Kapitel 24: Enttäuschungen

Viggo

Staub durchzog die Luft, Staub und Asche. Wie ein grauer Nebel hingen sie über dem Lager und machten das Atmen schwer. Der herbe Geruch der Niederlage. Undeutliche Schemen von Menschen, graue Silhouetten. Zerstört. Alles war zerstört. Mal wieder.   

Dies war schon der dritte Angriff innerhalb weniger Wochen und trotz der verstärkten Sicherheitsvorkehrungen gelang es den Reitern jedes Mal, ins Lager einzudringen. Fast als wussten sie, wo sich die Schwachstellen befanden. Was gar nicht mal so unwahrscheinlich war. Jeder konnte jeden verraten, das gehörte zur Natur des Menschen. Spione gab es überall. Bei Gelegenheit würde ich meine Männer einer Überprüfung unterziehen, doch nun lagen die Prioritäten woanders.

Der Schaden musste begutachtet werden, Reparaturen vollzogen, Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Hicks hatte ganze Arbeit geleistet, zwar nicht so gründlich wie bei der Auktion vor drei Wochen, aber dennoch war der Schaden nicht zu übersehen. Die Reparaturen würden einiges kosten und der Verkauf lief in letzter Zeit nicht mehr so gut.

Bei der missglückten Auktion waren mir einige meiner zahlungskräftigsten Kunden abhanden gekommen und ohne irgendwelche besonderen Angebote würde auch wohl kaum neue dazukommen. Dazu noch Krogan, der mir wegen des Nachtschatten im Nacken saß, Reiker, der mit allen meinen Plänen unzufrieden war und die Männer anstachelte, sowie der sich am Horizont abzeichnende Krieg mit den den Drachenreitern... Es kamen wahrlich keine leichten Zeiten auf die Grimborns zu. Doch es war auch schon schwerer gewesen, damals, nach dem Tod unserer Eltern.

Mit 15 war ich plötzlich Oberhaupt gewesen, verantwortlich für ein dreijähriges Kind, ohne die Unterstützung des Dorfes und mit einer Menge Feinde im Nacken. Die vielen Mordanschläge konnte ich gar nicht mehr zählen, all die Versuche, mich loszuwerden. Nach einem Jahr hatte ich das Dorf verlassen, nur mit meiner Freundin Liska, mit der ich mich später verlobt hatte, der vierjährigen Romi und meinem damals schon recht betagten Großvater an der Seite. Reiker war damals in Ausbildung bei einem berühmten Nachtschattenjäger gewesen, Grimmel der Grizzly hieß er. Aus dem Nichts hatte ich die Drachenjäger erschaffen und mir schnell einen Namen als gewiefter Händler gemacht. Damals war das Drachenproblem noch sehr viel stärker als heute gewesen und die meisten Dörfer waren froh, wenn jemand ihnen die Jagd abnahm. Ohne meinen Großvater hätte ich das allerdings nicht hinbekommen. Er hatte die letzten uns noch gebliebenen Verbündeten davon überzeugt, uns aufzunehmen. Dann war er gestorben und ich trug auf einmal die Verantwortung für gut hundert Leute und meine Schwester. Nur Liska hatte mich noch unterstützt. Bis auch sie gestorben war, viel zu jung. Von dem Tag an hatte ich beschlossen, die Familie über alles zu stellen und alles zu tun, um Romi ein besseres Leben zu ermöglichen. Als unser Verbündeter bei einem Drachenangriff fiel, liefen all seine Männer zu mir über. Von da an ging es steil aufwärts. Berge von Gold sammelten sich an und ermöglichten Romi das Leben, das ich mir für sie gewünscht hatte. 

Zwölf Jahre war das her, zwölf gute Jahre. Und jetzt brach alles, was ich mühsam aufgebaut hatte, ein. Vielleicht sollten wir davonziehen, bevor wir alles verlieren würden, an anderer Stelle weitermachen. Aber zunächst gab es Wichtigeres zu tun.

Herauszufinden, was die Drachenreiter wirklich wollten zum Beispiel. Für eine simple Befreiungsaktion war der Angriff zu heftig gewesen, vermutlich hatte es sich lediglich um ein Ablenkungsmanöver gehandelt. Also, worauf hatten sie es abgesehen?

Schnellen Schrittes eilte ich zu meinem Zelt, zum Modell der Insel. Mithilfe einiger Figuren stellte ich den Angriff nach. In Gedanken ging ich alle Angriffsziele durch, in Einberechnung der Anzahl der Drachenreiter, ihrer Drachen und Verbündeten sowie der Wahrscheinlichkeit eines Spions.  Kombiniert mit Angriffsrichtung und Zentrum des Angriffes war das einzig mögliche Ziel...

Ungläubig wiederholte ich die Rechnung in Erwartung eines Fehlers, so absurd klang das Ergebnis, doch es blieb dasselbe: der Granatenfeuerdrache. So verrückt konnte doch nicht einmal Hicks sein, oder? Freudlos lachte ich auf. Der Plan war clever, wirklich clever. So clever, dass ich ihn es durchschaut hatte, als es schon zu spät gewesen war. 

Dieser Junge überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Ich würde ihn ja für seinen Mut und seinen Einfallsreichtum bewundern, nur leider richteten sich all seine Handlungen gegen mich. Und das konnte ich nicht akzeptieren.

"Viggo, Sir?"

"Was?", fragte ich gereizt. Manchmal schienen meine Männer absichtlich zu den unpassendsten Momenten hereinzuplatzen. 

"Wir haben einen der Drachenreiter gefangen."

Augenblicklich hob sich meine Stimmung. Endlich eine gute Sache - sofern es nicht wieder nur ein Lockvogel war. Was ich allerdings nicht glaubte. Zum einen wusste Hicks, dass ich nicht zweimal auf denselben Trick hereinfallen würde, zum anderen war schon die Aktion mit Fischbein recht - ungewöhnlich - für ihn gewesen. Ich würde einen Skrill darauf verwetten, dass er ursprünglich sich selbst als Gefangenen vorgeschlagen hatte. So stark er mit seinen Freunden war, so schwach machten sie ihn. Und genau das konnte ich ausnutzen.

Wer von ihnen es wohl war? Wieder Fischbein? Das wäre wohl ziemlich ironisch, doch sein Wissen über Drachen konnte von Vorteil sein. Die Chaoszwillinge und der Braunhaarige (ich konnte mir seinen Namen nie merken - Rotznase?) würden mir zwar nicht ganz so viel nützen, aber auch sie würden ausgezeichnete Druckmittel sein. Der Hauptpreis wäre natürlich Hicks' kleine Freundin, Astrid. Für sie würde er alles tun.

"Dann bringt mal unseren Gast herein. Schließlich will ich ihn oder sie gebührend begrüßen."

Herein kamen zwei der Elite-Jäger, die ein sich wie wild sträubendes Mädchen mit sich zerrten. Sofort sprang mir das Sonne-Mond-Emblem auf ihrem Schulterschutz ins Auge, gefolgt von der Kapuze und dem Gesichtsschal. Also diese neue Reiterin.

"Die sagenumwobene Reiterin des Dämmerungsphönixes. Weißt du, du hast mich sehr neugierig gemacht. Wer wohl unter deiner Kapuze steckt?"

Langsam schritt ich auf sie zu, während sie panisch zurückweichen wollte. Doch meine Jäger hielten sie eisern fest. Auge in Auge standen wir gegenüber. Eine braune Strähne war unter ihrer Kapuze hervorgerutscht, ihr Atem ging stoßweise. 

Ich streckte meine Hand aus.

Sie schüttelte den Kopf.

Ich ergriff den Saum ihrer Kapuze.

Sie starrte mich flehend an.

Ich grinste triumphierend und schlug den Stoff zurück. Der Gesichtsschal trudelte zu Boden.

"Siehst du? Alles wehren nützt nichts, meine Liebe. Ich..."

Schlagartig gefroren mir die Worte im Hals zu Eis. Schrecklich scharfkantigem Eis, das mir die Luftröhre aufschlitzte. Einer dieser Splitter löste sich und bohrte sich quälend treffsicher in mein Herz.

Nein. Wie als hätte sie mir einen Schlag versetzt, torkelte ich zurück. Nein. Eine entsetzliche Kälte breitete sich von dem Splitter aus, lähmte meine Glieder und zerstörte jeden Gedanken. Nur einer blieb übrig. Jeder kann jeden verraten. 

"Es tut mir leid", murmelte meine kleine Schwester. 

Der Boden schien unter meinen Füßen wegzugleiten. Nicht Romi, warum Romi, das durfte nicht sein! Mit einem Mal schossen mir unzählige Erinnerungen durch den Kopf. Schnappschüsse aus achtzehn Jahren, mit einem Moment zerstört. 

Wie ich Romi zum ersten Mal kurz nach ihrer Geburt gehalten hatte. Wie sie mich immer Vivi genannt hatte, bevor sie meinen Namen richtig aussprechen konnte. Die ganzen Streiche, die sie mir gespielt hatte. Wie sie sich bei Keule und Klaue immer über meine langen Züge aufgeregt hatte, ihre Freude, als sie mich zum ersten Mal im Duell geschlagen hatte. Die langen Nächte, in denen wir über alles Mögliche philosophiert hatten, meine Wut, als der Jäger sie bedrängt hatte, wie sie sich jedes Mal freute, wenn ich nach viel zu langer Zeit zurück ins Lager kam. All die Abenteuer, die wir zusammen erlebt hatte, all unsere endlosen Diskussionen, all die Liebe, die Nähe zwischen uns. Niemand auf der Welt stand mir näher, niemandem vertraute ich mehr - und sie sollte eine Verräterin sein?

Doch, einen gewissen Sinn ergab es. Einen verdrehten, grausamen Sinn. Denn niemand anderes hatte uns in diese Lage gebracht als ich. Das hier war meine Schuld. Ich hätte die Zeichen erkennen müssen - Reiker hatte mich sogar darauf hingewiesen, doch ich hatte es ihm nicht glauben wollen. War das hier die Quittung für meinen Größenwahn? 

Halt, Vorwürfe konnte ich mir später machen. Jetzt musste ich dafür sorgen, dass die Situation nicht noch weiter eskalierte. Und das hieß, dass niemand von Romis Seitenwechsel erfahren durfte. Mit einem Mal war mein Verstand wieder glasklar.

"Ihr könnt uns jetzt alleine lassen", wies ich die Jäger an, "Und wenn auch nur ein Wort über die Gefangene nach außen dringt, war das euer letztes."

Gleichermaßen eingeschüchtert wie ergeben nickten sie und verschwanden nach draußen. Als ich sicher war, dass sie auch wirklich weg waren, schob ich den Schreibtisch zur Seite und legte eine Falltür frei. Anschließend kniete ich mich hinter Romi und löste ihre Fesseln, was gar nicht mal so leicht war mit zitternden Fingern.

"Danke." Ihre Stimme klang belegt. Sie strich sich über die aufgescheuerten Handgelenke.

"Lass uns nach drüben gehen", forderte ich sie auf. 

Gemeinsam stiegen wir die Leiter hinunter, gingen durch einen finsteren Tunnel, bis hin zu einem kleinen kahlen Raum. Ursprünglich war er als Unterkunft für den Notfall gedacht, falls alles schiefging. Und wenn das hier kein Notfall war, was dann? Ein karges Bett, eigentlich nur eine Matratze, lag in der Ecke. Ich setzte mich darauf, Romi blieb stehen.

Ein peinliches Schweigen füllte den Raum. Tränen stiegen in Romis Augen. In Zeitlupe löste sich eine von ihrer Wimper und kollerte über ihre Wange. Als wäre ein Damm gebrochen, folgten weitere und weitere, bis sie auf einmal hemmungslos schluchzte.

"Komm zu mir", rief ich sie sanft her. 

Sie schmiegte sich an meine Seite und weinte mein Oberteil nass, ich strich ihr beruhigend über den Kopf. Wie damals, als sie noch klein gewesen war und ich ein halber Junge. Nach einer Weile versiegten die Tränen und Romi löste sich von mir. 

"Tut mir leid", sagte sie mit einem letzten halbherzigen Schluchzer.

"Das braucht es nicht. Du hast nichts falsch gemacht, Schwesterchen."

"Doch, habe ich!", stieß sie verzweifelt hervor, "Ich habe dich verraten, ich habe mich den Drachenreitern angeschlossen, ich... Ich weiß, ich hätte es nicht machen sollen, aber..."

"Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Vorwürfe. Wir finden schon eine Lösung, versprochen."

"Heißt das, du wirst keine Drachen mehr jagen?"

Wie hoffnungsvoll sie klang. Wie grausam diese Hoffnung war. Was sollte ich bloß tun? Ich wollte sie keinesfalls enttäuschen oder noch mehr anlügen, doch...

"Romi, du verstehst das nicht. Wenn ich die Drachenjäger auflöse, verlieren wir unsere komplette Lebensgrundlage."

"Aber wir haben doch eine Menge Gold! Du könntest Händler werden, die Drachenreiter würden dich dann sicher in Ruhe lassen."

"Das Problem liegt nicht bei den Drachenreitern. Ich habe Geschäfte mit ein paar sehr gefährlichen Leuten gemacht und schulde ihnen noch etwas."

"Krogan?", hakte Romi nach.

"Ja, ich schulde ihm..."

"Ohnezahn."

"Woher weißt du das?", runzelte ich die Stirn.

"Na ja...also...es könnte sein, dass ich euch belauscht habe."

"Oh Romi. Genau deshalb wollte ich dich von all dem fernhalten." 

Wobei mir hätte klar sein müssen, dass sie früher oder später ebenfalls hinein verwickelt werden würde. Mit dieser Art und Weise hätte ich aber niemals gerechnet.

"Wie bist du eigentlich zu den Drachenreitern gekommen?"

"Das ist - kompliziert. Eigentlich weiß ich es selbst nicht so wirklich. Aber gemerkt, dass nicht alle Drachen böse sind, habe ich, als ich mich mit Sternenwind angefreundet habe."

"Sternenwind. Ein schöner Name", lächelte ich, "Und ein toller Drache. Du hättest dir keinen besseren aussuchen können."

"Stimmt, Sternenwind ist wundervoll! Irgendwie ist es so, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen, dabei ist es erst anderthalb Monate her", schwärmte sie.

"Dann ist sie der richtige Drache für dich."

"Meinst du? Und du bist nicht sauer? Sie war doch dein wertvollster Drache."

"Stimmt, aber nichts ist so wertvoll wie dass du glücklich bist." Ein helles Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

"Oh, danke! Das ist - das ist - ich kann gar nicht sagen, wie toll das ist!"

"Keine Ursache. Aber lass dich nicht mit ihre erwischen. Und bitte halte dich in Zukunft von den Drachenreitern fern."

Ich wusste, es würde ihr nicht gefallen, aber nur so würde sie nicht noch weiter in Gefahr geraten als sie es bisher schon getan hatte. Ich hatte mir geschworen, sie um jeden Preis zu beschützen und das würde ich auch tun. Trotz aller Gefahren und trotz ihres Widerwillens.

"Das kannst du doch nicht verlangen! Sie sind meine Freunde, außer ihnen habe ich niemanden. Und du kannst mich doch nicht auf ewig im Lager einsperren!"

"Romi, ich will dich ja gar nicht einsperren, aber sie sind unsere Feinde."

"Deine, nicht unsere", gab sie schnippisch zurück, "Und sie würden es nicht sein, würdest du nicht Drachen jagen.Lass es doch einfach gut sein!"

"Das geht nicht, du verstehst es nicht! Wir besitzen kaum noch Gold und noch weniger Drachen. Es gibt so gut wie keine Käufer mehr, weil niemand sich auf die Auktionen traut. Und Drachen zu fangen ist auch so gut wie unmöglich, alle guten Fanggebiete werden von den Reitern und ihren Verbündeten beschützt. Und dann muss ich mir noch etwas einfallen lassen, wie ich an den Nachtschatten komme, Krogan wird immer aufdringlicher."

"Ohnezahn? Aber du kannst Hicks und ihn doch nicht trennen! Sie gehören zusammen, das musst du doch sehen!"

Ein bitteres Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Egal, was ich jetzt sagen würde, es wäre falsch. Ich wusste um ihre merkwürdige Bindung, die mich jedes Mal neu überraschte. Aber der Nachtschatten war nun einmal das seltenste Wesen des Inselreiches und selbst ohne Krogan hätte ich ihn jagen lassen. Dummerweise konnte ich Romi das nicht sagen. Normalerweise hätte ich auf Knopfdruck drei Lösungen parat gehabt, aber mein Verstand war völlig gelähmt. Tausend Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum, einer quälender als der andere und jeder von ihnen nutzlos. Mein gesamtes Wissen, meine gesamte Intelligenz - wie weggepustet. Und so starrte ich Romi an, ohne ein Wort herauszubringen. Nach ewigem Schweigen stieß och schließlich ein "Ich weiß"  hervor.

Moment, was? Ich begann doch nicht etwa, Mitleid mit meinen Feinden zu empfinden? Das war der erste Schritt zur Niederlage, wie mein Großvater es mir beigebracht hatte. Doch wenn ich hörte, wie Romi über sie redete, fiel es mir deutlich schwerer, sie als meine Feinde anzusehen. Wie fürchterlich es erst für Romi sein musste. Zwar kannte sie sie erst seit kurzer Zeit, doch die Art, wie sie über sie redete...

"Wie sind die Drachenreiter eigentlich so?", wollte ich wissen. Gefährliche Frage, doch Neugier siegte immer. Und Wissen über seine Feinde konnte immer von Vorteil sein, auch wenn ich sie nicht zu nah an mich heranlassen durfte.

"Also Heidrun kennst du ja schon."

Ich nickte. Die Berserkerin war niemand, den man so schnell vergaß und sie hatte mehrere Wochen bei uns verbracht. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatten Romi und sie sich recht gut verstanden. Romi war untröstlich gewesen, als sie sich als Spionin herausgestellt hatte.

"Sie ist von allen meine beste Freundin, ich kenne sie ja auch schon am längsten. Mit Astrid verstehe ich mich aber nicht ganz so gut. Eigentlich gar nicht, wir habe uns geprügelt", berichtete sie.

"Ihr habt was? Sie hat dir doch nicht etwa wehgetan, oder?" Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern.

"Schon, aber ich ihr auch. Passiert eben bei einer Prügelei. Gut, vielleicht hätte ich nicht auf sie losgehen sollen, aber sie hatte es verdient. Sie hat mich eine Verräterin genannt."

Wütend ballte Romi die Fäuste. Ja, das passte zu dem, was ich von Astrid erfahren hatte. Erst jetzt fielen mir die roten Kratzer auf ihrer Wange auf.

"Das ist nichts", winkte sie ab, "Du hättest mich sehen sollen, als Sternenwind mitten im Flug über der Wechselflüglerinsel eingeschlafen ist. Da war ich vielleicht zerkratzt. Odder als ich vor den Berkianern abgehauen bin. Wenn mir da jemand gesagt hätte, wie gut ich mich mit ihnen verstehen würde..."

"Gut? Du bist völlig zerkratzt!"

"Das war nur Astrid, außerdem bin ich ja auf sie losgegangen. Die anderen sind viel netter. Vor allem Raff und Taff."

"Diese Schafsköpfe?", hakte ich nach.

"Genau die. Aber weißt du, ich glaube, sie sind viel intelligenter als sie tun. Ich meine, wer solche Fallen konstruiert, muss ein Genie sein! Und außerdem sind sie echt witzig. Sie haben ihrem Huhn beigebracht, in Rotzbackes Mund zu fliegen", kicherte sie.

Vor meinen Augen entstand ein schräges Bild. Unwillkürlich musste ich ebenfalls lachen. Sogar jetzt, in dieser Situation, brachte sie mich dazu. 

"Und sie sind total begeistert von den Streichen, die ich dir gespielt habe", erzählte sie. Gespielt entrüstet fragte ich:

"Junge Dame, du stellst mich doch nicht etwa lächerlich vor den Reitern dar?"

Erneut prustete sie los. Wie leicht es war, sie zum Lachen zu bringen. So unendlich leicht. Und wie leicht es sein könnte, zu vergessen, warum wir diese Unterhaltung führten. Doch das Wissen um die Geschehnisse blieb fest in meinem Hinterkopf verankert. Ich würde es nie mehr vergessen können. Nie mehr.

"Könnte sein", scherzte sie, "Aber hauptsächlich mache ich Rotzbacke zum Yak. Mann, der nervt vielleicht. Wäre er nicht so aufdringlich, wäre es vielleicht sogar witzig, aber irgendwie scheint er nicht zu merken, dass ich nicht auf ihn stehe."

Wie unbeschwert sie klang. Wie sorglos. So froh, endlich mit mir reden zu können. Ich hätte sie gerne gefragt, wie sie es schaffte, alle Sorgen für einen Moment zur Seite zu schieben. Ich konnte das nicht. Und so lauschte ich weiter ihren Ausführungen über die Drachenreiter, die immer mehr in meinem Kopf verschwammen, überlagert von hunderten Gedankenfetzen, halbfertigen Plänen und Strategien, wie wir es heil hier raus schafften. Äußerlich blieb ich vollkommen ruhig, doch innerlich... Trotzdem versuchte ich irgendwie, Romi zuzuhören, wenn auch mit mittelmäßigem Erfolg. 

"Fischbein...schüchtern...okay...Sternenwind wissen..." Langsam kehrte meine Konzentration zurück und ich schüttelte die störenden Gedanken ab. "Und dann...noch Hicks...Er... immer voll freundlich zu mir und verteidigt... gegenüber Astrid. Er hat mir auch von allen am schnellsten vertraut und das, obwohl ich ihn ja vergiftet habe. Er hat mir sogar angeboten, eine Drachenreiterin zu werden und hilft mir immer, wenn es mir nicht gut geht wegen - du weißt schon. Jedenfalls ist er nett. Echt nett. Und...ich mag ihn irgendwie."

Warum klang sie auf einmal so nervös? Warte. In Gedanken ließ ich alles, was sie gesagt hatte, noch einmal abspielen. Ihre Worte, ihre Stimme und ihre Mimik ließen nur einen Schluss zu. 

Nein. Nein, nein, nein, nein, nein! Das durfte nicht sein, niemals! Doch es gab keine andere Erklärung. Romi hatte sich in Hicks verliebt. Meine kleine Schwester hatte sich in meinen größten Feind verliebt. Ich war nie gläubig gewesen, doch in diesem Augenblick sandte ich Gebete an alle denkbaren Götter, dass es nicht wahr wäre. 

Und ich verfluchte Hicks. Ich verfluchte diesen scheinheiligen, drachenreitenden Bengel, der sich überall einmischte, bei allem, womit man eine Person verfluchen konnte. Er hatte mir meine Schwester gestohlen! Von wegen, er wollte nur Frieden. Das einzige, was mir wirklich wichtig war, die einzige Person, der ich vertraute und er zog sie ohne jeden Skrupel auf seine Seite. Manipuliert hatte er sie mit seinem Unschuldsgetue, nur um mir eins auszuwischen. Und da hieß es, ich wäre grausam. 

"Und was machen wir jetzt?", wollte Romi zaghaft wissen. 

"Gar nichts. Du bleibst hier und hältst dich von den Drachenreitern fern", gab ich - womöglich etwas zu ruppig - zurück.

"Wie bitte? Auf keinen Fall! Sie sind meine Freunde, sie werden sich Sorgen machen."

"Tolle Freunde sind das. Sie haben dich nur für ihre Zwecke benutzt und dich dann zurückgelassen. Du kannst ihnen nicht vertrauen, lass es gut sein."

"Und was ist mit Sternenwind? Willst du sie verkaufen oder was? Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, wie du tickst."

"Romi, ich will sie doch gar nicht verkaufen", versuchte ich, sie zu beruhigen.

"Ach ja? Und woher soll ich wissen, dass das nicht auch eine Lüge ist? Oder dass du mich wieder reinlegst, wie als ich Hicks vergiftet habe? Warum hast du mich überhaupt angelogen? Warum?"

"Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht und hätte dich nicht anlügen sollen."

"Ja, allerdings", unterbrach sie mich schäumend vor Wut.

Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Diese Unterhaltung verlief zunehmend in die falsche Richtung. Ich spürte, wie sich Rom immer weiter von mir entfernte. Wenn ich nichts unternahm, würde ich sie an die Drachenreiter verlieren. Ein Feuer glomm in ihren Augen, nicht die sanfte Flamme, die ich von ihr gewohnt war, sondern ein fauchender, zerstörerischer Brand. Wann hatte sie sich so verändert? Was war aus dem Mädchen geworden, das ich kannte? Mit einem Mal spürte ich, dass dieses verloren war. Egal was ich versuchte, meine Schwester würde nicht mehr zurückkehren. Die Drachenreiter hatte sie mir gestohlen. Hicks hatte sie mir gestohlen, die Person, die mir mehr bedeutete als alles andere auf der Welt.

Eiskalte Wut durchströmte mich, ein Hass wie ich ihn noch nie verspürt hatte. Bis jetzt hatte ich mich zurückgehalten, doch das war vorbei. Von nun an würde ich mit aller Kraft zuschlagen. Ich würde Hicks zerstören, ihm das nehmen, was ihm am wichtigsten war, so wie er es mit mir getan hatte. Und wenn ich mit ihm fertig war, würde er sich wünschen, nie gelebt zu haben.

"Wag es ja nicht", warnte mich Romi, "Ich weiß nicht, was du vorhast, aber die Drachenreiter haben nichts damit zu tun, dass wir hier stehen. Das ist allein deine Schuld. Die Drachen und ich sind dir doch egal, dir geht es nur um deinen Reichtum! Wie konnte ich bloß glauben, du würdest dich ändern? Du wirst dich niemals ändern, nicht wahr? Nicht wahr?!", schrie sie mit sich überschlagender Stimme.

Ich wollte sie beruhigen, ihr erklären, dass ich das alles nur für sie tat, doch ich brachte keinen Ton heraus. Stumm blieb ich ihrem Zorn ausgeliefert, zum ersten Mal in meinem Leben sprachlos.

"Wusste ich's doch! Du denkst nur an dich! Hätte ich doch bloß auf die Drachenreiter gehört, sie haben es mir von Anfang an gesagt! Sie haben mich nicht angelogen, ihnen kann ich vertrauen. Sie stehlen nicht anderen die Freiheit, um sich selbst zu bereichern. Und sie verbieten niemandem, nach draußen zu gehen, um die Wahrheit zu verstecken! Weißt du eigentlich, wie ich mich gefühlt habe? Gefangen! Und langsam glaube ich, ich hatte Recht. Dir geht es eh nur um dich! Und weißt du was? Ich hasse dich! Hörst du?! ICH HASSE DICH!"

Ihre Augen sprühten vor Hass, bohrten Löcher in meine Seele. Noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt, so gelähmt. Immer hatte es etwas gegeben, woran ich mich halten konnte, einen Plan, eine Strategie, eine Idee. Doch jetzt?

Aber gleichzeitig mit der Hilflosigkeit kam die Wut. Romi hasste mich? Sollte sie doch. Und Hicks - der würde büßen.  Er würde büßen für das, was er meiner Familie angetan hatte. Aber ich würde ihn nicht töten, zumindest noch nicht. Ich würde ihn leiden lassen, ihm das nehmen, woran sein Herz am meisten hing. Ich würde ihn vor eine unmögliche Entscheidung stellen. 

Doch Romi durfte nichts davon erfahren. Sie würde mich lediglich nur noch mehr hassen. Schnell machte ich zwei Schritte zurück, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel herum. Schreck blitzte in Romis Augen auf, gefolgt von unbändiger Wut.

"Du verdammter Feigling! Lass mich raus! Lass mich raus, hab ich gesagt!"

"Es tut mir leid."

"Dein 'leid' kannst du dir sonstwo hinstecken, du mieser... Aargh! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst nicht mein Bruder!"

Juhu, ich hab das Kapitel fertig! Auf das habe ich echt von Anfang an gewartet, ich bin so froh, dass ich es endlich schreiben konnte. Oh Mann, die arme Romi. Ich bin echt fies zu ihr. Was haltet ihr eigentlich von Viggos Verhalten? Würde mich mal interessieren. Und was denkt ihr, was er vorhat? Fragen über Fragen...

Eure Elementara 

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