Kapitel 46

Verschlafen öffnete ich meine Augen. Ich lag im Bett meines Zimmer in der Zwergenstadt und schaute an die Decke. Die kleine helle Lampe strahlte Licht auf mich herab. Müde strich ich mir zerzauste Haarsträhnen aus dem Gesicht, schaute auf die Uhr neben meinem Bett und erschrak. Schon zehn Uhr? Ich musste meinen Freunden noch von meinen Drachenflügeln erzählen und das Treffen mit Ogrem stand auch noch an.
"Oh, verdammt!"
Hastig sprang ich aus dem Bett, zog mich an, band meine Haare zu einem Zopf und sprintete aus dem Zimmer. Die Räume meiner Freunde lagen direkt neben meinem, weshalb ich die Tür zu Dracos Zimmer aufriss und hineinstolperte. Die Vier standen um einen Tisch herum und waren konzentriert in eine Karte vertieft.
Als sie mich erblickten, hob Nelio den Kopf. "Du bist endlich wach! Wir dachten schon, du würdest den ganzen Tag verschlafen!"

Schnaufend zog ich meine Jacke an. "Warum habt ihr mich nicht geweckt?"

"Weil du uns wieder hinausgejagt hättest!" Er lachte und ich knurrte grinsend . "Was macht ihr hier?"

Dako bedeutete mir herzukommen und zeigte auf die Karte. "Das ist der kürzeste Weg nach Rakaki. Bist du sicher, dass du das alleine durchziehen willst?"

Ich trat ein paar Schritte zurück, biss mir auf die Lippe und kratzte mich verlegen am Kopf. "Nun, was das betrifft....haben wir vielleicht ein kleines Problem."

Philo zog die Augenbrauen hoch.
"Was für ein Problem?"

Ich holte tief Luft, schloss die Augen und wandelte. Der Drache in mir kämpfte sich nach oben. Es knackte und krachte, als ich auf alle Vieren sank. Meine Flügel hingen wie totes Laub von meinen Schultern. Scharfer Schmerz schoss durch meine Nerven und meine Vorderpfoten brannten höllisch. Mit einem kraftlosen Laut brach ich zusammen.

Stille. Philo trat an meine Seite und kniete sich zu mir nieder. Vorsichtig berührte er die silbernen Schuppen, die jetzt matt und glanzlos schienen.
"Was hast du gemacht? Du siehst furchtbar aus!"

Ich hob den Kopf und legte die Ohren an. "Ich bin vor Müdigkeit abgestürzt, als ich auf der Suche nach euch war. Es ist nicht schlimmer, als es aussieht."

Nelio seufzte. "Warum sieht man es dir immer an, wenn du lügst. Du musst zu einem Arzt. Kannst du laufen?"

Ich wandelte unter Ächzen zurück und ließ mich von Philo auf die Beine ziehen. "Klar doch", antwortete ich mit einem gequälten Lächeln.

Die Krankenstation lag in jenem Turm, in dem ich als erstes aufgewacht war. Wir klopften an einer weißen Tür mit einem roten Kreuz und traten ein. Eine kleine zierliche Frau saß über etwas gebeugt an einem Tisch und setzte ihre große Brille auf, als sie uns erblickte. Hastig sprang sie auf. "Ach herrje!",rief sie, nachdem sie uns erkannt hatte."Wer von euch ist denn verletzt? Was kann ich für euch tun?"

Nelio drückte mich nach vorne. "Alisha ist..."

"Ach du meine Güte, die Lichtbringerin?! Setz dich, Mädchen. Setz dich hierher!", forderte die quirlige Frau mich auf und rückte eine große Krankenliege zurecht. Man merkte, wie sie nervös wurde. Verständlich, wenn die einzige Hoffnung auf Freiheit plötzlich krank ist.
Widerwillig setzte ich mich auf die harte Arbeitsfläche.
Nelio verschränkte die Arme. Er mochte es nicht, wenn jemand ihn unterbrach. "Könnt Ihr denn Drachen heilen?"

Die Ärztin sah mich mit großen Augen an. "Drachen? Also naja, ich weiß nicht...."

Nelio nickte mir zu und wieder kämpfte sich mein Drache unter Schmerzen hinaus. Alle Vieren von mir gestreckt, lag ich auf der Liege, die unter meinem Gewicht gefährlich wackelte. Ich schnaubte und richtete meine smaragdgrünen Augen auf die Zwergin. Wie erstarrt stand sie da und blickte auf die riesige Echse vor ihr. Kopfschüttelnd rückte sie die Brille zurecht, räusperte sich kurz und verließ nach unverständlichem Gemurmel den Raum.
Ich schnaufte, legte den Kopf auf die Pfoten und ließ den Schwanz ruhig hin und her gleiten. "Denkt ihr, sie heilen meine Flügel?"

Philo lächelte mir munter zu. "Natürlich schaffen sie das! Sie müssen es einfach!"

Die Tür ging auf und die Zwergin huschte herein, gefolgt von einer weiteren zierlichen Frau in weißen Kleidern.
Ich hob neugierig den Kopf und nickte kurz zur Begrüßung. Die beiden Zwerge berieten sich kurz und schleppten mehrere Tuben, Pasten und anderes herbei, das ich noch nie gesehen hatte.
Anschließend scheuchten sie meine Freunde nach draußen. "Wir werden uns jetzt um sie kümmern!", versprach die Ärztin. "Aber das können wir nicht, wenn ihr hier drin seid!"

Philo machte noch den Mund auf und wollte etwas sagen, doch da war die Tür auch schon zu.
Etwas hilflos saß ich auf der Liege und beobachtete die zwei, während sie links und rechts an meine Seite traten. "Entspann dich, Alisha. Wir bekommen das schon wieder hin"

Ich nickte und zog die Krallen ein um mich zu lockern. Meine Muskeln waren angespannt vor Schmerz.
Die Zwerge arbeiteten still und leise, sodass ich sie weder sehen noch hören konnte. Plötzlich schoss ein rasender Stich meinen Hinterlauf hoch und ein Knurren entwich meinen Lefzen.
"Nicht bewegen!", befahl eine der beiden angestrengt, als ich mich nach hinten umdrehen wollte. Sie hielten meinen Knöchel fest umklammert, dann knackte es und der Schmerz ließ etwas nach. Der Knochen sprang zurück ins Gelenk.
Ein seltsamer Geruch drang mir in die Nase. Der gleiche Geruch, den ich gerochen hatte, als ich am ersten Tag die blaue Paste auf meine Verletzungen gestrichen hatte.
Ich spürte warme Hände auf meinem Hals, spürte, wie sie ihn sorgfältig nach weiteren Verletzungen abtasteten. Meine Ohren zuckten, als die Finger nach unten zu meinen Flügeln wanderten. Ein eisiges Kribbeln drückte sie nieder und ich drehte verblüfft den Kopf nach hinten. Die Zwerginnen hatten die Augen geschlossen und die Fingerspitzen gespreizt. Eine blaue Welle rollte aus ihnen hinaus und in meine zerfetzten Häute. Voller Spannung wartete ich, was passieren würde, doch zu meiner großen Enttäuschung passierte nichts.
Die beiden versuchten es erneut, doch wieder ohne Erfolg. Angst zerquetschte meine Seele. Die Angst nie mehr fliegen zu können.
Die Zwergin mit der dicken Brille seufzte und half mir aufzustehen. Ich verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene und atmete stoßweise. Zu sehr fürchtete ich mich vor ihren Worten.
"Alisha, es tut mir leid", begann sie. "Wir konnten mit unserer Magie deine Flügel nicht heilen. All deine anderen Verletzungen sind aber geheilt. Du kannst dich jetzt ungehindert zurückverwandeln."

Ich wandelte zum Menschen und schluckte entsetzt. "Das kann nicht sein! Es muss einen Weg geben, die Flügel wieder zusammenzusetzen. Gibt es denn niemanden, der mir weiterhelfen kann?"
Meine Stimme klang brüchig und rau.
"Was ist mit dem Bibliothekar?", meldete sich nun die andere zu Wort. "Er weiß doch sonst immer alles."

Die Ärztin stemmte die Hände skeptisch in die Hüften. "Der alte Theo? Ich werde ihn bestimmt nicht fragen. Der ist ein schlimmerer Sturrkopf als Ogrem! Aber du könntest recht haben. Schließlich kannte Theo auch die zweite Lichtbringerin."

Ich blinzelte überrascht. Er kannte Dragomira!
"Ich werde zu ihm gehen!", verkündete ich mutig. "Vielleicht hört er auf mich, auch wenn er sturr ist!"
Die Zwerginnen sahen mich nervös an. "Du solltest dich lieber ausruhen und wir schicken einen anderen zu ihm!"

Doch ich schüttelte nur energisch den Kopf und machte die Tür hinter mir zu, bevor sie noch etwas sagen konnten. Das letzte was ich wollte, war jemanden zu schicken, wenn ich selbst laufen konnte.
Meine Freunde saßen vor dem Zimmer und warteten stumm an die Wand gelehnt. Als sie mich erblickten, sprangen sie auf. "Ist was passiert?", fragte Philo alarmiert und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich winkte ab und rutschte die Treppen des Turmes hinunter. Die Bibliothek lag am anderen Ende der Halle und es dauerte bis ich mich durch die vielen Zwerge auf dem Marktplatz hindurch schlängeln konnte, doch irgendwann stolperte ich durch die kleine Tür in den großen Turm. Hier war es still und düster. Nur manche Lampen funktionierten und es hing der muffiger Geruch von alten Büchern in der Luft.
Etwas verloren schaute ich mich um und streifte leise durch die wuchtigen Bücherregale. "Hallo?" Meine Stimme hallte von den hölzernen Wänden wider. Der Boden knarrte unter jedem meiner Schritte. "Ist jemand da?", fragte ich erneut und diesmal lauter. Eine kleine Gestalt huschte mit gekrümmtem Rücken durch einen Nebenraum herein und stützte sich träge auf einen Stock. Ein weißer Bart bedeckte fast das gesamte runde Gesicht und strahlend blaue Augen stachen daraus hervor. Der alte Zwerg winkte ab, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich ächzend darauf nieder. Dann rutschte er an einen kleinen Holztisch, setzte sich eine Brille auf und schreib in einem Buch ohne mich zu beachten.
Ich jedoch ließ mich nicht so leicht abwimmeln. "Ich suche den Bibliothekar hier. Theo ist sein Name. Kennst du ihn zufällig?"
Er grunzte und murmelte: "Theo ist beschäftigt!"
"Es ist ziemlich wichtig."

Der Zwerg hörte auf zu schreiben und knurrte. "Er ist beschäftigt!"
Ich lächelte. "Du bist also Theo. Schön, dich kennenzulernen. Ich brauche deine Hilfe."

Er klappte das Buch zu, richtete sich mühsam auf und schaute mir ins Gesicht. "Dich hätte ich am wenigsten erwartet, Lichtbringerin. Was willst du von mir?"

Ich legte den Kopf schräg, fragte aber erst gar nicht woher ich mich kannte. "Ich brauche deine Hilfe! Die Ärztin auf der Krankenstation meinte, dass nur du mir weiterhelfen kannst. Es geht..."

"Um was? Um deine Magie?" Seine Stimme klang müde. "Da kann ich dir nicht helfen. Deinem Vorgänger hat es nichts genützt"

Ich blinzelte überrascht. Redete er von Dragomira?
"Es geht nicht direkt um meine Magie, sondern um meine Drachenflügel. Sie sind zerrissen und komplett zerstört. Kannst du etwas machen? Kannst du sie heilen?"
Ich biss die Zähne zusammen, zu sehr hatte ich Angst vor seiner Antwort.
Theo kniff die Augen zusammen. "Drachenflügel? Ich sehe keine Drachenflügel."

"Ich bin eine Drachenwandlerin, eine Drachenseele hat sich mit meiner verbündet und seitdem kann ich zum Drachen wandeln und fliegen und alles, was ein Drache eben machen kann.", antwortete ich schnell und gelangweilt. Ich hatte jetzt einfach keine Zeit für nähere Erklärungen.

Theo sagte nichts mehr, sondern bedeutete mir mitzukommen. Zögernd folgte ich ihm in das kleine Zimmer, aus dem er gekommen war. "Hast du jetzt eine Lösung oder ein Heilmittel? Ich brauche es dringend!"

Der Zwerg ging nach hinten und verschwand hinter einem Vorhang. Eine großer verstaubter Spiegel stand in einer Nische und spiegelte das Zimmer gespenstisch genau. Theo zog mich davor und deutete auf die glatte silberne Fläche. "Da ist deine Lösung."

Ich starrte in den Spiegel.
"Was soll das heißen?"

Der alte Zwerg streifte meine Handgelenke. Die silbernen Schatten leuchteten auf und kringelten sich um die Finger. Mein Blick glitt an meinem Spiegelbild hinunter und ich betrachtete sie, wie sie sanfte Vibrationen in meinen Körper schickten.


"Die Ärzte sind zu schwach um deine Verletzungen zu heilen.", begann Theo nachdenklich. "Aber du nicht...."

Ich stieß die Luft langsam aus und fuhr die leuchtenden Linien mit dem Finger nach.
"Das heißt, dass ich sie allein heilen kann. Aber wie? Ich weiß nicht wie!"
Meine Stimme klang frustriert.

Der Zwerg legte den Kopf schräg. "Du musst sie nicht heilen. Du musst lediglich deine Kraft mit den Ärzten verbinden. Wenn Sie genug Kraft haben, können sie deine Flügel vielleicht retten."

Adrenalin schoss durch meine Glieder. Kaum hatte ich mich ausgiebig bedankt, stürmte ich auch schon aus der Bibliothek über den Marktplatz, vorbei an den vielen Zwergen und den Turm hinauf. Bald waren meine Flügel wieder heil. Und ich würde meine Kraft spenden. Alles, wenn es sein musste.

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