Kapitel 25: Was jetzt?
Hicks
Der Rückflug erinnerte mich an einen Trauermarsch. Ja, wir hatten den Granatenfeuerdrachen befreit - doch zu welchem Preis? Wir hatten Romi bei den Drachenjägern zurücklassen müssen, nachdem Astrid mich benachrichtigt hatte, war sie nicht mehr zu finden gewesen. Bestimmt war ihre Tarnung aufgeflogen, bestimmt war Viggo bei ihr, bestimmt lieferten sie sich gerade den Streit ihres Lebens. Und abermals flogen wir davon, mussten uns sammeln für einen erneuten Angriff.
Dabei hasste ich es, anzugreifen, ich hasste es, diese ewigen Kämpfe. Würden sie denn nie aufhören? Egal, was wir machten, immer ging etwas schief. Vielleicht würden wir uns noch mit Viggo bekriegen, wenn wir schon längst alt und grau waren. Schon wieder war es viel zu knapp gewesen. Schon wieder hatten wir jemanden zurücklassen müssen. Was war aus 'Wir lassen niemanden im Stich' geworden? Schon wieder hatte ich andere in Gefahr gebracht. Und wofür? Viggo würde doch sowieso einen neuen Weg finden, uns anzugreifen.
Sicherlich tobte er vor Wut, jetzt wo er von Romis Dasein als Drachenreiterin wusste. Wir mussten sie da rausholen. Aber diesmal würde ich alleine gehen. Und ich würde mich von niemandem aufhalten lassen.
Auf einmal sagte jemand etwas. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Die Stimme hatte mich aus meinen Gedanken gerissen, doch ich konnte weder sagen, wer mich gerufen hatte, noch, was er oder sie gesagt hatte.
"Hallo? Erde an Hi-icks!", rief Rotzbacke.
"Was? Ich habe nicht zugehört."
"Ich wollte wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Du hast irgendwie so gewirkt als wärst du drauf und dran, etwas Dummes zu tun." Verdammtes Pokerface. Warum konnte mir jeder ansehen, woran ich gerade dachte?
"Ich war bloß in Gedanken wegen Romi", wich ich aus. Jetzt schwirrte auch noch Fleischklops herüber. Na toll.
"Hicks, wir alle machen uns Sorgen. Aber du darfst nicht alles riskieren, nur um sie zu retten. Fürs Erste ist sie in Sicherheit. Viggo wird ihr garantiert nichts antun." Warum waren all meine Freunde nur so verflucht vernünftig? Und warum ließen sie mich nicht in Ruhe? Konnten sie nicht sehen, dass ich mies gelaunt war?
"Woher sollen wir das wissen?", fuhr ich ihn gereizt an, "Er ist unberechenbar und wenn er erfährt, dass sie ihn ausspioniert hat, wer weiß, wozu er in der Lage wären." Wer weiß, wozu ich in der Lage wäre, wenn sie mich nicht gleich in Ruhe ließen.
"J-ja, das i-i-ist schon richtig, aber hast du schon daran gedacht, dass er sie vielleicht nur als Köder benutzt? U-u-und, was ist mit Ohnezahn? Willst du ihn wirklich..."
"Oh nein. Nein, Fischbein. Sag das nicht. Ich weiß, worauf du hinauswillst und ich lasse mir nicht ins Gewissen reden! Und schon gar nicht, indem du Ohnezahn benutzt!"
"Ins Gewissen reden? Wir sind die Meister im ins Gewissen reden!" Nicht auch noch die Zwillinge. Hatten es alle auf mich abgesehen?
"Hicks, du musst wirklich vorsichtiger sein! Die Aktion ist voll in die Hose gegangen, also echt! Das kannst du doch besser! Was ist aus dem Hicks geworden, der die Berserker in die Flucht geschlagen hat, hä? Wer bist du und was hast du mit dem echten Hicks gemacht?"
"Leute bitte! Erstens gibt es keinen anderen Hicks und zweitens, danke dass ihr mir Sachen erzählt, die ich selber weiß. Ihr baut mich gerade ungemein auf. Könnte ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?"
"Nein, und jetzt reden wir!" Ich bezweifelte, dass sie mir überhaupt zugehört hatten.
"Was ist los?", fragte auch noch Astrid. Und damit war die Runde voll. Jetzt redeten gleich fünf Leute auf mich ein, von allen Seiten.
"...viel zu gefährlich..."
"...könntest sterben..."
"...völlig hinrissig..."
"...Verantwortung übernehmen..."
Wie Hagelkörner prasselten ihre Ermahnungen auf mich ein, ein gut gemeinter Sturm, der allerdings noch mehr Schaden anrichtete.
"...völlig verwirrt..."
"...Gras über die Sache wachsen lassen..."
"...nur eine Drachenjägerin..."
"...nicht der echte..."
"ES REICHT!", brüllte ich. Sofort verstummten alle. "Ich weiß, was ich tue. Ich brauche nur ein wenig Zeit. Allein."
"Aber..."
"Komm Kumpel."
Mit kräftigen Flügelschlägen trug Ohnezahn mich davon, weg von meinen Freunden. In Wahrheit hatte ich überhaupt keine Ahnung, was ich tun sollte. Und Zeit war leider Mangelware. Das einzige, was uns noch retten konnte, war ein Wunder und auch die schienen zur Zeit ausverkauft. Was ich also bezweckte? Keine Ahnung. Vielleicht einfach etwas Ruhe von all dem.
Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob Viggo genauso gestresst war wie ich. Ob auch er manchmal das Gefühl hatte, alles würde unter ihm einstürzen. Ob auch er genauso verzweifelt nach Frieden suchte. Denn eines war klar, jetzt wo er von Romis Geheimnis wusste, konnte er nicht mehr so weitermachen wie bisher. Entweder hörte er mit der Drachenjagd auf - was ich stark bezweifelte - oder es würde zu Streit und vermutlich auch zu Krieg kommen. Ich musste es verhindern, auch wenn ich noch nicht wusste, wie. Vielleicht fiel mir mehr ein, wenn ich allein war. Oder auch nicht. Entnervt seufzte ich.
Ohnezahn brummte aufmunternd.
"Ich weiß, aber... es ist einfach alles zu viel. Meine Freunde vertrauen mir, aber ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Alles, was ich mache, ist irgendwie falsch. Ich - ich bin einfach noch nicht bereit dafür. Wenn ich versage..."
Diesmal sagte Ohnezahn nichts. Er drehte mir einfach nur den Kopf zu und blickte mich aus großen grünen Augen an. Vertrauensvoll, ermutigend. So, wie nur er einen anblicken konnte. Lächelnd strich ich ihm über den Kopf.
"Hast ja Recht. Wir finden schon eine Lösung. Irgendeine gibt es immer."
Während Ohnezahns Flügel uns über die Wolken trugen, ein beißender Wind uns entgegenblies und unter uns bleigraue Wolken bedrohlich grollten, befand sich mein Geist ganz woanders. Ausschau haltend schweifte er umher, auf der Suche nach einem Hinweis, einem Plan, einer Idee, irgendetwas, das uns vor Viggos Zorn beschützen konnte.
Romi, die der Grund dafür und der Schlüssel zu seinem Herzen war. Viggo, mein Gegenpart. Krogan, der ihn erpresste. Ohnezahn, hinter dem er her war. Reiker, so unzufrieden wie eh und je. Die merkwürdigen Bilder in der Höhle, auf denen er zu sehen war. Das Mädchen mit dem Ei. Irgendwie hing das alles zusammen.
Einige Zeit später landete Ohnezahn vor unserer Hütte. Müde von dem langen Ritt sprang ich ab und zuckte sofort zusammen, als ein Schmerzsignal meinen Beinstumpf hochzuckte. Vorsichtig machte ich einen Schritt. Erneut blitzte es schmerzhaft auf, wie als hätte sich das Gewitter in meinem Körper festgehakt. Hastig knotete ich die Prothese auf. Wahrscheinlich hatte sich ein Splitter gelöst. Super, das hieß, ich durfte das wieder in Ordnung bringen.
"Na Kumpel, was meinst du? Hast du Lust, in die Schmiede zu gehen? Nicht so wirklich? Ach komm schon!"
Energisch brummte er. Von mir aus, die Schmiede konnte ich ja auch allein in Gang bringen und ich konnte es ihm nicht verdenken, dass er eine Pause brauchte. Ich hatte ihn viel zu sehr überanstrengt in letzter Zeit.
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, mir einen Ersatz zu suchen und den Splitter wieder geradezubiegen. Ließen sich unsere Probleme doch auch nur so leicht lösen! Nur leider würde ein Hammer dabei nicht viel weiterhelfen. Oder höchstens, um ihn Viggo ins Gesicht zu knallen.
Als ich mit der Reparatur fertig war, überkam mich eine heftige Rastlosigkeit. Ich wollte weiterschmieden, neue Sachen erfinden, wenn es schon nicht mit einem Plan klappte. Alles hinter mir lassen und mich nur auf das glühende Metall und rhythmische Hammerschläge fokussieren anstatt auf den Kampf gegen die Drachenjäger. Ohne zu wissen, was genau ich da tat, bearbeitete ich Gegenstand um Gegenstand. Meine ganze Welt bestand nur noch aus der Schmiede, alle Aufmerksamkeit lag auf meinen Händen. Meine Unruhe und Verzweiflung? Hatten sich schon vor Stunden verflüchtigt. Um unsere Welt zu verbessern, war ich zu schwach, bei dem Metall hingegen war es machbar.
Mit einem Mal wurde mein Treiben jäh unterbrochen. Die Tür der Hütte schrappte über den Boden und eine Person trat ein.
"Hicks? Bist du hier drinnen?"
"Oh ... äh, hallo Astrid. Was machst du hier?"
"Dich suchen natürlich! Glaubst du, wir lassen dich einfach abhauen?"
"Ähm ... ich denke mal, das hätte ich nicht machen sollen."
"Ja, das war nicht dein schlauster Zug", entgegnete sie erstaunlich verständnisvoll, "Hicks, wir sind ein Team! Wir halten zusammen, egal was kommt. Aber wenn du denkst, das alles allein machen zu müssen, endest du irgendwann so wie Viggo."
"Ich würde niemals das tun, was er macht!", protestierte ich.
"Das habe ich auch nicht behauptet. Was ich meinte, ist, dass du irgendwann engstirnig sein wirst. Misstrauisch. Dass du nur noch deine Meinung siehst. Vielleicht war Viggo nicht das beste Beispiel. Vielleicht hätte ich lieber deinen Vater nehmen sollen. Weißt du noch, wie wütend du warst, als er dir früher nie zuhören wollte? Lass das nicht mit dir geschehen. Du hast Freunde, du musst diese Last nicht alleine tragen. Wir stehen das zusammen durch. Du brauchst uns nur zu vertrauen."
Wie beiläufig streckte sie ihre Hand aus und verschränkte ihre Finger mit meinen. Diese zarte, zufällig erscheinende Berührung löste in mir einen elektrischen Impuls aus, der mein Herz zum Stolpern brachte und jeden möglichen Gedanken grillte.
Hicks, du bist so was von verknallt, flüsterte eine hämische Stimme in meinem Hinterkopf, doch ich wusste ich besser. Es war längst nicht mehr dieses schwärmerische Verknalltsein, das ich vor Jahren mal empfunden hatte. Nein. Meine Gefühle waren mit der Zeit tiefer und tiefer geworden und wenn ich jetzt an Astrid und mich dachte, dann sah ich uns frisch verheiratet vor einem Haus stehen, unsere Kinder erziehend, gemeinsam vor dem Kamin unseren Enkeln Geschichten erzählend. Ich wollte mit ihr meine Zukunft verbringen, ein Leben lang. Ja, ich liebte sie und diese harmlose Berührung war ein Schluck Wasser für einen Verdurstenden, ein Sonnenstrahl nach tagelangem Regen. Ich spürte, wie sich meine Hoffnung wieder regte. Wir würde das hinkriegen, gemeinsam, so wie Astrid es gesagt hatte.
"Hier seid ihr!" Erschrocken drehten wir uns um.
"Taffnuss!", rief Astrid wütend.
"Ganz genau. Taffnuss. Der traumhaft tolle ... äh ... Tenker Taffnuss Thorston."
"Tenker. Aha." Ich würde einfach nicht nachfragen.
"Ganz genau. Ein Tenker. Wisst ihr, es gibt viele Denker, aber zu tenken erfordert mehr als schlichtes Denken. Nur die wenigsten schaffen es, so umwerfend träumerisch zu denken - ich meine natürlich tenken - wie ich."
"Und was - tenkst - du gerade?"
"Ich tenke, dass ihr zum Abendessen kommen solltet. Es gibt nämlich Thorston Spezial." Nur mit Mühe konnten Astrid und ich ein Würgen unterdrücken.
"Thorston Spezial? Ist das dein Ernst? Das letzte Mal, als du das gemacht hast, lagen wir eine Woche mit Bauchschmerzen im Bett."
"Ja, aber diesmal ist es ein neues Gericht. Thorston Spezial bereitet man niemals nach demselben Rezept zu, das ist ja das spezielle."
"Schon gut wir kommen ja", seufzte ich amüsiert.
Gemeinsam gingen wir rüber, wobei Taff uns mit allerlei Adjektiven, von denen ich viele noch nie gehört hatte, seine Kreation beschrieb. Die Worte waren dürftig, das Abendessen hingegen erstaunlich lecker, auch wenn es sich mit nichts Gewohntem vergleichen ließ. Es war eben speziell. Ich wollte gar nicht wissen, wie er es zubereitet hatte. Fischbeins Neugier hingegen war so ungebremst wie eh und geh, doch Taff ließ sich nicht löchern. Nach einer Weile, in der wir uns mit Thorston Spezial den Bauch vollgeschlagen hatten, kam das Gespräch auf Romi.
"Was machen wir jetzt?", wollte Rotzbacke wissen, "Hast du einen Plan? Nicht, dass die bisher funktioniert haben, aber..."
"Nein. Aber vielleicht ist ein Plan auch nicht das, was wir brauchen."
"Jetzt sag mir bitte nicht, dass du zu Viggo hingehen und ihn fragen willst, ob er Romi freiwillig rausrückt und am besten noch die Drachenjagd aufgibt. Dann bin ich nämlich raus."
"Das hatte ich auch nicht vor. Aber weißt du, eigentlich hast du Recht."
"Natürlich, ich habe immer Recht! Aber womit im Speziellen?"
"Jeden unserer Pläne konnte Viggo durchkreuzen. Wir haben immer versucht, noch bessere Pläne zu schmieden, aber was ist, wenn das nicht der richtige Weg ist? Was ist, wenn wir einfach ein wenig spontaner sein müssen? Unser größter Vorteil war schon immer der Überraschungseffekt, aber man kann Viggo nicht mit einem Plan überraschen, egal wie gut er ist. Gut, heute hat das einigermaßen geklappt, aber wir haben Romi zurücklassen müssen. So kann das nicht weitergehen."
"Aber was schlägst du vor?", hakte Astrid nach.
"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir nicht wirklich in der Lage sind, anzugreifen. Viggo weiß, dass wir keinen Spion mehr haben, dadurch haben wir unseren größten Trumpf verloren. Wahrscheinlich wird er jetzt grundlegend umbauen. Das heißt, eigentlich müssten wir die Chance nutzen, aber dazu sind wir zu schwach."
"Aber das mit Romi ist ja nicht nur ein Vorteil für Viggo", warf Fischbein ein, "Er hat gerade herausgefunden, dass seine Schwester eine Spionin ist. Bestimmt ist er verwirrt ... und wütend."
"Das müssen wir ausnutzen!",rief Rotzbacke aufrührerisch.
"Nein", hielt ich dagegen, "Keine Psychospielchen." Das war ungefähr so klug wie einen wütenden Skrill mit einem Stock zu piksen. Und außerdem ...
"Das ist Viggos Art, nicht unsere. Wir bleiben fair."
"Aber wenn es nicht anders geht?", fing nun auch noch Astrid an.
"Dann werden wir es trotzdem nicht tun. Sonst sind wir auch nicht besser als er." Widerwillige Zustimmung spiegelte sich in den Mienen meiner Freunde wieder. Mir fiel auf, dass Raff und Taff erstaunlich ruhig für ihre Verhältnisse waren.
"Leute, was meint - Leute?"
"Das ist ja mal wieder typisch. Während wir wichtige Sachen besprechen, sind die seelenruhig am Schlafen. Schafsköpfe!"
"Schon gut, Rotzbacke", ging ich dazwischen, "Es ist ja gar nicht mal so verkehrt, was sie machen. Wir alle haben eine Runde Schlaf dringend nötig. Ausgeruht fällt uns vielleicht auch mehr ein."
Besagter Schlaf wollte aber - was mich anging - nicht kommen. Nachdem ich mich anderthalb Stunden erfolglos im Bett herumgewälzt hatte, gab ich es auf und verließ meine Hütte. Klirrende Kälte empfing mich. Der Herbst war dieses Jahr recht spät gekommen, dafür aber heftig. Nicht mehr lange und der erste Schnee würde fallen. Wahrscheinlich würden wir den Winter auf Berk verbringen müssen, bei einem Schneesturm wären wir hier völlig abgeschnitten. Allerdings würde Viggo solch eine Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen und wenn ich eins wusste, dann dass die Drachenklippe auf keinen Fall in seine Hände fallen durfte. Möglicherweise würden wir sie zerstören müssen. Falls wir nicht vorher eine Lösung für diesen Konflikt fanden, was ich stark bezweifelte. Es gab zu viele Variablen, die ich einfach nicht einschätzen konnte. Warum war Krogan so verzweifelt hinter Ohnezahn her? Wie reagierte Viggo auf Romis Verrat? Und was bedeuteten die Bilder in der Höhle? Nun, zumindest über die letzte Frage konnte ich mehr herausfinden.
Kurze Zeit später lief ich durch den Wald. Diesmal hatte ich vorsorglich ein Kletterseil mitgenommen, zusammen mit einer Kerze, meinem Notizbuch und einem Stift. Ich hatte vor, die Bilder an der Wand abzuzeichnen. So unwahrscheinlich das klang, ich vermutete immer noch, dass sie irgendeinen Hinweis enthielten. Auf was, wusste ich allerdings nicht.
Die Grotte war genauso finster wie beim letzten Mal. Und genau wie beim letzten Mal überkam mich ein ehrfurchtsvolles Starren, als ich die Malereien an der Wand betrachtete. Wer immer sie angefertigt hatte, besaß unglaubliches Talent. Doch ich durfte mich nicht von ihrer dramatischen, finsteren Schönheit ablenken lassen. Flink kratzte mein Kohlestift über das Pergament, bannte den Überfall auf das Nachtschattendorf in mein Notizbuch. Keine Frage, diese Geschichte hätten eine eindrucksvolle Legende abgegeben, doch alle Ereignisse mussten sich wirklich so abgespielt haben. Sonst wäre Reiker nicht ebenfalls abgebildet gewesen.
Die Frage war nur, was machte er dort? Er gehörte zweifellos zu dem weißhaarigen Drachenjäger, aber er schien die rothaarige Frau zu kennen. Sie gab ein noch größeres Rätsel auf. Es sah nicht so aus, als würde sie aus dem Dorf kommen, stand aber auf ihrer Seite - trotzdem kannte sie Reiker. Bei Odin, ich wurde aus den Bildern einfach nicht schlau. Wahrscheinlich benötigte ich eine Denkpause.
Ich ließ das Notizbuch zu Boden fallen und richtete mich auf. Wie von selbst trugen mich meine Schritte zu dem Spiegel, der mir den Nachtschatten gezeigt hatte - meine Seele. Ich hatte niemandem davon erzählt, mir war bewusst, wie lächerlich es sich anhören würde. Doch auf irgendeine Art wusste ich, dass ich richtig lag. Dass der Spiegel mir meine Seele gezeigt hatte. Ob er noch weitere Geheimnisse in sich barg?
Langsam fuhr ich die eingravierte Inschrift mit dem Finger nach. Glaube nicht an die Fassade, sehe die Seele. Der Spiegel hatte mir meine Seele gezeigt. Wie es wohl bei anderen ausgesehen hätte? Bei meinen Teammitgliedern, bei Romi, bei Viggo? So ein Spiegel konnte eine mächtige Waffe sein.
Kälte stieg in meine Fingerspitzen, nicht die schmerzende Kälte des Schnees, sondern die angenehme Kühle eines tiefblauen Sees. Die Ungerührtheit eines geschliffenen Schwertes. Die Frische des Morgentaus. Dann durchzuckte ein stechender Blitz meinen Finger, wie von einer Nadel.
Augenblicklich stimmte in meinem Kopf ein immenses Geschrei an, ein hundertköpfiger Chor in dem jedes Mitglied eine andere Melodie sang. Undeutlich nahm ich wahr, wie ich auf die Knie sank. Unzählige Stimmen versuchten, gehört zu werden, einander zu übertönen, ein einziges, unerträgliches Chaos. Das Geschrei dauerte Jahre und doch nur einen Augenblick. Ich befand mich in hundert Welten gleichzeitig, sah hunderte von Zukünften, tausende von Menschen. Alles, was ich wollte, war dass es aufhörte.
Dann, genauso plötzlich wie es angefangen hatte, verstummten alle Sprecher. Ich wollte schon erleichtert aufatmen, da riefen sie vereint, mit einer grauenhaften Stimme, die wie aus einer anderen Welt klang:
Glaube nicht an die Fassade, sei die Seele!
Keuchend öffnete ich die Augen. War das eben wirklich passiert? Mit zitternden Beinen stand ich auf. Der Spiegel war zersprungen, überall um mich herum lagen Scherben. Nur der Rahmen war ganz geblieben, doch anstelle der ursprünglichen Inschrift stand der Satz 'Glaube nicht an die Fassade, sei die Seele ' da. Genau dasselbe, was dieser schreckliche Chor zuvor gebrüllt hatte. Und in einer Nische hinter der ehemaligen Glasfläche stand ein kleines Fläschchen mit einer samtigen, lila-schwarzen Flüssigkeit darin.
Nach fast einem Monat endlich ein weiteres Kapitel! Dabei bin ich gerade total motiviert, ich habe einfach nur nicht die Zeit, das, was ich schon geschrieben habe, abzutippen. Das nächste Kapitel habe ich schon komplett fertig, allerdings nur in meinem Notizbuch. Ich hoffe sehr, dass ich jetzt nach dem ganzen Weihnachtsstress wieder die Zeit habe, an den Computer zu gehen. Ein frohes neues Jahr noch!
Eure Elementara
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