Prolog

Nelya kletterte vorsichtig die alte Holzleiter hinauf, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Langsam streckte sie ihren Kopf durch die Luke zum Dachboden und sah sich um. Wie immer war der größte Teil des kleinen Raumes vollgestapelt mit Holzkisten in allen Größen; manche so klein, dass noch nicht einmal ein Apfel hineinpassen würde und andere so groß wie eines der leeren Weinfässer, die hier ebenfalls herumstanden. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Fenster, vor dem ein alter, hölzerner Schreibtisch stand, kunstvoll verziert und mit vielen Schubladen.

Über den Schreibtisch gebeugt saß auf einem kleinen Stuhl Nelyas Urgroßmutter Taya. Sie war schon sehr alt, selbst für einen Westmenschen*. Ihre Haare hatten sich jedoch nie grau gefärbt, auch heute, an ihrem 156. Geburtstag waren sie noch genauso Haselnussbraun wie die ihrer Enkelin, von der sie immer bloß „Großmutter" genannt wurde.

Nelya stieg leise durch die Luke und schlich auf Zehenspitzen über die Holzdielen in Richtung des Fensters. Doch bei ihrem nächsten Schritt trat sie versehentlich auf eine lose Diele und ein lautes Knarren verriet sie.

„Was tust du hier Nelya?" Großmutters Stimme klang freundlich, aber sie sprach hastig, während sie schnell ein paar Dinge vom Schreibtisch in eine kleine Kiste steckte.
„Ich wollte bloß fragen, ob du dir etwas bestimmtes wünschst für heute. Es ist doch dein Geburtstag."
„Ach liebes", meinte Großmutter, „ein kleiner Spaziergang mit dir würde mir schon reichen. Und vielleicht wärst du so freundlich, mir beim Keksebacken zu helfen, dann können wir später gemütlich vor dem Kamin sitzen und sie essen." Nelya strahlte. „Natürlich helfe ich dir!"

~•~

Später am Abend, als die Kekse gegessen und das Feuer im Kamin heruntergebrannt war, nahm das zwölfjährige Mädchen sich eine Fackel aus dem Flur und kletterte erneut auf den Dachboden. Sie hatte in der Kiste auf dem Schreibtisch etwas Silbernes funkeln sehen und es wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Vorsichtig trat sie vor das kleine Fenster und steckte die Fackel in den Halter daneben. Neugierig beugte sie sich über die Kiste und wieder sah sie ein silbernes Funkeln. Zögerlich griff sie danach, es war etwas Kleines, Hartes. Als sie ihre Hand wieder hervorzog musste sie ein Keuchen unterdrücken; im Feuerschein der Fackel funkelte auf ihrer Handfläche ein silberner Ring.

Einen Ring wie diesen hatte sie noch nie gesehen; das eine Ende war ein kunstvoll geschmiedeter Drachenkopf, das andere die Schwanzspitze und als sie ihn auf die Hand steckte sah er aus wie ein Drache, der sich um ihren Finger wandte. Kurz stand sie dort wie angewurzelt und starrte den Ring an, dann blickte sie erneut zu der kleinen Kiste.

Erneut griff sie hinein, diesmal beförderte sie ein altes Horn zum Hineinblasen zutage, dann ein ledernes Armband und eines mit Perlen aus Tigerauge. Sie dachte schon, die Kiste sei leer, als ihre Finger gegen etwas weiches stießen. Der letzte Gegenstand, den sie herauszog, war ein zusammengefaltetes, altes Stück Pergament. Neugierig faltete sie es auseinander und zuerst dachte sie, die Müdigkeit würde ihr einen Streich spielen.

Vor ihr lag im Licht der Fackel eine alte Landkarte.

„Das verlorene Reich von Ignîthar", entzifferte sie die alte Schrift.

„Ja, das Reich von Ignîthar", hörte sie auf einmal eine Stimme hinter sich. Leise schrie sie auf, ehe sie sich zu ihrer Großmutter umdrehte. „Ich... ich wollte nicht...", setzte Nelya an, doch Großmutter hob ihre Hand und brachte sie damit zum schweigen. Mit einem Seufzen griff sie nach der Karte und sagte dann: „Komm Kleines, ich erzähle dir eine Geschichte."

Gemeinsam kletterten sie vom Dachboden und setzten sich vor den Kamin. Nelya fachte das Feuer wieder an und nachdem sie sich in eine Decke gekuschelt hatte, begann Großmutter zu erzählen.

„Weit im Westen, jenseits des großen Meeres, liegt das verlorene Reich von Ignithar. Dort, im Königreich Ignîr, in der kleinen Stadt Neu-Ghor beginnt die Geschichte, die ich dir erzählen möchte, damals, als man die Lande dort noch einfach Ignîthar nannte und die Drachen aus dem Süden zurückkehrten."


*Als „Westmenschen" wurden die Menschen bezeichnet, die am Ende des goldenen Zeitalters aus den Landen im Westen kamen.

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