Kapitel 1
Wütend stampfte Taya mit dem Fuß auf. „Du bist so ein Idiot!", fauchte sie, ehe sie sich schwungvoll umdrehte und schon verschwinden wollte, als sie die beschwichtigende Stimme ihres großen Bruders vernahm. „Schwesterherz, warte!" Mit funkelnden Augen wandte sie sich zu ihm.
„Wieso hast du Vater erzählt, dass Lian mich im Schwertkampf unterrichtet hat? Du wusstest, er würde ihm verbieten, es weiter zu tun!"
Hilmar setzte bereits zur Antwort an, doch Taya kehrte ihm nun endgültig den Rücken zu und verschwand so schnell es möglich war, ohne ihre Eleganz zu verlieren, um die nächste Ecke. Dann fing sie an zu rennen, denn sie wollte nicht, dass ihr Bruder ihre Tränen sah.
Schließlich erreichte sie ihren Lieblingsplatz, eine schattige Ecke an der Stadtmauer Neu-Ghors, und setzte sich dort schluchzend auf den Boden. Die alte Eiche, die hier am Stadtrand wuchs, malte Schattenmuster auf Tayas Kleidung, während sie ihre Beine an den Körper zog und den Kopf auf die Knie bettete.
In ganz Ignithar schienen die Leute der Meinung zu sein, dass Mädchen ins Haus gehörten und unter keinen Umständen irgendetwas tun dürften, dass spaßig oder gar gefährlich sein könnte. Taya wollte den Kopf heben und in die Welt hinaus schreien, dass dies unfair und gemein war, doch wer würde ihr schon zuhören, dem vierzehnjährigen Mädchen aus der kleinen Stadt im Nordwesten von Ignîr.
Es war ein Lichtblick in ihrem Leben gewesen, als ihr großer Freund Lian, ein junger Krieger der Stadtwache, versprach, sie heimlich im Schwertkampf zu unterrichten, doch nun hatte ihn Bruder Hilmar all ihre Hoffnungen, eines Tages doch noch eine große Kriegerin zu werden, zunichte gemacht. Er war drei Jahre älter als sie und schon immer der äußerst lästigen Meinung gewesen, sie stets vor allen potentiellen Gefahren beschützen zu müssen. Doch wirklich eingesetzt hatte er sich nie für sie.
Eine Weile versank sie in düsteren Gedanken, ehe eine sanfte Stimme sie aufschrecken ließ. „Nicht traurig sein Prinzessin. Wir werden schon einen Weg finden. Solange die Sonne scheint, gibt es noch Hoffnung." Sie hob ihren Blick und betrachtete den jungen Mann, der sich vor ihr auf den Boden gehockt hatte. Blonde, verstrubbelte Haare, moosgrüne Augen und ein sanftes Lächeln, kein Zweifel, das war Lian.
„Ich sehe keine", ging sie auf seine Worte ein. „Vater hat nun ein Auge auf dich geworfen, vielleicht auch zwei, er wird streng darauf achten, dass du nicht zu viel Zeit mit mir verbringst. Je weniger, desto besser vermutlich."
„Seit wann so pessimistisch Prinzessin?", erwiderte Lian. „Früher oder später wird er seine Augen ohnehin auf den Osten lenken, jetzt, wo die Drachen zurückgekehrt sind. Und es wäre doch sehr unverantwortlich von mir, dir in solchen Zeiten nicht beizubringen, dich zu verteidigen", fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Taya seufzte halbherzig. „Dein Optimismus ist unschlagbar. Aber wir sollten erstmal abwarten, ob deine Prophezeiung sich bewahrheiten wird." In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Sarkasmus mit.
In diesem Moment durchdrang ein Hornstoß die Luft. „Das ist mein Zeichen. Schichtwechsel. Üb du auf jeden Fall weiterhin, was ich dir bereits beigebracht habe, doch eigentlich bin ich zuversichtlich, dass du bereits in der Lage bist, dich zu verteidigen. Du lernst schnell." Lian erhob sich und warf ihr ein ermutigendes Lächeln zu. „Wir sehen uns doch heute Abend?" „Natürlich!", erwiderte Taya. „Gut. Bis dann Prinzessin! Und nicht zu viel Trübsal blasen!" Dann war er weg.
~•~
Als Taya beim letzten Licht des Tages die große Stadthalle betrat, war diese bereits völlig überfüllt. Es war kaum verwunderlich, denn heute war das alljährliche Sternenfest oder auch Mîratholar, wie es in der alten Sprache hieß. Doch heute fand sich kaum noch jemand, der diese Sprache verstand oder gar selber sprach.
Die Halle war prachtvoll geschmückt worden, blaue und weiße Girlanden zierten die Decke sowie die mächtigen Pfeiler, die diese stützten. Die gesamten Wände waren mit kunstvoll geknüpften Teppichen behangen worden, die die Sterne in den unendlichen Weiten des Nachthimmels zeigten und in der Mitte der langen Holztische lagen Sternblumen, die silbrig im Licht schimmerten.
Taya lächelte, als sie durch die Tischreihen schlenderte, denn dieses Fest war ihr von allen im Jahr am liebsten. Schon immer hatte sie sich zu den Sternen hingezogen gefühlt und in so mancher Nacht hatten sie ihr Trost gespendet. Wie als ihre Mutter starb.
Damals war sie gerade fünf Jahre alt gewesen und sie hatte nur am Rande mitbekommen, dass ihre geliebte Mutter Iska schwer krank war. Dann, eines Abends, war ihr Vater zu ihr und Hilmar gekommen und hatte ihnen gesagt, dass es keine Hoffnung mehr gab. Taya hatte es nicht akzeptieren wollen, sie hatte geschrieen und geweint, bis ihr die Luft ausging und ihre Stimme nur noch ein heiseres Krächzen gewesen war. Spät in der Nacht hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, hatte sich auf die Stadtmauer gesetzt und zu den Sternen gesehen, die sie mit ihrem geheimnisvollen Licht umhüllten.
Irgendwann war ein älterer Junge vorbeigekommen und hatte sich neben sie gesetzt und einen Arm um sie gelegt. Stumm hatte er ihr Trost gespendet und sie später, als sie schon beinahe eingeschlafen war, nach Hause getragen. Auch die Nächte danach hatten sie immer zusammen auf der Mauer gesessen und irgendwann wurde Lian ihr bester Freund, obwohl er fünf Jahre älter war als sie.
Doch seitdem hatte sich alles geändert. Ihr Vater begann, sie kaum noch aus dem Haus zu lassen und verbot ihr alle möglichen Aktivitäten, die in seinen Augen „gefährlich und unverantwortlich" waren. Ihre Mutter fehlte ihr sehr, sie war immer der Meinung gewesen, dass Frauen genauso stark sein konnten, wie Männer, doch ohne sie fehlte Taya der Rückhalt, um sich weiter durchzusetzen und für sich selbst einzustehen.
Wie immer, wenn sie in Gedanken an diese Zeit verfiel, lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Energisch wischte sie sie weg. Heute wollte sie nicht traurig sein, nicht am Sternenfest. Sie setzte erneut ihr Lächeln auf, diesmal eindeutig gezwungen, und trat zu ihrem Vater, der bereits mit Hilmar an einem der Tische platzgenommen hatte.
Keno war ein großer Mann, nicht so muskulös wie die Krieger der Stadtwache, doch dafür mit außerordentlicher Intelligenz gesegnet, was ihm zu seinem Posten als Berater des Statthalters verholfen hatte. Seine hellblonden Haare standen in krassem Kontrast zu seinen schwarzen Augenbrauen und dunkelblauen Augen, doch dies verlieh seinem Aussehen einen kühnen Anstrich. Er war stets perfekt rasiert, was ihn jünger wirken ließ, als er war, und er lächelte gerne alle Leute an, die nicht seine Tochter waren.
Zu seiner linken saß Hilmar, der vom Aussehen her, genau wie seine Schwester, eher seiner Mutter glich. Unter seinem großen Helm, einem Erbstück der Familie, dass er stets auf seinem ein wenig zu groß geratenen Kopf trug, schauten gerade noch ein paar Strähnen seiner haselnussbraunen Haare hervor und mit seinen bernsteinfarbenen Augen musterte er konzentriert die Tischplatte vor sich, als gäbe es dort wer weiß was für spannende Dinge zu sehen, während sein Vater ihm offenbar eine Standpauke hielt. Taya schnappte ein paar Wortfetzen auf, die verdächtig nach „unverantwortlich", „kleine Schwester" und „kämpfen" klangen und verdrehte die Augen, während sie sich rechts von Keno auf die hölzerne Sitzbank plumpsen ließ.
Sogleich wandte ihr Vater sich ihr zu und bedachte sie mit einem tödlichen Blick, ehe er begann, die Standpauke von vorne zu halten, doch sie verschloss ihre Ohren und blendete ihn aus. Diesen Abend würde sie sich nicht von seinen verletzenden Worten ruinieren lassen.
Zu ihrem Glück gesellte sich bald Lian zu ihnen, auch er wurde selbstverständlich mit einem tödlichen Blick bedacht, doch er ignorierte es gekonnt und brachte das ganze Essen über Taya zum Lachen, indem er ihr absurde Geschichten von der Stadtwache erzählte. Der Hauptmann hatte doch tatsächlich vor ein paar Tagen sein Schwert im Gelände verloren und war fast von seinen eigenen Männern aufgespießt worden, als er sich nach einer nächtlichen Suchaktion ins Lager zurückschlich, denn er hatte, um seinen Stolz nicht zu kränken, den anderen nichts davon erzählt.
Nachdem das Essen beendet worden war, wurde traditionell der Sternentanz getanzt und Lian zerrte seine Freundin auf die Tanzfläche. Taya konnte nicht besonders gut tanzen, doch es machte dennoch viel Spaß, ein wenig mit dem jungen Krieger herumzuhüpfen. Und als sie spätabends gemeinsam auf der Mauer saßen hatte sie die Hoffnung, dass sich vielleicht doch alles zum Guten wenden würde.
Wie sehr sie sich doch täuschte.
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