Die Ernennung

In meinem schneeweißen Kleid stehe ich vor dem Spiegel. Meine dunkelbraunen, fast schwarzen, normalerweise glatten Haare fallen mir lockig über die Schultern. Helena hat ganze Arbeit geleistet. Selbst hätte ich das niemals hinbekommen. Meine Freundin sitzt auf meinem Bett und beobachtet mich. "Du siehst wunderschön aus!", verkündet sie stolz. "Dank dir", ich muss grinsen, trotz allem was vorgefallen ist.

Meine Tür öffnet sich und Jackie stürmt herein, Amelie direkt hinter ihr. Die Hündin schnuppert vorsichtig an meinem knielangen Kleid, dann setzt sie sich direkt auf meine Füße, wie sie es immer macht wenn sie gestreichelt werden will. "Jackie!", protestiert meine Tante, die sich ebenfalls schick gemacht hatte und ein kurzes, blaues Kleid, das ihre blauen Augen betont, trägt. "Ist schon okay, ich hab meine neuen Schuhe noch nicht an." Amelie seufzt, verschränkt die Arme  und schüttelt mit offensichtlich gespieltem Ernst den Kopf. "Dann zieh sie dir schleunigst an, wir müssen los!"

Lachend laufe ich zu meinem Schuhschrank, in dem sich größtenteils feuerresistente Stiefel und ein paar Turnschuhe befinden. Für den heutigen Abend durfte ich mir aber zum Glück ein Paar schöne weiße Keilsanderletten kaufen. Echter Luxus wenn man in einem Drachendorf in den Alpen lebt. Schnell ziehe ich sie an und drehe mich dann um. Der Absatz ist ungewohnt, ob ich damit laufen kann ist fraglich, aber ich wollte es mir, als ich sie ihm Schaufenster unten in der Stadt sah, auf keinen Fall entgehen lassen sie zu kaufen. Sowohl Amelie als auch Helena sind von den Schuhen begeistert. „Da haben wir wirklich die richtige Wahl getroffen. Sie passen perfekt zu deinem Kleid!“, sagt Helena überschwänglich. Vorsichtig gehe ich ein paar Schritte, bis ich mich einigermaßen an die Schuhe gewöhnt habe. Mein einziges bisheriges Paar an denen sich ein nennungswürdiger Absatz befand waren die schwarzen Stiefel, die ich zum letzten Weihnachten bekommen hatte.

Amelie streicht sich ein paar hellbraune Strähnen aus der Stirn, die sich schon wieder aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst haben. „Helena, kommst du mit uns zu Lucias Ernennung oder gehst du mit deinen Eltern?“, wollte sie wissen und untersuchte ihr Kleid auf Falten. „Ich kann Luce doch nicht alleine dort hin gehen lassen. Natürlich komme ich mit euch, ich hab ja schon extra mein Kleid an!“, lacht sie. In Wahrheit will sie wohl sichergehen, dass ich auch wirklich komme und mich nicht unterwegs von irgendeiner Klippe stürze. Was natürlich nicht funktionieren würde. Ich bin ein Drache. Meine Instinkte würden mich davor bewahren auf dem Boden aufzuschlagen.

Es klopft an der Tür und ohne auf eine Antwort zu warten öffnet mein Bruder sie. Er lehnt im Türrahmen und mustert uns eine nach der anderen. „Die Damen sind so weit? Emilia wartet schon mit Jacob und Dad unten. Ihr solltet ihn mal sehen, nervös wie nochmal was.“ Er lacht in sich hinein. „Gut dann mal los!“ Grinsend schnappt Helena meine Handtasche und stürmt aus dem Zimmer, Jackie rennt ihr hinterher. Ich blicke noch ein letztes Mal in den Spiegel und atme tief ein. Jetzt nur nicht aufregen. Ich schaffe das. Meine Tante nimmt mich an der Hand und zieht mich förmlich aus meinem Zimmer. Ich will nicht zu der Ernennung. Ich muss aber zu der Ernennung. Seufzend gebe ich nach und folge ihr. Manuel schließt die Tür hinter mir, fährt sich noch einmal durch die schwarzen Haare und läuft uns dann hinterher.

Feierlich schreitet Amelie vor mir die knarrende Holztreppe hinab. Mit zitternden Gliedmaßen folge ich ihr. Unten blicken mir die Augen meiner Familie entgegen. Mein Vater, meine Schwester, mein Cousin. Mein Vater, Jonathan Blaze, hält eine Kamera in der Hand und lächelt mir entgegen. Als ich unten stehe kommt er auf mich zu und schließt mich in die Arme. „Ich wusste doch, dass du es schaffen würdest, meine Kleine“, flüstert er mir ins Ohr, „du bist ja nicht umsonst eine der Auserwählten!“ Ich rolle seufzend die Augen. Jetzt fängt er schon wieder davon an. Und alles nur wegen einer Augenfarbe. Als würde es irgendetwas bedeuten, dass meine Augen aussehen wie Saphire!

Nach der Meinung meines Vaters, dem Anführer des Stammes des glühenden Feuers, bin ich etwas ganz besonderes. Er ist der festen Überzeugung, dass es alle tausend Jahre in jedem Stamm einen Auserwählten Drachen gibt. Diese sollen Augen besitzen, die wie Edelsteine strahlen. Außerdem sollen sie stärker als alle anderen Drachen sein und dazu irgendwelche Gaben haben. Ich finde das ganze ja total bescheuert. Hätte ich es nicht schon längs bemerkt, wenn ich eine „Gabe“ hätte?

Dad lässt mich wieder los und öffnet uns die Tür. Der Dorfplatz und der „Überdachte Garten“, wie wir ihn nennen, liegen gar nicht weit von unserem Haus entfernt. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Sie werden Fragen stellen. Fragen, die ich nicht beantworten kann.

Als wir das Haus verlassen winselt Jackie und ich beuge mich zu ihr hinunter um sie zu streicheln. Sie darf nicht mit zu meiner Zeremonie, aber ich hätte sie wirklich gerne dabei. Jackie ist unglaublich gut darin vom Thema abzulenken, außerdem ist sie eine meiner besten Freundinnen, wie seltsam das auch klingen mag.

Die Abendsonne strahlt uns entgegen, der warme Sommerwind fährt durch die Blätter der Bäume und die Vögel zwitschern. Alles sieht aus wie immer. Fröhlich und langweilig. Und trotzdem zucke ich bei jedem Geräusch zusammen. Wovor ich in diesem Fall genau Angst habe weiß ich nicht. Besteht eigentlich die Möglichkeit, dass jetzt gleich ein Drache aus einem der anderen sieben Stämme hier auftaucht um allen mitzuteilen, dass ich geschummelt hatte? Wohl kaum. Hoffe ich zumindest.

Feierlich laufen wir den gepflasterten Weg durch unseren Vorgarten hinaus auf die Straße, die noch nie ein Auto gesehen hat. Wie sollte ein Auto denn überhaupt hier hoch kommen? Trotzdem wäre ich froh gewesen wenn hin und wieder mal eines um die Ecke biegen würde. Es würde ein Gefühl von Normalität vermitteln, außerdem hätte ich mich dann nicht so sehr erschreckt, als ich zum ersten Mal unseren Berg verlassen hatte um eine der Städte zu besuchen die weiter unten liegen.

An unserem Gartenzaun lehnt schon ein rothaariges Mädchen, Entschuldigung, natürlich eine rothaarige Frau, schmunzle ich als ich Clarissa erkenne. Sie ist die Verlobte meines Bruders und ich kann sie ehrlich gesagt nicht leiden. Meiner Meinung nach ist sie nur darauf aus den stärksten Drachen ihres Alters zu heiraten und ob das nun Manuel ist oder ob es irgendein anderer wäre ist ihr wohl egal. Manuel aber scheint das nicht zu bemerken, als ich ihn mal darauf hinwies hat er nur gelacht und meine Haare verwuschelt.

„Lucia! Herzlichen Glückwunsch! Es freut mich ja so, dass du es geschafft hast!“ Sie rennt auf mich zu und umarmt mich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie diese Show nur abzieht, damit mein Bruder glücklich ist. Wahrscheinlich wäre sie froh gewesen, wenn ich meinen Kampf nicht überlebt hätte. „Danke!“ Ich erwidere ihre Umarmung höflich, aber am liebsten hätte ich sie von mir weggestoßen. Als sie mich loslässt lächelt sie mich noch einen Augenblick freundlich an, diese falsche Schlange, und dreht sich dann zu Manuel um und nimmt seine Hand um an seiner Seite zu meiner Ernennung zu gehen.

Dad geht voran, ich direkt hinter ihm und die anderen folgen uns zum Dorfplatz wo schon fast der ganze Ort versammelt ist. Meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding als ich durch die Gasse, die die Dorfbewohner, als uns sie kommen sehen, bilden, schreite. Das Getuschel der Drachenmenschen verstummt schlagartig als sie mich erblicken und viele lächeln mir entgegen. Trotzdem entgeht mir nicht, dass es einige gibt, die mich mit ernsten Blicken mustern. Bei den meisten handelt es sich wohl um Leonardos Anhänger. Ich trottete hinter meinem Vater her zu der Bühne, auf der schon mehrere Stühle in einem Halbkreis angeordnet sind. Davor stand noch ein weiterer Stuhl: Der Stuhl, auf dem ich sitzen würde. Die Stühle waren bis auf einen, den meines Vaters, schon mit den Obersten Drachen besetzt. Auch Leonardo saß dort und lies seinen Blick kalt über mich wandern. Leonardo Scale ist ein etwas 30jähriger Mann mit nachtschwarzen Haaren und gruslig dunklen Augen. Gleichzeitig ist er der Stellvertreter meiner Vaters, was bedeutet, dass er nach dessen Tod unser Anführer wird. Schon heute schaudert es mich, bei dem Gedanken, dass er über uns bestimmen wird. Wegen diesem seltsamen Auserwähltenzeug, von dem mein Vater ständig redet hat Leonardo aber komischerweise Angst vor mir. Auch er glaubt, wie noch einige andere Dorfbewohner, dass ich irgendwann die Anführerin des Stammes sein werde. Aber alle anderen die das denken beobachten mich nicht mit Angst. Das tut nur er. Er will irgendwann einmal Anführer werden, dass weiß jeder. Es ist ja nichts Schlechtes daran, schließlich ist er ein großartiger Kämpfer und ein stolzer Drache. Nur der Blick mit dem er und seine Freunde mich mustern ist echt gruselig.

Mit zusammengebissenen Zähnen, damit man sie nicht vor Angst klappern hört, steige ich die drei Treppenstufen hinauf, dann laufe ich zu dem für mich vorgesehenen Stuhl und setzte mich. Ich schaue mich möglichst gelassen um. Gleich am Rand der Bühne steht meine Familie versammelt. Dahinter sind, natürlich in Menschengestalt, die anderen Drachen des Stammes des glühenden Feuers und einige nicken mir aufmunternd zu. Wenn die nur wüssten weshalb ich wirklich Angst habe.

Dad ergreift das Wort. „Drachen des Stammes des glühenden Feuers! Endlich ist es einmal wieder so weit. Ein neuer Drache kann ernannt werden. Es ist mir eine besondere Ehre, am heutigen Tage ihres sechzehnten Geburtstags meine Tochter Lucia Blaze zu einem vollwertigen Mitglied unserer Gemeinschaft zu ernennen!“ Er holt kurz Luft, bevor er fortfährt. „Lucia Blaze hat ihren ersten richtigen Kampf mit einem Drachen aus einem anderen Stamm gewonnen. Sie hat den fremden Drachen getötet!“ Die Menge jubelt. Ich glaube mir wird schlecht. Nur mühsam kann ich mein Zittern noch unterdürcken. „Vom heutigen Tage an, bis zu ihrem Tod, ist und bleibt sie ein wahrer Drache!“ Jetzt kommt der Teil, über den ich nie wirklich nachgedacht habe. „Lucia Blaze schwörst du auf dein Blut und das deiner Ahnen deinem Stamm zu dienen, für ihn zu kämpfen, für ihn zu leben?“ Ich erhebe mich, wie es Brauch ist und drehe mich zu Dad um. Will ich das wirklich? Wenn ich jetzt verneine muss ich den Stamm verlassen, aber ich wäre frei. Es würde mir freistehen zu tun was ich will, zu leben, wie ich will. Aber ich würde meine Familie nie wiedersehen. Mit fester Stimme rufe ich: „Ich schwöre!“ Ich weiß nicht, ob dies die richtige Entscheidung war. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es die falsche war. Ich gehe zu meinem Vater, der mir den traditionellen Dolch, mit dem ich mir die Hand aufschlitzen muss entgegenhält. Das Teil ist mindestens dreitausend Jahre alt und wird seither auch jedes Mal benutzt, wenn aus unserem Stamm ein Drache ernannt wird. Das Blut von so gut wie allen meinen Vorfahren hängt an diesem Teil. Egal ob es hin und wieder mal geputzt wird. Es ist einfach ekelhaft. Die Augen meines Vaters glitzern und es kommt mir fast so vor, als könnte ich dort Tränen entdecken, doch ich wische diese Idee gleich wieder aus meinen Gedanken. Schließlich ist mein Vater der Anführer des Stammes. Er weint nicht. Er ist stark und mutig.

Ich nehme den Dolch, an dem schon das Blut vieler anderer Drachen gehaftet hatte entgegen. Irgendwie wird mir schlecht, umso länger ich darüber nachdenke was es mit dem Dolch auf sich hat. Ich drehe mich zu der Menschenmenge um und hebe den Dolch an. Dann drehe ich ihnen meine linke Hand entgegen und ziehe ihn einmal quer über meine Handfläche. Das Blut läuft mir sofort hinunter und tropft auf den Boden. Ich gebe meinem Vater den Dolch zurück, dann muss ich etwas warten, bis meine ganze Handfläche blutüberströmt ist. Am liebsten würde ich die warme rote Flüssigkeit sofort abputzen, selbst wenn ich dadurch mein Kleid ruinieren würde. Dieses Kleid darf ich sowieso nur wenige Male in meinem Leben anziehen. Es ist das Kleid, das ich bei meiner Ernennung, bei meiner Hochzeit, falls ich je Heiraten werde, bei der Wandlung meiner Kinder und in meinem Grab tragen werde.

Als sich genug Blut gesammelt hat trete ich neben meinen Vater und lege meine Hand auf eine Leere Seite eines unglaublich dicken Buches, in dem alle vollwertigen Stammesmitglieder seit der Spaltung verzeichnet sind. Darüber wird mein Name stehen und darunter schreiben mein Vater und seine Nachfolger alle meine wichtigen Lebensdaten.

Mit dröhnender Stimme ruft mein Vater: „Ich, Jonathan Blaze, verkünde hiermit, dass Lucia Blaze von heute an ein wahrer Drache ist! Auf ewig eine von uns!“ Er reckt einen Arm in die Höhe, mit zur Faust geballter Hand und alle tun es ihm gleich. Auch ich recke meine Hand in die Höhe, wie es Brauch ist. „Auf ewig eine von uns!“, jubeln die Drachenmenschen, „Auf ewig eine von uns!“

Und jetzt gleich kommt der Teil, vor dem ich am liebsten fliehen will. Jetzt kommt das Fest.

 

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