Eine haarsträubende Legende

Ich kann Helenas Freude auf den nächsten Samstag beim besten Willen nicht nachvollziehen. Meine blonde Freundin, aus deren Mund sich ein nicht enden wollender Wortschwall ergießt, grinst übers ganze Gesicht, als sie Pläne für den Ausflug in die Stadt schmiedet, den wir einmal pro Monat machen dürfen.

„Und weil Lukas und du ja jetzt selbst fliegen dürfen, brauchen wir uns nicht mehr an die Zeitvorgaben der Ältesten halten“, verkündet sie freudestrahlend. Ich kann ihre Fröhlichkeit nicht teilen. Schließlich sind wir immer zusammen mit Niklas in die Stadt gegangen. Und nun das erste Mal, seit wir Freunde und später ein Paar waren, alleine dort runter zu fliegen, widerstrebt mir vollkommen. Wie oft wir zusammen ein Eis gegessen haben oder ins Kino gegangen sind, obwohl wir das Geld, das wir bekommen haben, so viel sinnvoller hätten ausgeben können.

„Lukas!“, quietscht Helena neben mir. Im ersten Moment weiß ich gar nicht, wie mir geschieht, als sie an mir vorbei zu ihrem Freund stürmt, der lässig an der alten Fassade unseres Schulgebäudes lehnt. Ein Lächeln, das seine grauen Augen nicht erreicht, umspielt seine Mundwinkel, sobald er Helena entdeckt, die als blonder Blitz ihre Arme um seinen Nacken schwingt und ihn drängend küsst.

Einen Augenblick bleibe ich wie erstarrt stehen, kein meinen Blick nicht von den beiden aneinandergepressten Körpern lösen. Habe ich mich früher genauso verhalten, als Niklas noch gelebt hat? Ich hoffe nicht, das ist ja ekelhaft kitschig und nicht wirklich jugendfrei. Was die anderen Drachen wohl über die beiden denken? Was sie über Niklas und mich gedacht haben? Wobei, denen traue ich sogar zu, dass sie sich gefreut haben. Mehr Nachwuchs für einen Stamm, dessen Mitglieder reihenweise abkratzen, wird ihr einziger Gedanke gewesen sein.

Schnaubend und etwas beleidigt, dass Helena mich einfach so stehen gelassen hat, stampfe ich die Treppen zu dem alten Steinhaus hinauf, trete durch die schwere Holztüre und würde sie am liebsten hinter mir zuschlagen.

„Hey Luce!“, werde ich plötzlich begrüßt, als ich gerade den düsteren Flur entlang zu dem Raum, in dem ich Unterricht habe, laufen will. Überrascht bleibe ich stehen und blicke mich misstrauisch in dem länglichen, nur spärlich beleuchteten Eingangsbereich des Schulgebäudes um. Von dem Flur zweigen mehrere Türen ab, etwas entfernt führt eine schmale, viel zu steile Treppe ein Stockwerk höher, wo sich derselbe Flur noch einmal finden lässt. Und dort auf den Treppenstufen sitzt Johannes Ember, Clarissas jüngerer Bruder, der so alt wie Emilia ist. Ich murmle ein undeutliches „Hallo“ und will bereits an ihm vorbeigehen ohne ihn weiter zu beachten, als er von der Treppe herunter springt und sich mir in den Weg stellt.

„Alles okay bei dir?“, will er mit schiefgelegtem Kopf wissen. Er wirft einen Blick über meine Schulter, als würde er erwarten, dass dort jeden Moment jemand auftaucht. Wahrscheinlich hofft er sogar auf meine Schwester, zuzutrauen wäre es ihm.

„Mein Freund ist tot“, ist meine schlichte Antwort, da ich mögliche Fragen nach meinem ersten Kampf umgehen will. Johannes, der zugegebenermaßen aussieht wie einer der Weasley-Zwillinge von Harry Potter (wir haben zwar keine Fernseher, aber wie ich sagte: die Menschenstadt bergabwärts hat ein Kino), zieht eine Augenbraue nach oben.

„Das ist schon einen Monat her, reiß dich endlich zusammen“, sagt er ohne jedes Mitgefühl. Empört schnappe ich nach Luft und stemme meine Arme in meine Hüften. Jetzt ist es offiziell. Ein eingebildeter Egoist zu sein, ist anscheinend eine Erbkrankheit in dieser Familie.

„Lass mich vorbei“, knurre ich. Ich brauche keinen Spiegel, um zu wissen, dass meine blauen Augen wütend funkeln. Johannes zuckt überrascht zurück. Hitze breitet sich in dem dunklen Flur aus. Ich weiß, dass sie von mir ausgeht, aber das ist mir egal.

Der Weasley-Zwilling tritt zurück, Furcht steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ohne mich weiter um ihn zu kümmern laufe ich an ihm vorbei, es fehlt nicht viel und ich würde rennen. Meine Schritte hallen in dem langen Flur, es fühlt sich an, als würden sie tausendfach stärker in meinen Ohren wieder ertönen. Das Echo lässt mich erschaudern.

Ich betrete das Klassenzimmer und schlage die Tür hinter mir zu. Was fällt diesem... diesem rothaarigen Biest nur ein? Niklas ist tot und ich soll mich zusammenreißen? Er kennt mich nicht, er weiß nichts über mich, er hat kein Recht so mit mir zu reden.

„Lucia?“, ertönt eine besorgte Stimme unweit von mir entfernt. Blinzelnd blicke ich auf. Es ist noch jemand im Raum? Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die sieben Schreibtische mit den Stühlen dahinter sind neben der Tafel, dem Lehrerpult, zwei weiteren Stühlen und einem antiken Bücherregal die einzigen Möbel. Als ich die freie Stelle in der letzten Reihe entdecke, wo Niklas Schreibtisch gestanden hat, zucke ich zusammen. Ein Monat ist vergangen, seit er weg ist und noch immer zucke ich zusammen, wann immer ich daran erinnert werde, dass er nicht mehr da ist.

„Hallo?“, frage ich unsicher, da ich keine Person entdecken kann. Höre ich jetzt schon Stimmen? Falls ja, ist es wohl offiziell: Ich drehe durch. Ich lebe zwar in einem Drachendorf, aber das bedeutet nicht, dass es bei uns Geister gibt. Oder sonstige Quellen von körperlosen Stimmen. Das wäre richtig krass, wenn ich so darüber nachdenke.

Unter dem Lehrerpult tut es einen Schlag, jemand flucht. Ich runzle die Stirn und tappe vorsichtig durch den Raum, wobei ich meine Tasche neben meinem Tisch zu Boden gleiten lasse und neben meinem Platz unschlüssig stehen bleibe. Was bitteschön war das? Angst habe ich keine, in unser Dort wird sich niemals etwas bedrohliches verirren. Außer vielleicht ein Mitglied der sieben feindlichen Stämme, was aber relativ unrealistisch ist. Besonders: Was würde der hier in der Schule wollen? Nun gut, Leonardo scheint ja auch nicht gerade freundlich zu sein, aber auch ihn erwarte ich hier nicht. Oder viel eher hoffe ich inständig, dass er nicht vorhat mir einen weiteren Schrecken wie vergangene Nacht einzujagen.

„Es ist alles in Ordnung!“, verkündet meine Lehrerin Josephine Blaze, die Frau des Cousins meines Vaters, als sie unter ihrem Pult hervorkommt. Ich werde wohl besser nicht fragen, was zur Hölle sie dort verloren hatte. Die Stifte in ihrer Hand deuten darauf hin, dass sie nur etwas aufgesammelt hat.

„Und wie fühlt es sich an, richtig zum Stamm zu gehören?“, will die Frau, die mich seit Jahren unterrichtet, wissen. Beschissen. Ja, das trifft es. Sage ich natürlich nicht, sondern murmle irgendetwas von „Toll“, was zum Glück aber von Helena und Lukas unterbrochen wird, die in diesem Moment knutschend den Raum betreten. Wie sie das machen und gleichzeitig laufen kann ich nicht wirklich nachvollziehen, aber ich bin viel zu erleichtert um mir weiter Gedanken darüber zu machen.

„...und das war, kurz bevor der erste der acht Söhne des letzten Anführers vom Stamm des Feuers geboren wurde“, beendete Josephine, meine Lehrerin, ihren Rückblick in der Geschichte der Stämme, oder was auch immer das sein sollte. Wir sitzen nun schon zwei Stunden hier im Unterricht, meine Augen fallen mir immer wieder zu und es kostet mir einiges an Mühe, nicht einzuschlafen.

Was für einen Unterricht haben wir gerade? Geschichte? Mythen, Sagen und Legenden? Vielleicht auch eine der vier Sprachen, die ich lernen muss, in diesem Moment kann ich es nicht zuordnen.

„Diesem Anführer, dessen Name, wie ihr alle wisst, Leander war, erschien kurz, vor jener Geburt ein Zeichen im Traum. Er sah einen Drachen, der seiner Frau Sofia sehr ähnelte. Dieser legte acht Eier in ein Nest. Doch dieses Nest zerfiel kurz darauf in acht Teile und die Eier begannen zu glühen. Sie nahmen die Farben der Edelsteine Smaragd, Saphir, Rubin, Bernstein, Diamant, Aquamarin, Onyx und Opal an. Und gleichzeitig erschallte eine körperlose Stimme. Schlagt hierzu bitte Seite 391 in euren Büchern auf“, redet meine Lehrerin weiter. Sie steht vor der alten schwarzen Tafel, vor der bestimmt schon meine Urgroßeltern unterrichtet worden sind und zeichnet ein Bild von acht Eiern in einem Nest an die Tafel. Weshalb sie das tut, weiß ich nicht, wahrscheinlich sollen wir das sogar mit zeichnen. Wenigstens weiß ich jetzt, welches Fach wir haben. Das ist eindeutig MSL. Wobei, bei der Logik des Ältestenrates würde dieser Schwachsinn gut möglich sogar zu Geschichte gehören.

Missmutig ziehe ich den fetten Wälzer, der hier als Lehrbuch bezeichnet wird, auf die Mitte meines Tisches und werfe Helena, die am Nachbartisch sitzt, einen gelangweilten Blick zu. Diese jedoch blickt fasziniert in ihr Buch. Ich stutze. Noch nie, in den 13 Jahren, in denen wir gemeinsam zur Schule gehen, habe ich sie so aufmerksam und interessiert auf etwas starren sehen, das auch nur im entferntesten mit Schule zu tun hat. Kurz entschlossen bewerfe ich sie mit meinem Radiergummi und als sie dann perplex zu mir schaut, ziehe ich eine Augenbraue hoch. Helena deutet nur auf mein Buch und blickt dann – wieder mit derselben ungewohnten Konzentration - zurück in ihr Exemplar.

Überrascht blinzle ich. Will sie mir jetzt wirklich meinen Radiergummi nicht wiedergeben? Ich seufze, als sie keine Anstalten macht nach dem einst weißen Ding, das mir solch gute Dienste erweist. Werde ich wohl nachher selbst holen müssen. Eine wunderbare beste Freundin habe ich da. Jetzt liegt mein Radiergummi am Boden hinter ihrem Tisch und ich habe nichts, womit ich das sinnlose Gekritzel, dass ich vorhin während meiner geistigen Abwesenheit in meinen Block gekritzelt habe, entfernen kann.

„Lucia? Liest du bitte vor, was Leander in seinem Traum gehört hat?“, bittet Josephine mich und im ersten Moment weiß ich gar nicht wie mir geschieht. Habe ich mich freiwillig gemeldet? Nein. Folglich müsste sie doch verstehen, dass ich auch keine Lust dazu habe. Aber gut, das ist wohl Lehrerlogik. Es würde mich mal interessieren, ob menschliche Lehrer genauso nervig sind. Irgendwann finde ich das heraus, so viel ist klar. Ich könnte aber auch einfach Amelie fragen. Die hat bis zum Tod meiner Mum eine zeitlang als Lehrerin an einer menschlichen Schule gearbeitet. Sie hatte anscheinend keinen Bock mehr auf dieses viel zu strukturierte und von Krieg gezeichnete Leben hier beim Stamm. Kann man ihr wohl nicht verdenken.

„Lucia?“, werde ich ein weiteres Mal angesprochen. Mist, da war ja was. Hastig blättere ich in meinem Buch auf die angegebene Seite. Vor mir erklingt ein genervtes Stöhnen. Ich ignoriere meinen Klassenkameraden und beginne kurz die Seite zu überfliegen. Josephine, noch immer vorne an der Tafel klopft mit ihrem Fuß ungeduldig. Ein unausgesprochenes 'Wird's bald' liegt in der Luft. Ich lasse mich davon nur wenig beeindrucken. Die Legende von Leanders Spaltungstraum, so lautet die Überschrift der Seite. Recht einfallslos und langweilig, mir ist nicht ganz klar, wieso Helena das Ganze so interessant findet. Direkt unter der Überschrift befindet sich ein verblichenes Bild, das dem, das Josephine kurz zuvor gezeichnet hat sehr ähnelt. Acht Eier, alle farbig, befinden sich in einem Nest aus Laub und Ästen. Wie jemand auf die Idee kommt, das ein Drache einmal zwischen Laub und Ästen geschlafen hat, kann ich nicht nachvollziehen. Aber na gut, das Buch ist bestimmt 400 Jahre alt, wenn nicht gar älter, da hatte mein Volk wohl einen etwas anderen Lebensstandart.

Ein Räuspern erklingt. Mit einem Blick auf meine nun recht genervte Lehrerin beginne ich zu lesen: „Das Ende deines Stammes naht. Acht werden kommen, alle deines Blutes. Ihnen ist es verheißen zu regieren. Mit Edelsteinen in den Augen werden sie einen Krieg beginnen. Und ihresgleichen wird wiederkehren, alle eineinhalb Jahrtausende. Um zu führen und zusammenzuführen.“ Bei den Worten jagt es mir einen Schauer über den Rücken, ich bekomme eine Gänsehaut an meinen Armen. Das ist sie. Das ist die Legende, vor der Leonardo solche Angst hat.

Noch bevor ich meinen Blick hebe, spüre ich, dass die Augen meiner Klassenkameraden und meiner Lehrerin mich fixieren. Denn ich soll einer dieser Drachen sein.

Denn meine Augen sind blau. Saphirblau.

Ich hoffe ab sofort alle zwei Wochen updaten zu können. Aber ich kann nichts versprechen.

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