im Gesicht mal ganz zu schweigen. Ergeben will ich zurück in mein Zimmer stampfen, als ich mich an meinen Bruder und seine Verlobte erinnere und noch einmal kurz zurück gehe um mehrfach die Spühlung zu betätigen. Damit auch ja keiner auf die Idee kommt, hier allein zu sein. Erst danach trotte ich zurück. Jackie sitzt jetzt neben meinem Bett und gibt fiepende Geräusche von sich. Wahrscheinlich müsste ich sie echt rauslassen, sonst macht sie noch ins Haus.

Gehorsam trotte ich den Gang entlang und die Treppe hinunter. Jackie folgt mir mit aufgeregten Hüpfern. Wenn sie denkt, dass ich jetzt mit ihr einen Spaziergang mache, täuscht sie sich gewaltig. Ich gehe ins Wohnzimmer und öffne die Hintertür. Sofort stürmt die Hündin nach draußen in unseren Garten. Ich bleibe in der Tür stehen und hoffe, dass mich niemand sieht. Wahrscheinlich werden die Dorfbewohner mich sonst ohne Widerspruch gelten zu lassen zurück auf das Fest ziehen... falls nötig auch tragen. Und darauf habe ich nun echt keine Lust. Krampfhaft versuche ich nicht an Niklas zu denken, doch das führt dazu, dass ich an Armando denke. Bestimmt ist er gerade auf seinem eigenen Fest und feiert recht schön. Toll für ihn. Wieso hat er mich verdammt noch mal nicht getötet? Dann hätten wir beide jetzt eine Sorge weniger. Nunja, ich hätte sogar ziemlich viele Sorgen weniger.

"Lucia Blaze. Ich habe dir ja noch gar nicht zu deiner Ernennung gratuliert", erschallte plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Schatten der Bäume im vorderen Bereich des Gartens. Überrascht zucke ich zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich den Sprecher zu finden, doch draußen ist es, trotz des hellen Mondes nicht hell genug. Eine dunkle, breitschultrige Gestalt tritt aus den Schatten. Es dauert einen Moment, bis ich Leonardo Scale erkenne, der mitten in meinem Garten steht. Jackie hat ihn nun ebenfalls entdeckt. Wofür hat man einen Hund, wenn der nicht einmal bemerkt, wenn fremde Leute im Garten rumschleichen? Sie bellt ihn an, scheint sich dann aber zu erinnern, dass er ein Dorfbewohner ist und kommt zu mir zurück. "Danke, aber ich glaube nicht, dass das hier die richtige Zeit oder der richtige Ort für ihre Gratulation ist", antworte ich, doch meine Stimme ist vom weinen ganz rau. Leonardo tritt näher. "Ich glaube schon, dass dies hier genau der richtige Zeitpunkt ist, Lucia", sagt er mit bestem Plauderton. Was will er von mir? Mein Körper verkrampt sich, als Leonardo immer näher kommt. "Dann sind wir wohl verschiedener Meinung", informiere ich ihn und will die Tür vor seiner Nase zuknallen, aber er ist schneller und stellt seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen. Erschrocken schnappe ich nach Luft.

Leonardo beugt sich anzüglich grinsend zu mir und flüstert: "Ja das sind wir wohl, Lucia. Doch ich werde es nicht verpassen, einer der Auserwählten persönlich zu gratulieren. Und jetzt hör mir gut zu Kleine, denn das sage ich dir nur ein einziges Mal: Wenn du mir in die Quere kommst wirst du es bereuen." Ich schlucke und blicke ihm in die unnatürlichen, orange-roten Augen. Er beginnt zu grinsen und dann verkündete er fröhlich: "Es war schön mit dir zu sprechen, Luce. Einen schönen Abend noch!" Er tritt zurück und nimmt dabei auch seinen Fuß aus der Tür, woraufhin ich sie sofort zuschlage. Jackie, die mit eingezogenem Schwanz hinter mir steht, knurrt. Reichlich spät, würde ich mal sagen.

Ich überprüfe, ob die Tür auch wirklich abgesperrt ist, dann setze ich mich schwer atmend auf die Couch. Offensichtlicher geht es wohl nicht. Der Typ hat echt ein Problem. Jackie setzt sich neben mich und ich strechle ihr über den Kopf. Mein Herz klopft wie wild. Leonardo macht mir wirklich Angst. Wobei soll ich ihm denn in die Quere kommen? Und was hat er dann vor? Ich will gar nicht darüber nachdenken. Aber wenn ich nicht darüber nachdenke, dann denke ich automatisch an Niklas oder Armando. Und das ist auch keine Lösung. Also denke ich doch an Leonardo und dabei wird mir eines klar: Jackie ist schuld. Wenn sie nicht raus gemusst hätte, dann wäre ich Leonardo nicht im Garten begegnet. Was machte der überhaupt da draußen? Welcher normale Mensch, oder auch Drache, treibt sich um elf Uhr in fremden Gärten rum?

Mit etwas wackeligen Schritten bewege ich mich die Treppen hinauf un will in mein Zimmer gehen um zu schlafen. Als ich an Manuels Raum vorbeikomme, dringen... sehr interessante Geräusche zu mir heraus. Super, dann hatten die beiden den Wink mit dem Zaunpfahl wohl nicht kapiert. Auch gut. Wenigstens liegt noch Emilias Zimmer zwischen meinem und Manuels. Extra laut lasse ich die Tür hinter mir zufallen und schmeiße mich auf mein Bett. Ich trage noch immer mein weißes Kleid, aber das ist mir egal. Vollkommen egal.

Ich weiß, dass letzte Kapitel ist schon ewig her. Und es tut mir ehrlich leid. Aber versprechen, dass es ab sofort häufigere Updates geben wird, kann ich auch nicht.

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