Kapitel 57

"RUNTER"

Ich legte mich flach auf den Boden, robbte hinter eine Mülltonne und hielt den Atem an. Draco lag stumm neben mir. Seine Hand, mit der er mich hinunter gedrückt hatte, lag noch auf meinem Rücken, und ich konnte fühlen wie er zitterte. Mila kauerte keine zwei Zentimeter entfernt hinter uns und presste ihre schwarzen Flügel an die ebenso schwarze Wand. Der Mond spendete zu unserem Pech besonders viel Licht und erleuchtete das Dutzend Soldaten, das durch die Stille der Stadt geisterte und aufmerksam jedes Haus durchleuchtete. Die Dolche und Schwerter um ihre Hüften glänzten mörderisch im Schein des Vollmonds. Der schwarze Drache auf ihren Wappen fletschte bösartig die Zähne.
Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte meinen heftigen Puls zu beruhigen, so nah kamen uns die Soldaten. Ich konnte die braunen verschlammten Schuhe und die darüber gestülpten robusten Hosen beinahe ergreifen, wenn ich mich streckte. Draco tippte mich an, deutete dann auf den kleinen Spalt in der Mauer, aus dem wir bei unserer Anreise gekommen waren und nickte. Ich runzelte die Stirn, beobachtete die Soldaten wenige Meter vor uns und fragte mich, wie wir dorthin unbemerkt kommen sollten. Doch Draco brachte sich bereits in Position und rannte los. Wie angewurzelt sah ich ihm nach und stellte erleichtert fest, wie lautlos er an den Wachen vorbeischlich, durch die Nische in der Mauer kroch und sich gegen die Wand presste. Er reckte den Daumen in die Höhe und nickte. Ich stieß die Luft angespannt aus und blickte mich nach dem Harpyenmädchen um. Mila kauerte noch immer auf ihrem Platz gegen die Steine gelehnt und ihre grünen Augen waren angestrengt zusammen gekniffen. Anscheinend fragte sie sich, wie sie mit ihren wuchtigen Flügeln durch diese fünfzig Zentimeter Spalte passen sollte. Ich knirschte ungeduldig mit den Zähnen, zeigte auf ihre dunklen Federn und schüttelte energisch den Kopf. Schräg der Mauer gegenüber beobachtete ich, wie Draco ebenfalls mit den Zähnen knirschte und sein Blick auf die geschlossenen Haupttore fiel. Dies war der einzige Weg für Mila nach draußen. Verdammt...die Soldaten wissen noch nicht, dass wir hier sind. Aber die Männer da vorne am Tor. Wenn ich sie von hier aus bewusstlos werden lasse, wachen sie früher oder später auf und ziehen ihre Schlüsse, dass wir in der Nähe sind.
Ich veränderte meine Position, sodass ich die beiden Soldaten am Tor genau im Blick hatte. Prüfend drehte ich den Kopf nach links und rechts und vergewisserte mich, dass sie die einzigen Wachen dort waren.
Dann kniff ich die Augen zusammen. Sollte ich sie umbringen? Einfach auslöschen, so wie Jackie damals? Aber ist das dann noch auffälliger?
Mila kauerte sich zu mir hinunter und blickte mich nervös an. Ich fuhr mit dem Finger einmal quer über meinen Hals und zeigte ihr so meinen Gedanken. Das Harpyenmädchen riss die Augen auf und zuckte mit den Schultern.
Und wenn ich sie so umbringe, dass es nach einem Raubmord aussieht? Ich habe keine andere Wahl....
Ich schlich mit Mila näher an das Tor heran und fixierte die Rüstungen der Männer. Ein Schwertstoß. Mehr nicht.
Ich sammelte die Magie in meinen Händen und lenkte sie vorsichtig auf die Speere der beiden. Obwohl ich gleich zwei Menschen umbringen würde, blieb ich seltsam ruhig. Mehr noch, ich wollte herausfinden, ob ich dazu überhaupt in der Lage wäre.
Mit zusammengekniffenen Augen hob ich die Hände und riss sie mit einem Ruck an meinen Körper. Ein Stöhnen hallte herüber und ich wandte den Blick nicht ab, als ich die blutüberströmten Körper sah. Mila schluckte kaum merklich und machte sich bereit. Ich schaute zurück, sah die restlichen Soldaten in die andere Richtung gehen und rannte los. Mila dicht hinter mir. Mit einem Satz packte ich die Leichen und zerrte sie in ein Gebüsch.
Draco, der unbemerkt zu uns gestoßen war, fluchte und schüttete Erde und Blätter über die Blutflecken auf dem Boden. Dann zog er den Sattel hervor und knotete so hastig wie möglich alle Riemen auf. Mila sah ich bereits in der Luft über die Wolken fliegen, als ich die Gestalt wechselte und die Flügel ausbreitete.

"HEY! HIER GEBLIEBEN!"

Ein Schreck fuhr durch meine Glieder. Ich riss die Augen auf, wirbelte herum und sah die wütenden Soldaten auf mich zu kommen. "Lauf, Alisha!", brüllte Draco, der mittlerweile auf meinem Rücken saß, laut in meine Ohren und krallte sich in meine Schuppen. Ich klappte die Flügel wieder ein und jagte los. Überraschend welche Geschwindigkeit ich als Drache aufnehmen konnte. Die Bäume und Sträucher flogen an uns vorbei.
"Zur Schlucht", wieß mich Draco an und hatte große Mühe auf meinem Rücken zu bleiben. Die bodenlose Schlucht in der Nähe der Kleinstadt tat sich bald wie ein großer Spalt in der Erde auf. Nicht mehr weit. Nur noch zwanzig Meter.
Lautes Pferdestampfen hinter mir, ließ mich zusammenzucken, doch ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Die ohrenbetäubenden Hufe sagten mir, dass ich einen Zahn zulegen musste. Je näher wir der Schlucht kamen, desto mehr schwand meine Zuversicht es unversehrt bis dahin zu schaffen. Aber ich konnte von hier aus nicht abheben. Die Äste und Stämme würden meine Flügel komplett zerreißen und nochmal ging ich dieses Risiko sicher nicht ein.
Draco feuerte mich lauthals an und warf abwechselnd Äste und Lianen auf die Verfolger. Nur noch fünf Meter. Vier. Vielleicht schafften wir es ja doch. Die Klippe kam näher und näher. Nur noch einen Meter. Jetzt wagte ich doch einen Blick nach hinten. Das Hufgetrampel war leiser geworden und das beunruhigte mich irgendwie. Mit weitaufgerissenen Augen sah ich das Seil auf mich zu fliegen. Schneller, schneller, schneller. Ein halber Meter noch.
Das Seil wickelte sich um meine Füße, ich stolperte und krachte auf den Boden und schlitterte über die Kante der Klippe. Im rasenden Fall ging's nun bergab. Mein Beine waren zwar immernoch zusammen gebunden, aber meine Flügel nicht. Ich drehte mich blitzschnell um die eigene Achse, breitete die Schwingen aus und schoss nach oben. Draco schrie, als es fast senkrecht nach oben ging und wir keinen Fingerbreit an der Wand entlang nach oben flogen.
Kaum waren wir über den Rand gekommen, schossen Pfeile uns entgegen, denen ich nur mit Müh und Not ausweichen konnte. Weitere Seile wurden nach oben geschleudert und bevor sie noch auf die Idee kamen, Netze zu schießen, machte ich kehrt und flog so schnell es ging über die Wolken. Eins der Seile schlang sich nun auch um meine Vorderbeine und zurrte sich fest. Ich knurrte und tauchte durch die Wolkendecke. Hier war es still. Still und kalt. Mila wartete bereits mit verschränkten Armen. "Ihr habt euch aber Zeit gelassen!", bemerkte sie mit einem zynischen Unterton und legte den Kopf schräg. Ihre Flügel schlugen laut. Lauter als meine.
Ich bedachte sie mit einem finsteren Blick und zog leicht die Lefzen hoch. "Wir wurden etwas aufgehalten."
Draco schnaufte und lachte übertrieben. "Aufgehalten? Du hast sie wohl nicht mehr alle! Und Glück hast du verdammt noch mal auch noch! Die Seile haben sich nur um deine Beine geschlungen...."

Er zog ein Messer aus seinem Gürtel, beugte sich über meinen Rücken und begann die Seile zu zerschneiden. Ich würde gern die Gesichter der Soldaten sehen, wenn die Seile auf ihre Köpfe fielen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top