Kapitel 4: Drei sind eine zu viel

Hicks

Schon seit Stunden saß ich hier in dieser winzigen Zelle und wartete angespannt darauf, dass eine Wache kam und mich in Viggos Hauptquartier brachte, wo er dann...keine Ahnung, was er dann mit mir machen würde, doch es war bestimmt nichts Gutes. Ich war ja schon in vielen schlimmen Lagen gewesen, aber das hier übertraf echt alles. Bis jetzt war wenigstens immer irgendjemand von meinen Freunden hier gewesen. 

Und dann noch die Sache mit Berk... Einen so zerstörerischen Angriff hatte ich noch nie erlebt. Dabei lebte ich auf Berk, das früher so gut wie jeden Tag mit Scharen wilder Drachen gekämpft hatte. Doch selbst damals hatte es immer eine Chance gegeben, den Angriff abzuwehren, im Gegensatz zu jetzt. Wie aus dem Nichts waren die Granaten hervorgezogen und hatten alles zerstört, was mir lieb war. Wikinger waren gefallen, mutige, starke Männer und Frauen...solche wie Grobian. Wie ein Vater war er mir gewesen, hatte mich immer beschützt und nun sollte er nicht mehr da sein? Das war nicht fair.

Das Leben ist nun einmal nicht fair, flüsterte diese kleine, heimtückische Stimme in meinem Kopf. Ich wusste nicht, was ich ihr entgegensetzen konnte, übermächtig verdrängte sie alles andere in meinen Gedanken. Du hättest das verhindern können, fuhr sie fort, aber die Freiheit von ein paar Drachen scheint dir wichtiger zu sein als das Leben der Menschen. 

"Das stimmt nicht", widersprach ich schwach, "Woher hätte ich das wissen können?" Du weißt doch wie Viggo ist. Wenigstens Astrid hättest du retten können. Aber nein, halt, du warst ja zu schwach. Wer weiß, vielleicht ist sie auch schon tot. Tot, weil du versagt hast. 

"Sie ist nicht tot. Das glaube ich nicht. Viggo ist ja gleich abgehauen, nachdem Dagur gekommen ist." 

Jedes einzelne Wort war eine mühsame Qual. Ach, was rede ich da, jeder Atemzug schmerzte wie tausend Messerstiche. Reiker hatte so stark zugeschlagen, dass ich nicht wusste, ob ich das überleben würde. Doch, überleben würde ich. Viggo würde schon dafür sorgen. Aber die anderen...Hoffentlich ging es ihnen gut. Wenn ihnen auch noch etwas zustoßen würde, dann würde ich mir das nie verzeihen. Tausende Gefühle kämpften in mir um die Oberhand. Angst, Trauer, Schuld, Verzweiflung...Ein jedes von ihnen hatte mich fest im Griff und wartete nur darauf, dass ich endlich aufgab. Aber am stärksten war die Wut. Viggo würde dafür bezahlen. Er würde für all das bezahlen, was er den Drachen und den Menschen auf Berk angetan hatte. Er würde dafür bezahlen und dann würde ich derjenige sein, der die Oberhand hatte. Mal sehen wie es ihm gefallen würde, alles zu verlieren, was ihm wichtig war. Und er würde es sehen. Dafür würde ich sorgen.

Was redete ich denn da? Offenbar hatten die Schmerzen meinem Verstand ziemlich zugesetzt. So dachte ich doch sonst nicht, was war nur mit mir los? Ich musste unbedingt wieder zur Vernunft kommen, denn bald würde Reiker kommen und mich zu Viggo bringen und dann musste ich bei klarem Verstand sein. Rache war keine Lösung. Denselben Satz hatte ich schon fünfhundert Mal gesagt. Das Problem war nur, dass Nichtstun auch keine Lösung war. Was sollte ich bloß tun? Um ehrlich zu sein, wusste ich es nicht und mein Kopf dröhnte noch schlimmer als zuvor. Wahrscheinlich war ich eh nicht in der Lage zu kämpfen oder überhaupt irgendetwas zu machen. 

Zusätzlich zu den Schmerzen zermürbten mich auch noch die ganzen Sorgen. Sorgen um Astrid, Sorgen um Berk, Sorgen um Ohnezahn, Sorgen um meinen Vater und Sorgen über die Zukunft der Drachen. Am liebsten hätte ich mal eine Pause von all dem gehabt. Leider war das nicht möglich. Ich musste stark sein, oder wir alle waren verloren. Glasklar schwebte mir dies vor den Augen wie eine riesige Wolke des Hohns. Das war mal wieder typisch. Mein einziger vernünftiger Gedanke und er war so deprimierend. Astrid würde jetzt vermutlich sagen, ich mache mir mal wieder unnötige Sorgen, aber das Schlimme war, dass es ja stimmte. 

Mit einem Mal riss ein lauter Knall mich aus meinen Gedanken. Im Gang war eine Tür gegen die Wand geknallt und jetzt stapften schwere Schritte in meine Richtung. Dann flog die Tür auf und Reiker stand im Rahmen. Wollte er mich jetzt wieder verprügeln? Unwillkürlich wich ich ein wenig zurück. 

"Aufstehen und mitkommen." 

"Freundlich wie immer", murmelte ich und versuchte, mich hochzustemmen. Ich gab mein Bestes, jedoch versagte mir mein Körper den Dienst und ich blieb einfach liegen. Wütend zwang ich meine Muskeln zu gehorchen, aber auch beim zweiten Versuch brachen meine Arme unter mir zusammen. Von Reiker kam ein Grunzen, ob es nun missbilligend oder ein Lachen war, konnte ich nicht feststellen. Er kam auf mich zu und warf mich dann wie einen Sack Fisch über seine Schulter. Empört protestierte ich, aber er sagte nur: 

"Mund halten." Resigniert seufzte ich, denn eine Wahl hatte ich ja nicht wirklich. 

Er trug mich durch die Gänge des Schiffes, ging aber dann an Viggo Büro vorbei und schob mich durch die Luke aufs Deck, bevor er sich selbst daran machte, hochzuklettern. Kurz erwog ich zu fliehen, allerdings brachte ich kaum die Kraft auf, um aufzustehen, also ließ ich es bleiben. Unmittelbar darauf tauchte auch Reikers Kopf auf und er hob mich wieder hoch. Offenbar waren wir angekommen, denn er stapfte über einen Steg an Land, genauer gesagt in einen Hafen.

Unzählige Drachenjäger reparierten Schiffe, bauten Katapulte oder saßen einfach nur herum. Gefühlt jeder zweite von ihnen machte sich über mich lustig wie ich da von Reikers Schulter baumelte. Der Weg ging weiter zwischen lauter Zelten hindurch und endete dann vor dem größten von ihnen. Viggos Privatzelt.  

Dort angekommen, ließ er mich auf einen Stuhl fallen und fesselte mich. Als er meine Rippen verschnürte, tanzten schwarze Punkte vor meinen Augen und ich musste nach Luft schnappen. Fast hätte ich mich übergeben, aber ich schluckte die bittere Galle hinunter und richtete meinen Blick nach vorn. Bisher war noch niemand da, aber ich zweifelte nicht daran, dass Viggo gleich hereinspazieren würde. Ich fragte mich, was er diesmal von mir wollte. Würde er mich wieder wegen Ohnezahn bearbeiten?

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gebracht, da stolzierte er auch schon aus einem Nebenzimmer herein und setzte sich mir gegenüber. 

"Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten", begrüßte er mich mit einem entschuldigenden Lächeln, das so falsch war wie alles an ihm. 

"Ach, nur ein bisschen." Ich gab mir alle Mühe ruhig zu bleiben, aber es war fraglich, wie lange ich diese dünne Mauer aus Selbstbeherrschung aufrechterhalten konnte. Sie war ziemlich schwach und ich war sehr wütend. 

"Mein lieber Hicks. Du machst dir gar keinen Begriff davon, wie sehr es mich erleichtert, dass du hier bist. Als du vom Schiff gesprungen bist, da dachte ich einen Augenblick lang, du würdest ertrinken." 

"Ach ja? Schön zu wissen, dass du dir Sorgen um mich machst."

Er lachte.

"Hicks, mein Guter, weißt du, ich weiß deinen Sarkasmus zu schätzen. Wirklich. Das macht all das um so viel interessanter. Ich werde ihn vermissen, wenn unsere gemeinsame Zeit vorbei ist. Wann dieser Zeitpunkt jedoch kommt ... Nun, das hängt von dir ab."

"Was willst du jetzt schon wieder von mir?"

 Und schon ging es los. Verdammt, ich musste ruhig bleiben. Mich nicht provozieren lassen. Ruhig.

"Nun, selbstverständlich deinen Nachtschatten. Du hast nicht zufällig deine Meinung geändert?" Erneut pochte Wut in mir hoch, allerdings konnte ich sie unterdrücken und antwortete kalt: 

"Lass mal überlegen, wie soll ich das ausdrücken? Nein! Und das werde ich auch nicht."

 "Du bist so stur wie ein altes Rumpelhorn. Schade, ich hätte gedacht, der Angriff auf Berk hätte dich zur Vernunft gebracht." Jetzt reichte es. Wie konnte er es wagen? Ohne Rücksicht auf meine Verletzungen sprang ich auf, den Stuhl auf meinem Rücken. Sogleich riss Reiker mich zurück und drückte mich auf den Stuhl, was mich allerdings nicht daran hinderte, Viggo einen so hasserfüllten Blick zuzuwerfen, dass er eigentlich tot umfallen müsste.

„Ach Hicks, jetzt schau mich nicht so an. Du bist selbst daran schuld." Ich wandte den Kopf zur Seite und ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund. Hatte er womöglich Recht? War das alles meine Schuld? Ja, raunte der zweifelnde Teil in mir, doch instinktiv wusste ich, dass ich nicht auf ihn hören durfte. Viggo manipulierte mich nur und wollte mich zum Aufgeben bewegen, aber das würde ich nicht. Niemals.

Trotzig hob ich wieder den Kopf und presste die Lippen zusammen. Dies quittierte Viggo mit einem Seufzen und verkündete: 

„Nun, das war zu erwarten. Aber genug von dem Geplauder, kommen wir zu dem, wieso wir hier sind." Oje, was kam jetzt? Was hatte er sich diesmal ausgedacht, um an Ohnezahn zu gelangen? Ich hatte seine Worte auf dem Schiff noch gut in Erinnerung und ich zweifelte nicht daran, dass er seine Drohung auch umsetzen würde.

„Du siehst sehr angespannt aus. Keine Sorge, ich werde dir nichts tun." Ein „Noch nicht" schwebte mitten im Raum, jeder konnte es sehen, obwohl er es nicht ausgesprochen hatte. Trotzdem blieb ich angespannt, bei Viggo wusste man nie.

„Ich möchte dir lediglich ein paar Fragen stellen. Also: Wo ist mein Dämmerungsphönix?" 

"Dein was?" 

"Dämmerungsphönix. Ein sehr seltener Drache, den du mir gestohlen hast." 

"Erst einmal sind Drachen freie Wesen. Sie gehören nur sich selbst. Daher kann weder von 'deinem' Dämmerungsphönix die Rede sein, noch kann ich ihn gestohlen haben. Ich befreie die Drachen nur und bringe sie zurück in die Freiheit, wo sie hingehören. Und zweitens habe ich keine Ahnung, wovon du redest", fasste ich zusammen. 

"Dann sag mir mal bitte eins. Wie viele Leute kennst du, die sich an all meinen Wachen vorbeischleichen, nur um einen Drachen wie du es sagst zu 'befreien'?" Na schön, nicht gerade viele. Meine Freunde auf keinen Fall, das hätte ich gemerkt. Vielleicht waren es ja die Beschützer des Flügels. Wobei, die hielten sich eher zurück.

"Wer auch immer das war, ich war das nicht. Glaub mir oder glaub mir eben nicht, das ist alles, was ich dazu zu sagen habe."

Nun war meine Neugier geweckt. Wer konnte das bloß sein? Tatsächlich kämen schon ein paar Leute in Frage. Heidrun vielleicht, oder Dagur. Auch von Mala konnte ich mir das gut vorstellen. Mein Vater? Nein, der hätte sich auf jeden Fall zu erkennen gegeben, außerdem waren so Einzelaktionen nicht sein Ding. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung. Allerdings brauchte ich das auch gar nicht. Diese Person verschaffte uns auf jeden Fall einen Vorteil. Mal abgesehen davon, dass es eine himmelschreiende Schande war, fühlenden Wesen so etwas anzutun, brachte jeder verkaufte Drache Viggo neues Gold ein. Und je mehr Leute begriffen, dass es falsch war, Drachen zu jagen, desto besser.

"Na gut, das hatte ich mir anders erhofft, aber wenn du nicht reden willst, dann ist das deine Entscheidung. Gehen wir dann zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung über. Ich würde dir gern meine Schwester vorstellen. Romi, komm doch herein." 

Ein etwa 18-jähriges Mädchen schob sich durch den Zelteingang und stellte sich neben Viggo, der einen Arm um sie legte. Sie war ein wenig kleiner als ich, schlank, aber dennoch durchtrainiert. Über ihrem eng anliegenden dunkelroten Oberteil hing ein Messergürtel, ein Schulterpanzer mit dem Wappen der Drachenjäger schützte ihre rechte Schulter. Rechts und links ihrer Hüfte baumelten zwei dicke, breite Lederstreifen hinab, eindeutig dazu gedacht, sie vor Verletzungen beim Schwertkampf zu bewahren. Dazu noch dunkle Haare, die zu den Spitzen hin etwas heller wurden und zu zwei lockeren Zöpfen geflochten waren, ein kantiges Gesicht und stahlblaue Augen, die mich forschend musterten. Um sie herum lagen dunkle Ringe. Jep, sie war eindeutig eine Grimborn.

Ernsthaft, noch eine von denen? Das war definitiv zu viel. Eigentlich waren auch zwei schon zu viel, aber ich konnte nicht noch einen drachenjagenden Psychopaten gebrauchen. Psychopatin in dem Fall. Und da hatte ich gedacht, dass es nicht noch schlimmer werden konnte.

„So so, du bist also der der berühmte Hicks. Schon viel von dir gehört." Sie sprach leise, aber klar verständlich. Ihre Stimme war genauso ausdruckslos wie die ihres Bruders, klang aber merkwürdig jung an diesem Ort. Dennoch war sie voller Feindseligkeit und ich hätte mich nicht gewundert wenn sie mir im nächsten Moment an die Gurgel gesprungen wäre. 

„Ganz richtig, Schwesterchen." 

„Ich hatte mir ihn ... größer vorgestellt." 

"Ja, er ist nicht sehr eindrucksvoll, nicht wahr?" War das deren Ernst? Ich wusste schon, dass ich nicht den typischen Wikingermaßen entsprach, das brauchte mir nicht jeder unter die Nase zu reiben. 

„Trotzdem ist er nicht zu unterschätzen. Ein intelligenter Bursche, auch wenn er ein wenig verstockt ist. Dabei ist das doch gar nicht nötig." War das ein Kompliment oder eine Drohung? Wahrscheinlich beides.

Mittlerweile fiel mir das Atmen immer schwerer. Die Fesseln drückten genau auf die Bruchstellen und das schummrige Licht verstärkte meine Kopfschmerzen. Jedes Mal wenn ich mich bewegte, schienen Blitze durch meinen Körper zu schießen und mein linker Arm war komplett taub. Wenn ich nicht bald ärztliche Versorgung bekam, dann sah es nicht gut für mich aus. Doch von wo sollte sie bitte schon kommen? Viggo würde mich sicher nicht behandeln, soviel stand fest.

„Bruder, warum hast du sie hergeholt", fragte Reiker missbilligend mit einem verächtlichen Blick zu Romi. Eifersucht versteckte sich hinter seinen Worten, die aber keiner außer mir zu bemerken schien. 

„Sie soll sich um unseren Gast kümmern, solange wir noch Geschäfte zu erledigen haben. Romi, hättest du die Güte?"

„Ich soll was?" Widerwillig seufzte sie. 

„Na schön. Aber beeilt euch, klar?" War ich denn so schlimm? Ihren Worten nach könnte man meinen, ich wäre so wie die Zwillinge oder Rotzbakke oder meinetwegen auch Gustav. Freundlichkeit war hier wohl zu viel erwartet. 

"Vielen Dank, Schwesterherz." Viggo stand auf und verließ das Zelt, gefolgt von Reiker. So wie es aussah, war ich jetzt wohl alleine mit deren Schwester.

„Du, komm mit", befahl sie knapp. Als ich nicht reagierte, packte sie meine Schulter und schüttelte mich. Unglücklicherweise erwischte sie dabei meine verletzte Schulter und ihre Finger bohrten sich genau in die Wunde. Eine Welle von Übelkeit überspülte mich, wurde dann aber von dem unendlich starken Schmerz verdrängt. Das Letzte, was ich mitbekam, war das Mädchen, das sich erschrocken zu mir herunterbeugte, dann wurde alles schwarz.

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