Kapitel 5: Romi Grimborn
Hicks
Als ich erwachte, dachte ich zunächst, Ohnezahn würde mich abschlecken. Dann ging mir auf, dass es ein nasser Lappen war.
„Was- Wo bin ich? Was ist passiert?", fragte ich das Mädchen, das sich über mich gebeugt hatte. Irgendwoher kannte ich sie, was war nochmal ihr Name? Irgendwas mit R. Rina? Rumi?
„Du bist in Ohnmacht gefallen nachdem Viggo und Reiker gegangen sind. Da habe ich dich hierher gebracht."
"Wo bin ich?", krächzte ich heiser. Ich wollte mich aufsetzen, aber meine Glider waren wie gelähmt. Mit aller Kraft versuchte ich es erneut, doch abermals bewegte ich mich kein Stück. Bestürzt dachte ich schon, sie hätte mir eine Art Gift verabreicht, dann bemerkte ich die Lederriemen, die sich um meine Arme und Beine Schlangen und ich an die Liege fesselten.
Mit einem Mal drehte sich das Mädchen - Romi, stimmt, das war ihr Name - um und verschwand aus meinem Blickfeld. Eine Schublade wurde aufgezogen, mehrere Gegenstände klapperten und die Schublade ging wieder zu. Anschließend kam sie zurück, mit -
Beinahe fielen mir die Augen aus dem Kopf. In der linken Hand trug sie ein Messer, eine Spritze und mehrere Nadeln, rechts hielt sie zwei Flaschen, eins mit klarer Flüssigkeit und eins, das rotgold schimmerte, mit schwarzen Einsprengseln darin. Oh nein. Jetzt wusste ich, wozu sie hier war. Viggo hatte sie geschickt, damit sie mich folterte, um den Aufenthaltsort dieses mysteriösen Dämmerungsphönixes zu bekommen. Bienenschwärme aus Angst explodierten in meiner Brust.
Sie zog eine Spritze mit der klaren Flüssigkeit auf. Jetzt bloß nicht in Panik verfallen. Vorsorglich presste ich die Zähne aufeinander - auf keinen Fall würde ich anfangen zu schreien - kniff die Augen zusammen und wappnete mich gegen den Schmerz, der sicherlich gleich kommen würde. Denn was auch immer das für eine Flüssigkeit war, angenehm würde es bestimmt nicht werden. Steif wie ein Brett lag ich da und wartete, jegliche Panik in mein Inneres verbannt.
"Entspann dich, sonst wird das nie was", forderte das Mädchen auf einmal. War sie vollends übergeschnappt? Natürlich würde ich ihr dabei helfen, mir Schmerzen zu bereiten, was hatte sie denn gedacht? Das war ein Traum, ein verrückter Albtraum, aus dem ich gleich erwachen würde, das war die einzig mögliche Erklärung. Allerdings war dafür alles viel zu realistisch und hieß es nicht immer, dass man in Träumen keinen Schmerz verspürte? Nein, es musste echt sein, viel zu echt für meinen Geschmack.
Auf einmal schoss ihre Faust hervor und landete mit der Wucht einer Keule direkt in meinem Magen. Unwillkürlich musste ich nach Luft schnappen. Im selben Moment jagte sie die Spritze direkt in meine Schulter. Vor Schreck wäre ich in die Höhe gesprungen, wären da nicht die Fesseln gewesen. Merkwürdigerweise blieben die erwarteten Schmerzen aus. Keine brennende Kälte, kein qualvolles Reißen, nur ein leichtes Prickeln. War das hier etwa eines dieser heimtückischen Gifte, die erst nach einer Zeit wirkten, dann jedoch so stark waren, dass man davon wahnsinnig wurde? Allerdings gehörte es bestimmt nicht zur Wirkung dieser Gifte, dass mein gesamter linker Arm langsam taub wurde. Nicht einmal die Stichwunde schmerzte noch.
"Ähm, ist es normal, dass ich nichts spüre?", fragte ich sie verunsichert. Natürlich war sie immer noch meine Feindin, doch ich hatte immer die Ansicht vertreten, dass Nichtwissen schlimmer war als Wissen. Es gab keinen größeren Feind als die eigenen Ängste.
Ihre Reaktion jedoch war verblüffend. Sie schnaubte:
"Natürlich ist es das, oder willst du, dass ich dich ohne Betäubung nähe?" Na gut, das Schnauben war irgendwie klar gewesen aber nähen?
"Moment, heißt das, du willst mich verarzten?"
"Was hast du denn gedacht? Glaubst du, ich würde zulassen, dass du stirbst?" War das jetzt eine rhetorische Frage oder meinte sie das ernst? Und noch wichtiger: Glaubte ich das? Irgendwie schien jeder an diesem Ort hier darauf ausgelegt zu sein, mich vor immer größere Rätsel zu stellen. Wenn das noch lange so weiterging, würde ich noch verrückt werden.
"Ich werde jetzt gleich die Fesseln lösen, um dich umzudrehen. Du wirst hoffentlich nicht abhauen, oder?" Ihr Blick war dermaßen misstrauisch, dass ich gar nicht anders konnte als zu lachen.
"Sehe ich so aus als wäre ich in der Lage dazu?" Skeptisch beäugte sie mich, wie um meinen Zustand zu begutachten. Offenbar stimmte sie mir zu, denn sie öffnete die Riemen und rollte mich auf den Bauch. Anschließend schnallte sie den Schulterpanzer ab und schnitt ein kreisrundes Stück meines Anzugs rund um die Wunde frei.
"Jetzt bleib ganz ruhig liegen", mahnte sie, "Du wirst zwar nicht spüren, aber wenn ich danebensteche, dann muss ich wieder von vorne anfangen und so lange wirkt das Mittel nicht."
"Was ist das für ein Zeug?", fragte ich, um mich von der Nadel, die sich mir unaufhaltsam näherte, abzulenken. Ich hasste Nadeln und Spritzen aller Art. Schon irgendwie komisch, da flog ich in hundert Metern Höhe auf einem Drachen durch einen Pfeilhagel ohne dass es mir etwas ausmachte, bekam aber Angst, wenn ich von einer kleinen Nadel genäht wurde, die ich nicht einmal spüren würde. Komplett unlogisch, aber so war es nun mal.
"Verdünntes Schneller-Stachel-Gift."
"Schneller-Stachel-Gift? Das ist...schlau. Aber wie bist du daran gekommen? Ich bin noch nie einem Schnellen Stachel begegnet, der einen Menschen an sich heranlassen würde."
"Man muss einfach schnell sein." Schneller als der schnellste Drache, den es gab? Unmöglich. Offenbar hatte sie meinen skeptischen Blick bemerkt, denn sie fügte verschwörerisch hinzu:
"Außerdem haben die kleinen Kerle eine große Vorliebe für Muscheln." Ich runzelte die Stirn.
"Das heißt, du hast sie abgelenkt, dich von hinten angeschlichen, ihnen das Gift abgezapft und bist dann abgehauen. Aber sie hätten dich doch riechen müssen", gab ich zu bedenken.
"Nicht, wenn ich die Muscheln mit Drachenwurz präpariert habe. Schnelle Stacheln reagieren darauf recht stark. Schon ein Blättchen und du existierst für sie nicht mehr."
"Das ist genial!", rief ich begeistert, "Das muss ich sofort Fischbein erzählen! Du ahnst nicht, wie oft wir verletzte Drachen haben, die sich einfach nicht behandeln lassen wollen. Drachenwurz geht zwar auch, aber so viel haben wir nicht davon."
Vor lauter Aufregung wurde ich ganz hibbelig, so wie immer, wenn ich eine Idee für eine neue Erfindung hatte. Die jährliche Stachelwanderung wäre die perfekte Gelegenheit, um uns mit genügend Betäubungsmittel für ein ganzes Drachennest einzudecken. Auch als Waffe könnte man das Gift einsetzen. Ich müsste einfach nur losziehen, ein paar Muscheln holen, sie mit Drachenwurz einreiben und genügend Gefäße bereitstellen. Mal überlegen...in einem Monat kamen die Stacheln. Wenn ich jetzt anfing, dann müssten wir noch ausreichend Muscheln besorgen können und - Mit einem Mal fiel mir wieder ein, wo ich mich befand. Ohne ein Wunder würde ich wohl kaum die Gelegenheit dazu bekommen. Abgesehen davon hatten wir wirklich wichtigere Probleme als das.
"So fertig. Jetzt sehen wir uns mal deine Rippen an." Fertig? Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Romi überhaupt angefangen hatte, doch da sie mich auf den Rücken drehte, musste es wohl so sein.
"Hochkrempeln", befahl sie. Ungelenk zog ich mit der rechten Hand das Oberteil bis zu den gebrochenen Rippen hoch.
Du meine Güte. Ich hatte zwar erwartet, dass es schlimm sein würde, aber das hier... Mein Oberkörper war violett und blau angeschwollen, Krusten von getrocknetem Blut zogen sich über ihn hinweg und an den Bruchstellen ragten kleine Hubbel raus. Schockiert schnappte Romi nach Luft.
"Was ist denn mit dir passiert?"
"Reiker." Daraufhin hustete sie, was sich verdächtig nach "Dreckskerl" anhörte.
"Hätte ich mir ja denken können", fügte sie hinzu, was mich mehr erstaunte als der Anblick meines Körpers. Deswegen fragte ich auch:
"Ihr seid doch Geschwister. Müsstet ihr da nicht zusammenhalten?"
Ihre Reaktion erinnerte mich unweigerlich an Astrid. Exakt den selben Blick legte sie immer auf, wenn ich versuchte, mich mit ihr über ein Thema zu unterhalten, das ihr nicht gefiel. Er besagte förmlich "Halt die Klappe, sonst breche ich dir etwas" und trotzdem hätte ich alles gegeben, um jetzt bei ihr zu sein und diesen Blick zugeworfen zu bekommen. Ach Astrid. Ich vermisste sie, mehr als ich je zu träumen gewagt hätte.
"Glaubst du ernsthaft, dass man immer der selben Meinung wie seine Verwandten ist und alles gut findet, was sie tun?", wollte Romi plötzlich schnippisch von mir wissen. "Nein, sonst hätte ich mich ja nicht gegen den Willen meines Vaters mit Ohnezahn angefreundet", schoss es mir durch den Kopf.
"Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nein. Da das also geklärt ist, weiter mit der Behandlung. ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit." Energisch schlang sie die Riemen wieder um meine Handgelenke und Knöchel und zurrte sie eng zu, enger als vorher, so eng, dass sie mir das Blut abschnürten.
"Was soll das? Ich dachte -"
"Du hörst lieber mal auf zu denken. So nah am Herzen zu betäuben wäre gefährlich und es wird gleich ziemlich wehtun. Wenn du um dich schlägst, mache ich womöglich noch etwas falsch."
Irgendetwas an diesem Mädchen war komisch. In einer Sekunde war sie freundlich und offen, in der nächsten verschlossen und mürrisch. Sie verbarg etwas, dessen war ich mir sicher und deswegen hatte sie ich einen Panzer zugelegt. Die Frage war nur: Was war ihr -
"Aaah!" Ein unendlich scharfer Schmerz explodierte in meiner Brust und verbreitete sich von dort in meinen ganzen Körper. Einen Augenblick lang war mein gesamtes Sichtfeld rot. Wäre ich nicht festgebunden gewesen, hätte ich wohl Romi bis ans andere Ende des Zimmers geschubst. Nach zwei endlosen Sekunden verblasste der Schmerz und ich konnte wieder klar sehen. Völlig ungerührt stand Romi vor mir und genauso ungerührt meinte sie:
"Bist du ein Wikinger oder ein Baby?" Danach schob sie auch die andere Rippe zurück in Position. Immerhin war ich jetzt darauf vorbereitet gewesen, trotzdem tat es auch diesmal höllisch weh.
"Bist du fertig mit flennen? Ich würde jetzt gerne die Paste auftragen." Was bildete dieses Mädchen sich eigentlich ein? Noch nie hatte ich jemanden, der so frech war getroffen und ich lebte immerhin mit Rotzbakke und den Zwillingen zusammen. Allerdings war sie eine verdammt gute Heilerin . Vorsichtig strich sie die rot-gold schimmernde Flüssigkeit auf die gebrochenen Rippen. Staunend sah ich zu, wie sie von meiner Haut aufgesogen wurde und bemerkte ein warmes Kribbeln.
"Was ist das?", erkundigte ich mich neugierig. Lächelnd erklärte Romi:
"Der Speichel eines Dämmerungsphönixes. Er heilt Wunden, aber ich ich habe nur sehr wenig davon."
"Sag mal, was ist überhaupt ein Dämmerungsphönix? Alle reden die ganze Zeit davon, nur ich habe keine Ahnung, was das für ein Drache ist."
"Es gibt einen Drachen, den du nicht kennst? Ich dachte immer, du wärst...na ja... der Drachenexperte überhaupt", lachte sie. Aus irgendeinem Grund verärgerte mich dieser Satz. Ich hatte es noch nie leiden können, wenn Leute dachten, ich würde alles wissen. Also fiel meine Antwort auch entsprechend unwirsch aus:
"Nein, bin ich nicht. Es gibt Leute, die viel mehr über Drachen wissen als ich, Fischbein zum Beispiel. Außerdem entdecken wir andauernd neue Drachenarten. Und jetzt zurück zu diesem Dämmerungsphönix. Wie sieht er aus?"
Verträumt starrte Romi in die Ferne. Keine Ahnung, ob das echt war oder gespielt, die Wirkung war jedenfalls ziemlich gut.
"Er ist wunderschön. Eigentlich ist er nur eine Gendefekt vom Tagphönix, der immer dann hervortritt, wenn der Drache in der Dämmerung schlüpft. Hast du schon mal einen Tagphönix gesehen?" Ich schüttelte den Kopf.
"Na gut. Also, er hat vier Flügel, dafür aber keine Beine, und ist recht groß, ein bisschen kleiner als ein Riesenhafter Alptraum. Das Fell an der Unterseite ist kürzer und dunkelrot, am Rücken ist es etwas länger und schwarz, mit silbernen und goldenen Einsprengseln." Ungläubig unterbrach ich sie:
"Ein Drache mit Fell? So etwas habe ich noch nie gesehen."
"Wie gesagt, er ist ziemlich ungewöhnlich. Er hat sogar Federn. Außerdem kann sein Speichel heilen und das Feuer kann je nach Bedarf glühend heiß oder eiskalt sein. Wenn er ein Ei legt, schlüpft daraus übrigens wieder ein Tagphönix. Oder ein Nachtphönix, wenn er bei Nacht schlüpft. Die sehen übrigens genauso aus, nur die Farben sind anders. Und das Feuer eines Tagphönixes ist immer heiß, so wie das eines Nachtphönixes immer kalt ist. Kalt im Sinne von so kalt, dass es wieder brennt. Heilend ist übrigens nur der Dämmerungsphönixspeichel, die anderen sind giftig. Von den drei Drachen ist er der tollste, allerdings ist er sehr selten", schwärmte sie.
"Weißt du, was mich verwirrt?", meinte ich verwundert.
"Dass ein Drache ohne Schuppen überhaupt ein Drache ist? Denn eigentlich sind Drachen ja Reptilien und Reptilien haben Schuppen. Andererseits legen sie Eier und speien Feuer und das tun Drachen für gewöhnlich. Ja, mich verwirrt das auch."
"Was? Nein - äh, doch - ich meine..." Frustriert schüttelte ich den Kopf. Romis Ausführungen hatten mich ganz wuschig gemacht. "Du hast Recht, das ist schon ziemlich verwirrend, aber was ich sagen wollte ist, dass ich nicht verstehe, dass du eine Drachenjägerin bist. Du hörst dich nicht an als würdest du Drachen hassen."
So wie sie den Dämmerungsphönix eben beschrieben hatte... Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie für eine Beschützerin des Flügels gehalten. Vielleicht war sie ja auch mit Fischbein verwandt. Wobei, lieber nicht, sonst wären Fischbein und Viggo ja ebenfalls... Halt, es reichte! Ich dachte schon wieder dummes Zeugs. Aber offenbar hielt Romi meine Idee für genauso abwegig, denn sie lachte hell:
"Ich eine Drachenjägerin? Du hast ja Ideen! Wow, ich hätte nie im Leben gedacht, dass du so witzig sein kannst." War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung? Die Grimborn'sche Undurchsichtigkeit meldete sich mal wieder.
"Viggo würde mich doch nie im Leben auf eine Mission mitgehen lassen. Er denkt immer noch, ich könnte nicht auf mich selbst aufpassen. Nein Romi, das ist zu gefährlich. Romi, wenn dir etwas passieren würde, dann würde ich mir das nie verzeihen. Dabei kann ich besser kämpfen als die meisten seiner Männer."
Das klang mal so gar nicht nach dem Viggo, mit dem ich es zu tun gehabt hatte. Von allen Überraschungen der letzten Tage war das hier vielleicht die Größte. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es tatsächlich jemanden gab, der diesem kaltherzigen Psychopathen etwas bedeutete. Oder hatte er dabei mal wieder einen Hintergedanken? Irgendwie konnte ich nicht glauben, dass Viggo zu so etwas wie Zuneigung oder gar Liebe fähig war. Allerdings klang Romi ehrlich. Nur eine Sache hatte mich stutzig gemacht. Klar hatte sie auf meine Frage geantwortet, im Grunde jedoch war sie ihr ausgewichen, was meine Vermutung bekräftigte. Sie verbarg etwas. Vielleicht war das hier die Gelegenheit, um hinter ihr Geheimnis zu gelangen.
"Das erklärt nicht, warum du hierbei mitmachst", bohrte ich beharrlich weiter, "Und jetzt komm mir bitte nicht damit, dass es Familientradition ist, das entschuldigt nämlich gar nichts."
"Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte", erwiderte sie schmallippig, "Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Meine Eltern wurden von Drachen getötet."
"Oh. Das wusste ich nicht, tut mir leid."
"Braucht es dir nicht. Ich war noch ganz klein, ich kann mich kaum an sie erinnern. Viggo hat mich praktisch allein aufgezogen, dabei war er selbst nicht einmal erwachsen und voller Trauer. Ihn hat das damals am meisten mitgenommen, Reiker hat sich nie gut mit ihnen verstanden. Und ich kann sie nicht vermissen, weil ich mich an nichts erinnern kann, das ich vermissen könnte. Du siehst also, ich brauche dir nicht leid zu tun." Für einige Augenblicke schwieg sie, bevor sie leise weiterredete.
"Nur manchmal frage ich mich, wie sie wohl waren. Wie sie ausgesehen hatten, was sie am liebsten gemacht haben. Und dann fühle ich mich immer so komisch leer, so als ob ich ein Loch in mir drinnen hätte. Ab und zu stelle ich mir auch vor, dass sie uns beobachten. "
"Und dann glaubst du, es ist deine Pflicht sie zu rächen. Ich weiß wie es dir geht, auch meine Mutter ist bei einem Drachenangriff ums Leben gekommen. Selbst jetzt habe ich manchmal noch das Gefühl, sie zu enttäuschen. Aber dann erinnere ich mich wieder daran, wofür ich kämpfe."
"Wofür kämpfst du denn?" Es war eine ehrliche Frage, eine neugierige, eine unsicher-schüchterne. Die Frage eines Kindes, das wusste, dass es die Frage nicht stellen durfte, dass es sich damit auf verbotenes Gebiet begab. Die Art von Frage, die nur heimlich gestellt wurde, leise, damit es die Eltern nicht mitbekamen, die Überwindung kostete. Eine völlig einfache, die dennoch schwer zu beantworten war. Dementsprechend ließ ich mir auch Zeit mit der Antwort. Solch eine Frage verdiente eine aufrichtige Antwort und ich wollte nicht aus Hast etwas Falsches sagen.
"Ich kämpfe für eine Welt des Friedens zwischen Menschen und Drachen. Ich kämpfe für eine Welt, in der Menschen und Drachen frei sind, das zu tun, was sie möchten, ohne Angst vor einander haben zu müssen. Ich kämpfe, damit alle ein glückliches Leben führen können. Ich kämpfe, damit es keine Kämpfe mehr gibt. Denn Drachen sind nicht böse. Die meisten sind sogar ausgesprochen freundlich. Und wenn ein Drache dir einmal vertraut, dann ist er dir ein Leben lang treu."
"Woher weißt du das?"
"Mein bester Freund ist ein Nachtschatten. Er hat mir schon hunderte Male das Leben gerettet. Wir beide..." Wie sollte ich das jetzt erklären? Die Bindung zwischen einem Drachen und seinem Reiter konnte man nur verstehen, wenn man es selbst erlebt hatte.
"Wir sind mehr als nur Freunde. Wir sind miteinander verbunden, eine Einheit. Ich könnte nicht ohne ihn leben und er nicht ohne mich", schloss ich nach einer langen Pause.
"Moment mal, willst du mir gerade sagen, du bist mit einem Drachen befreundet? Einem Nachtschatten? Wie soll das denn gehen? Ihr könnt ja nicht einmal..."
"Miteinander reden? Nein, das nicht, aber wir verstehen uns auch ohne Worte. Manchmal habe ich das Gefühl, Ohnezahn kann Gedanken lesen. Er merkt immer, wenn es mir nicht gut geht. Außerdem kann er seine Meinung ziemlich deutlich ausdrücken, vor allem, wenn ihm etwas nicht gefällt. Du ahnst nicht, was für eine alte Nörgelzicke dieser Drache sein kann." Bei der Erinnerung an Ohnezahns kleine Eskapaden musste ich schmunzeln, gefolgt von einem Lachen. Schon wieder hatte er es geschafft, mich aufzuheitern, dabei war er nicht mal hier! Wie machte er das bloß?
"Aber eigentlich ist er ein totales Schmusekätzchen. Er ist so was von verspielt, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die ganzen Geschichten von wegen Nachtschatten seien bösartige Monster, das ist alles nur gelogen."
In diesem Augenblick legte sich ein Schatten über Romis Gesicht. Innerhalb von Sekunden nahmen ihre Mundwinkel einen bitteren Zug an, die Augenringe verfinsterten sich und eine dünne Zornesfalte teilte ihre Stirn in zwei Hälften. Ihre zuvor noch freundlich funkelnden Augen wurden hart wie Stahl. Auf einmal trat die Ähnlichkeit mit ihren Brüdern deutlich zutage. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
"Ach ja? Alles nur gelogen? Alles nur gelogen? Soll ich dir mal was sagen?" Schrill bohrte sich ihre Stimme in meine Ohrenund ihr wutentbrannter Blick durchnagelte mich unbarmherzig.
"Es war ein Nachtschatten, der meine Eltern umgebracht hat. Ein Nachtschatten, hörst du? Also erzähl mir nichts von deinem tollen Freund, ich glaub' dir nämlich kein Wort. Ich wette, er gehorcht dir nur, weil du genauso böse bist. Die ganzen Toten sind deine Schuld! Oder glaubst du ernsthaft, dass alle es überleben, wenn ihr mal wieder unsere Männer angreift? Aber so naiv kannst nicht mal du sein. Weißt du, was du bist? Ein Monster! Und ich hasse dich!" Ruckartig drehte sie sich um.
"Die Behandlung ist vorbei. Wache, bring ihn in eine Zelle. Und sorg dafür, dass er nicht abhaut!"
Die ganzen Toten sind deine Schuld! Oder glaubst du ernsthaft, dass alle es überleben, wenn ihr mal wieder unsere Männer angreift? Aber so naiv kannst nicht mal du sein. Weißt du, was du bist? Ein Monster! Und ich hasse dich! Seit Tagen kreisten mir diese Sätze im Kopf herum. Seit Tagen versuchte ich zu ergründen, wie es zu dieser Eskalation kommen konnte. Seit Tagen wunderte ich mich über dieses mysteriöse Mädchen, aus der ich einfach nicht schlau wurde. Seit Tagen bangte ich um meine Freunde auf Berk und seit Tagen fragte ich mich, ob das wirklich meine Schuld war.
Meinen Schätzungen nach waren drei Tage vergangen seit dem Vorfall im Medizinzelt und noch zwei weitere seit der Gefangennahme durch Reiker. Da ich in all der Zeit nichts zu essen bekommen hatte, knurrte mein Magen mittlerweile so laut wie eine Horde wütender Schrecklicher Schrecken.
"Schnall deinen Gürtel mal lieber ein bisschen enger", dachte ich mit einem Anflug von bitterem Humor, "So eine Diät kann ganz schön schlauchen." So gut es ging ignorierte ich das Knurren und wälzte mich zum x-ten Mal hin und her, in der Hoffnung, doch noch eine halbwegs bequeme Position auf dem kalten, harten Steinboden zu finden. Dabei schlug ich mir erneut den Kopf an der Wand an. Bestimmt hatte ich schon über zehn Beulen. Warum musste es hier drinnen nur so stockfinster sein? Nicht der geringste Lichtstrahl fiel durch das winzige vergitterte Fenster in der Tür.
Kein Licht, aber dafür jede Menge Geräusche. Das Lachen von zwei Drachenjägern beim Kartenspiel - oder Fluchen, wenn sie verloren - , der Schrei eines Glutkessels, der bestimmt schon ganz ausgetrocknet sein musste, leise Schritte, die allmählich lauter wurden. Konnte man hier nicht mal in Ruhe schlafen? Offensichtlich nicht. Im Gegenteil, die Lautstärke stieg immer weiter an. Wütende Stimmen schallten durch die Gänge.
"Was soll das, Sie sind nicht autorisiert, diesen Bereich zu -" Dumpf knallte etwas auf den Boden, gefolgt vom metallischen Klirren aufeinandertreffender Waffen.
Was ging da vor sich? Waren etwa meine Freunde gekommen, um mich zu befreien? Zum ersten Mal seit (schätzungsweise) fünf Tagen verspürte ich wieder Hoffnung.
"Ich bin hier!", machte ich auf mich aufmerksam. Unmittelbar darauf schwang die Zellentür nach vorne und öffnete mir den Weg in die Freiheit. Hindurch fiel eine Wache, mitten aufs Gesicht.
Dahinter stand eine schmale Gestalt. Aufgrund der Dunkelheit lag ihr Gesicht im Schatten, zudem war es von einer Kapuze und einem Schal verdeckt. Dennoch erkennte ich die Person sofort. Nur wenige waren in der Lage, an all den Wachen vorbeizukommen und nur eine von ihnen trug solche spitzen Schulterschützer, einen Waffenrock, eine Kapuze und kämpfte mit einer Doppelblattaxt.
"Heidrun!", rief ich erfreut, "Was machst du -" Sie hatte einen Finger auf die Lippen gelegt und gab mir ein Zeichen, aufzustehen. Schwankend leistete ich ihren Anweisungen Folge, mich mit einer Hand an ihr abstützend. Meine Rippen waren zwar einigermaßen verheilt, die Schulterwunde hingegen machte mir noch zu schaffen (ich war mir sicher, dass Reikers Messer vergiftet gewesen war) und die lange Zeit in der Finsternis ohne etwas zu essen hatte ebenfalls ihren Teil geleistet, um mich noch schwächer als vorher zu machen, sodass ich meine Mühe hatte, mit Heidrun mitzukommen, die flink durch die Gänge huschte. Keine einzige Wache entdeckte uns, denn in allen Fällen schlug Heidrun sie k.o. bevor sie nur einen Mucks von sich geben konnten.
Ohne irgendwelche Schwierigkeiten gelangten wir aus dem Gefängnistrakt heraus. Leise überquerten wir den Hof und schlichen zwischen den Zelten hindurch. Als wir an den Käfigen vorbeikamen, hielt ich inne, um die Drachen zu befreien. Augenblicklich wurde ich von Heidrun weitergezogen.
"Was soll das?", flüsterte ich empört, "Wir können sie doch nicht einfach hier lassen." Energisch schüttelte sie den Kopf. Offenbar sollte die Flucht unbemerkt bleiben.
"Na schön, aber ich komme wieder", wisperte ich, eher zu mir als zu ihr. Kein Lebewesen verdiente es, in Gefangenschaft zu leben.
Nach kurzer Zeit erreichten wir ein kleines Waldstück abseits des Lagers, wo wir einigermaßen versteckt waren. Langsam fiel die Anspannung von mir ab, nicht jedoch die Fragen und davon gab es einige:
"Wie bist du hier rein gekommen? Da sind so viele Drachenjäger, dass nicht einmal ein Wechselflügler sich da durchschleichen könnte. Ganz zu schweigen von den ganzen Schiffen, Katapulten und Bogenschützen. Und wie hast du mich überhaupt gefunden? Das Drachen-Schiff-Dings war doch die ganze Zeit unter Wasser. Und - Heidrun?"
Wo war sie hin? Gerade eben hatte sie doch noch neben mir gestanden. Auf einmal kam mir der düstere Wald ganz schön unheimlich vor. Hatten die Bäume vorher auch schon wie Menschen ausgesehen oder bildete ich mir das nur ein? Da, ein Rascheln im Gebüsch! War das Heidrun? Allerdings passte diese Art von Streich nicht zu ihr, so etwas hätte ich eher von den Zwillingen und Rotzbakke erwartet.
Nur was, wenn es gar kein Streich war? Was, wenn es eine Falle war und jemand sie überwältigt hatte? Was, wenn dieser Jemand noch hier war? Die Antwort darauf lautete: So schnell wie möglich machen, dass ich wegkam. Aber ich konnte Heidrun nicht einfach so zurücklassen. Sie hatte mich gerettet und außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Viggo und Reiker nicht so gut auf sie zu sprechen waren. Andererseits konnte ich ihr auch nicht helfen, wenn wir beide gefangen waren. Und ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wo sie sich befand. Aber sie deswegen im Stich lassen, das ging nicht. Sie war unsere Freundin, hatte mehrmals ihr Leben für uns riskiert und ganz allgemein würde ich mich sowieso niemals davonmachen, solange jemand in Gefahr war. Nur was sollte ich bloß tun? Ich war allein, verletzt und hatte weder Waffen, noch einen Drachen in der Nähe. Obwohl... Vielleicht war Windfang irgendwo hier versteckt. Sie würde mir bestimmt helfen, Heidrun zu retten.
Auf einmal schwirrte ein Pfeil haarscharf an meinem Kopf vorbei und bohrte sich zitternd in den Boden. Okay, das änderte die Lage. Tot nütze ich Heidrun ganz bestimmt nichts. Nun hieß es rennen, sofern ich nicht erschossen werden wollte. Bloß in welche Richtung? Die Angreifer konnten von überall kommen und ich wusste nicht, wo Windfang gerade war, falls sie überhaupt Heidrun begleitet hatte.
In dem Moment erregte das Gebrüll eines Drachen meine Aufmerksamkeit. Sofort rannte ich in dessen Richtung. Mir egal, ob es Windfang war oder nicht, mit einem Drachen konnte ich umgehen. Ich musste dort sein, bevor die Jäger bei mir waren. Jedoch kam es nicht dazu, denn ohne jede Vorwarnung knallte etwas Hartes mit voller Wucht gegen meinen Hinterkopf. Mir war klar, dass ich bei Bewusstsein bleiben musste, aber ich hatte keine Chance. Es dauerte nur Sekunden bis eine undurchdringliche Schwärze mich umhüllte.
So, endlich fertig mit dem 5. Kapitel. 4200 Wörter, das ist mein bisheriger Rekord! Tut mir leid, dass länger nichts kam, aber ich war erst auf Klassenfahrt, dann musste ich noch meine GFS machen, wir schreiben Unmengen an Arbeiten und ich habe eine Musik- und eine Theateraufführung. Kann also sein, dass es wieder ein bisschen dauert, bis das nächste Kapitel kommt. Ich versuche aber, mich zu beeilen. Übrigens habe ich noch eine Frage: Weiß jemand von euch, wie man einen Absatz macht, ohne dass man dabei eine Zeile überspringt? Ansonsten geht das bei mir ja auch, aber bei Wattpad funktioniert es nicht. Falls jemand mir helfen kann, schreibt es bitte in die Kommentare.
Eure Elementara
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