Kapitel 16: Ein Neuanfang und eine Forderung
Hicks
Es gab Tage, an denen einfach alles perfekt lief. Man wachte gut gelaunt und fit auf, verstand sich bestens mit seinen Mitmenschen und alles, was man sich vornahm, funktionierte einwandfrei. Heute war keiner dieser Tage.
Nachdem ich die halbe Nacht wachgelegen war und darüber nachgedacht hatte, was wir wegen Romi unternehmen sollten, war ich völlig unausgeschlafen aufgewacht, nur um dann feststellen zu müssen, dass die Zwillinge es für lustig befunden hatten, mich im Schlaf auf einen Baum zu verfrachten. Danach stieß mein Vorhaben, nach Romi zu suchen, um noch einmal mit ihr zu reden, nur auf Gemeckere. Und jetzt flogen wir seit Stunden durch die Gegend, ohne etwas zu finden. Zu allem Überfluss schien es Ohnezahn nicht gerade gut zu gehen, denn er sackte immer mal wieder ein Stückchen nach unten. Wie schon gesagt, nicht gerade mein Tag.
Auf einmal riss Astrid mich aus meinen Gedanken: „Lass uns umkehren! Wir werden sie nicht finden! Wahrscheinlich gehört das alles sowieso zu Viggos Plan."
Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht führte ich uns alle wieder in eine Falle. Aber mein Gefühl sagte mir, dass man Romi trauen konnte und auf mein Gefühl konnte ich mich für gewöhnlich verlassen. Außerdem brauchte sie unsere Hilfe und sie in so einer Situation im Stich zu lassen, kam mir wie Verrat vor.
„Wir suchen weiter", entgegnete ich bestimmt.
„Mein Hintern ist schon eingeschlafen", quengelte Rotzbacke.
„Und ich müsste mal", schloss Fischbein sich ihm an.
„Na schön, wir machen eine Pause", gab ich nach, „Fliegen wir zu der Insel dort drüben." Um ehrlich zu sein, war auch ich froh, als wir auf der Insel landeten. Nach dem langen Flug wollte ich mir nur zu gern die Beine vertreten.
„Kommst du mit, Kumpel?" Doch Ohnezahn grummelte bloß und rollte sich auf dem Boden zusammen.
„Da ist jemand aber müde", lachte ich, „Also Leute, in einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier. Aber seid vorsichtig, das ist Drachenjägergebiet."
Ein bisschen mulmig war mir schon, als ich alleine durch das Tal spazierte, doch ich hatte vorhin etwas gesehen, das ich überprüfen wollte. Womöglich hatte ich es mir nur eingebildet, doch man konnte nie sicher sein und meine Neugier war schon immer stärker als die Vernunft gewesen.
Trotzdem blieb ich wachsam. Noch einmal wollte ich nicht in die Gefangenschaft der Jäger geraten. Da, Stimmen! Ob das die Jäger waren?
„Noch mal, gleich haben wir es geschafft! Uuuund... Ja! Super gemacht, Sternenwind!"
Eindeutig nicht die Drachenjäger. Ich hatte mich vorhin also doch nicht geirrt. Tatsächlich, Romi trainierte mit ihrem Drachen. Auf einmal ertönte ein lauter Platscher, Protestgeschrei, ein nach Schlamm klingendes Schmatzen und ein empörtes Heulen. Was ging da vor sich? Vorsichtig spähte ich hinter dem Baum, hinter dem ich mich versteckt hatte, hervor.
Sternenwind hatte Romi in den See geworfen und wurde dafür von ihr mit Schlamm beworfen. Daraufhin ließ Sternenwind eine Ladung Seetang auf sie fallen und Romi brach in haltloses Kichern aus. Das ausgelassene Treiben der beiden erinnerte mich an meine Spielchen mit Ohnezahn. Ich wollte ihnen den Moment nicht rauben, doch ich musste mit Romi reden. Mit erhobenen Händen trat aus meinem Versteck heraus - und wurde prompt von einer Handvoll Schlamm ins Gesicht getroffen.
„Ich würde dir raten, zu verschwinden, ansonsten fliegt ein Messer hinterher", drohte Romi. Dann fragte sie ungläubig:
„Hicks?"
Auf dem Rückweg zum Treffpunkt sagte ich kaum ein Wort. Hauptsächlich, weil Romi die ganze Zeit redete. Über Sternenwind, das Leben im Lager der Drachenjäger, ihre Brüder, und, und, und. Ihr Redefluss erinnerte mich an Wasser, das von einem Damm gestaut worden ist und jetzt mit einem Schwall herausfloss. Ein wenig tat sie mir leid. Ich wusste ganz genau, wie schrecklich es war, niemanden zum Reden zu haben. Und dann auch noch dieser Zwiespalt, wo sie hingehörte und das schlechte Gewissen ihren Brüdern gegenüber... Kein Wunder, dass sie bei unserer letzten Begegnung so überreagiert hatte. Aber so wie es aussah, tat ihr ihr Verhalten leid.
"Ich wollte mich noch mal wegen gestern entschuldigen. Ich habe wohl ein wenig übertrieben."
"Ja, das kann man so sagen. Beim nächsten Mal solltest du mir vielleicht nicht das Handgelenk so verdrehen."
"Das warst du? Oh. Tut mir leid, ich wollte nicht...Es war einfach..."
"Schon okay. Ich verstehe ja, warum du das getan hast."
"Wirklich? Danke! Ich hab schon gedacht, du würdest sauer sein."
"Nein, bin ich nicht. Aber es wäre nicht schlecht gewesen, wenn du erst einmal versucht hättest, zuzuhören, was wir dir sagen wollen. Keiner von uns hat das böse gemeint. Wir wollen dir nur helfen."
"Helfen. Das ist... nett von euch. Ich wollte ja auch nicht so ausrasten, aber dann habt ihr behauptet, Viggo würde mich anlügen, und... Versteh mich nicht falsch, ich will damit nicht sagen, dass ihr lügt. Das glaube ich nicht, aber genauso wenig glaube ich, dass es die Wahrheit ist. Das glaube ich einfach nicht."
Und schon ging es von vorne los. Was sollte ich jetzt tun? Einerseits wollte ich ihr nicht die Wahrheit vorenthalten, andererseits durfte ich sie nicht schon wieder vor den Kopf stoßen. Mal abgesehen davon, dass sie mir wahrscheinlich nicht glauben würde.
"Sag mal, wie hast du es eigentlich geschafft, deinen Vater davon zu überzeugen, dass Drachen nicht böse sind?", wechselte Romi plötzlich das Thema.
"Na ja, eigentlich war das nicht mein Verdienst. Nicht wirklich. Völlig überzeugt war er erst, als Ohnezahn mich gerettet hat. Wieso fragst du?"
"Ich weiß nicht, das hat mich schon immer interessiert. Außerdem... wenn du es bei deinem Vater geschafft hast, dann schaffe ich es auch bei meiner Familie. Und du bist schließlich der einzige, den ich kenne, der so etwas geschafft hat, also habe ich mir gedacht, ich frage dich mal und... Aber ich schaffe das wahrscheinlich sowieso nicht, ich meine, ich bin ja nicht du."
"Das bist du nicht, aber du hast den ersten Schritt gemacht und das ist das Wichtigste. Du hast dich getraut, einen anderen Weg zu gehen als alle anderen und ganz egal, ob sie dir folgen, du wirst wissen, dass du das Richtige getan hast. Und weißt du was? Ich glaube, dass falls irgendwer deine Brüder dazu bringen kann, mit der Drachenjagd aufzuhören, dann bist du das. Denn du bist beides, Drachenreiterin und Grimborn. Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem du dich entscheiden musst, aber der ist nicht jetzt. Und es ist ja nicht so, dass es bloß ein entweder, oder geben kann. Das Leben ist nicht nur schwarz und weiß, Tag und Nacht. Es hat einen Grund, dass du die Reiterin des Dämmerungsphönixes bist. Wenn du beide Seiten vereinen willst, dann schaffst du das auch."
"Meinst du das wirklich?"
"Voll und ganz." Und bevor ich mich versah, fand ich mich in einer stürmischen Umarmung wieder. Und dann, zwei geflüsterte Worte, kaum hörbar.
"Danke, Hicks."
Als wir den Treffpunkt erreichten, war die halbe Stunde schon längst verstrichen. Dementsprechend mürrisch fiel auch die Begrüßung der anderen aus.
"Wenn ich zu spät komme, kriege ich immer Ärger, aber bei dem ist das in Ordnung", maulte Rotzbacke und Astrid fragte missbilligend:
"Was hast du so lange gemacht?"
"Ich hab...jemanden getroffen."
"Vielen Dank für diese umfassende Auskunft", antwortete sie säuerlich, "Geht's auch etwas genauer?" Gerade setzte ich zu einer Erklärung an, da entdeckte sie Romi.
"Ach, sieh mal einer an, wer sich wieder blicken lässt. Und, wie war es bei deinen Brüder, den Drachenjägern? Wieder mal ein paar Leute vergiftet?" Sichtlich getroffen zuckte Romi zusammen.
"Astrid, was soll das? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, einen Neuanfang zu machen?", gab ich zurück.
"Und damit dieser kleinen Spionin in die Hände zu spielen?"
"Sie ist keine Spionin."
"Und woher willst du das wissen? Bei Heidrun hast du dich auch getäuscht, schon vergessen?"
"Es reicht jetzt! Sie hat mehr als ein Mal bewiesen, dass man ihr vertrauen kann."
"Schön. Schön! Aber wenn sie uns verrät, dann sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."
"Das werde ich nicht, versprochen. Und jetzt vergessen wir die Ereignisse von gestern mal und fangen noch mal von vorne an."
"Meinetwegen", seufzte sie, "Aber ich sag dir noch mal, nach ihr zu suchen, war eine der dümmsten Ideen, die du je hattest. Wetten, dass sie alles an ihre sauberen Brüder weitererzählt?"
Resigniert seufzte ich. Manche Dinge änderten sich wohl nie.
"Das war deine Idee?", meinte Romi, "Dann muss ich mich wohl noch bei dir bedanken."
"Ach was, das war meine Idee", schleimte Rotzbacke anzüglich.
"So ein Quatsch, das war Hicks!", korrigierte Fischbein aufgebracht, "Du hast bloß angefangen zu schimpfen von wegen 'durchgeknallte Spinnerin' und 'Wie kann man so blöd sein?'"
"Hör nicht auf den, Baby. Komm, lass uns zusammen abhängen!"
Ich erwartete schon eine knallharte Abfuhr à la Astrid, doch überraschenderweise versicherte sie:
"Gerne. Drehen wir eine Runde auf Sternenwind?"
Wie bitte? War das ihr Ernst? Sie stand doch nicht etwa auf Rotzbacke, oder? Breit grinsend ließ er sich von ihr zu ihrem Drachen führen. Zu allem Überfluss legte sie auch noch einen Arm um seinen Nacken.
Auf einmal begann Rotzbacke, wie verrückt umherzuspringen und in den höchsten Tönen zu kreischen. Was war denn jetzt los? Ratlos beobachteten wir die absurde Szene. Dann bemerkte ich Romis Grinsen.
"Der gute alte Eiswürfel-in-den-Kragen-Trick", schmunzelte sie, "Funktioniert immer wieder." Das war das Stichwort. Wir alle brachen in Gelächter aus und prusteten über Rotzbackes wilde Verrenkungen. Sogar Astrid konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Als wir uns endlich abreagiert hatte, lobte Raff:
"Nicht schlecht, meine Dame, nicht schlecht. Hast du noch mehr davon auf Lager?"
"Also, einmal habe ich in Viggos Kopfkissen einen toten Fisch eingenäht und er hat es nicht bemerkt. Er hat eine Woche lang nach Fisch gestunken", kicherte sie, "Und dann habe ich mal vor seiner Tür eine Netzfalle mit Wassereimer, der bei Aktivierung der Falle umgekippt wird, aufgehängt. Ihr hättet hören müssen, wie er sich aufgeregt hat."
"Dieses Mädchen ist ein Genie!", rief Taff ehrfürchtig, "Bitte, weihe uns schnöde Sterbliche in deine Geheimnisse ein!" Etwas verunsichert beschrieb sie die Funktionsweise der Falle.
"Einfach nur genial", staunten Raff und Taff im Chor, "Das müssen wir unbedingt ausprobieren. Was meinst du, wird das Hicks zur Weißglut bringen?"
"Das probiert ihr ganz bestimmt nicht aus", wies ich die Schafsköpfe zurecht. Wie erwartet maulte Raff:
"Spaßverderber" und tuschelte zu Romi: "Kannst du mir wenigstens zeigen, wie du das mit dem Eiswürfel gemacht hast?"
"Klar doch. Sternenwind, kalte Flamme!"
Die Drachin spie eine silberne Flamme, die sich von nahem betrachtet als etwas zwischen Flüssigkeit und Gas entpuppte. In dem Moment, als sie den Boden berührte, wurde dieser mit einer Schicht aus Raureif überzogen und wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass sie sich langsam in Eis verwandelte. Obendrauf schwappte eine winzige Menge des Feuers herum. Wie erwartet, steckte Taff einen Finger rein.
"Au! Das ist ja eiskalt! Au, au, au, au, das brennt!"
"Wie funktioniert das?", hakte Fischbein wissbegierig nach.
"Sternenwind hat zwei Arten von Feuer. Na ja, eigentlich drei. Diese hier ist so kalt, dass sie fast alles gefrieren lässt. Die zweite ist unglaublich heiß. Wollen wir es ihnen zeigen, mein Mädchen? Ach ja, und fasst es diesmal bitte nicht an. Du hast wahnsinniges Glück, dass dein Finger noch dran ist."
Auf Romis Kommando stieß Sternenwind eine goldene Flamme aus, die eine unfassbare Hitze abstrahlte. Als sie vorsichtig einen Ast hineinhielt, verglühte dieser zu Asche. Auch hier bildete sich eine kleine Pfütze, die allmählich fest wurde.
"Das ist ja unglaublich!", kiekste Fischbein, "So etwas habe ich noch nie gesehen! Es sieht aus wie ein Gas, verhält sich wie eine Flüssigkeit, trotzdem ist Taffs Finger trocken geblieben und es wird mit der Zeit fest. Was ist das?"
"Ich bin mir nicht so ganz sicher, aber ich vermute, das es eine Art Nebel ist. Das mit dem Festwerden kann ich mir auch noch nicht erklären, aber es ist echt praktisch. So hat man entweder Eis oder Kohlen dabei. Natürlich nicht unbegrenzt. Seht ihr die Flecken auf ihren Flügeln? Sie zeigen an, wie viel Schuss sie noch hat. Ungefähr zehn von den Punkten stehen dabei für einen Schuss. Sie kann sich wieder aufladen, wenn sie Sonnen- oder Mondlicht abbekommt."
"Das ist ja der Hammer! Und was ist mit der dritten Art?" Fischbeins Stimme wurde immer hibbeliger.
"Das ist kein wirkliches Feuer, mehr so eine Art Heilmittel. Damit kann man den Heilprozess extrem beschleunigen, ungefähr ein Monat pro Tag. Aber das herzustellen, ist sehr anstrengend für einen Dämmerungsphönix. Wenn sie zu viel davon erschaffen, kann es sie umbringen. Aber es gibt keine Wunde, die man damit nicht heilen kann. Manche sagen sogar, es ist in der Lage, Tote wiederzubeleben. Das ist natürlich nur Aberglaube und es hilft auch nicht gegen Gifte oder Krankheiten, aber ansonsten gibt es kein besseres Heilmittel."
"Faszinierend", murmelte Fischbein und notierte es eifrig.
"Ist ja schön, dass ihr alle euch so blendend versteht, aber wir wissen immer noch nicht, ob wir ihr trauen können", warf Astrid plötzlich ein.
"Und es geht schon wieder los", seufzte ich, "Müssen wir das wirklich noch mal durchkauen?"
"Ja, und zwar so lange, bis ich einen richtigen Beweis habe!"
"Ich weiß nicht, ob das als Beweis gilt, aber..."
Das, was Romi aus ihrer Satteltasche holte, ließ uns allen die Worte im Hals stecken bleiben. Das Drachenauge! Wie hatte sie das angestellt? Und warum hatte sie dieses Risiko auf sich genommen? Nur, um uns von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen?
"Das ist als Wiedergutmachung gedacht. Für alles."
Immer noch streckte sie uns die Hand mit dem Drachenauge hin. In dem Moment, als ich es ergriff, schien sich etwas Wichtiges entscheidend zu verändern. Ich wusste nicht, was und inwiefern, doch ich spürte, dass von jetzt an alles ganz anders sein würde.
"Vielen Dank. Wirklich. Und jetzt, da alle Zweifel hoffentlich beseitigt sind:" An dieser Stelle warf ich Astrid einen vielsagenden Blick zu, dem sie ausnahmsweise auswich.
"Möchtest du eine Drachenreiterin werden?"
"Ein Mitglied eures Teams? Meinst du das ernst?"
"Ja, das meine ich ernst."
"Ja! Äh, warte mal, ich meine...also...Das wäre schon toll, aber... Ich weiß nicht..." Ihre anfängliche Schüchternheit hatte wieder Überhand genommen, obwohl ihr deutlich anzusehen war, dass sie im Grunde wollte. Mit so einer Reaktion hatte ich schon gerechnet, seit ich das erste Mal mit dem Gedanken gespielt hatte - was schon gewesen war, als ich von ihrer Existenz als geheimnisvolle Reiterin erfahren hatte.
"Lass dir ruhig Zeit", bot ich an, "Du musst dich nicht jetzt entscheiden." Erleichtert lächelte sie mich an.
"Danke. Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, es ist bloß..."
"Ich weiß. So etwas ist eine wichtige Entscheidung und du willst deinen Bruder nicht enttäuschen."
Ich hätte noch einmal versuchen können, sie über Viggo aufzuklären, doch ich tat es nicht. Vielleicht, weil sie mir nicht glauben und wieder ausrasten würde, vielleicht aber auch, weil ich ahnte, dass sie das selber herausfinden musste. Es war keine schöne Wahrheit und dadurch würde sie vermutlich am Boden zerstört sein, aber früher oder später würde - musste - sie es erfahren. Wahrscheinlich hatte sie auch schon eine Ahnung, doch sie verdrängte es augenscheinlich. Ich wollte nicht derjenige sein, der ihre Illusion zerstörte und dennoch musste es sein. Also, sollte ich es ihr sagen?
Wie als hätte sie meine Gedanken gelesen, meinte sie plötzlich: "Ich weiß, was du denkst, und ich sag dir eins: Es hat keinen Zweck. Ihr habt eure Meinung über Viggo, ich meine und keiner von uns wird davon ablassen, bis derjenige einen Beweis für das Gegenteil hat. Diese Diskussionen bringen doch nichts."
Sagte sie das aus Überzeugung oder weil sie es nicht wahrhaben wollte? Nur zu gerne hätte ich gewusst, wie sie in ihrem tiefsten Inneren wirklich darüber dachte, doch jetzt eine Diskussion anzufangen, würde außer Streit nichts bringen. Daher stimmte ich zu.
"Einverstanden. Nur eine Frage: woher hast du gewusst, an was ich gedacht habe?"
Verschmitzt lächelnd antwortete sie: "Dein Gesicht ist so gut lesbar wie ein aufgeschlagenes Buch mit leuchtenden Buchstaben. Jeder kann sehen, was du denkst." War ich wirklich so leicht zu durchschauen? Oh Mann.
"Ähm, Hicks, ich will dich ja nicht drängen, aber wir sollten zur Drachenbasis zurückkehren. Wir sollten sie nicht so lange unbewacht lassen", merkte Fischbein auf einmal an. Der Rest des Teams nickte zustimmend.
"Du hast Recht. Romi, schick uns eine Schreckenspost, wenn du dich entschieden hast. Das gilt auch, falls du Hilfe brauchst. Denk dran, du bist nicht allein, egal wie du dich entscheiden wirst."
"Das mache ich. Auf Wiedersehen. Und guten Flug!" Zum Abschied umarmte sie alle kameradschaftlich, einschließlich eines sehr selbstzufriedenen Rotzbacke und einer sehr verdutzten Astrid.
"Bis bald!", rief ich, bevor ich mich Ohnezahn zuwandte, "Komm schon, Kumpel, fliegen wir los!" Doch anstatt dass er aufstand, grummelte er bloß unwillig.
"Jetzt mach schon, du Faulpelz." Abermals blieb er liegen. Okay, das war jetzt merkwürdig. Ich verstand ja, dass er müde war, aber so hatte er sich noch nie verhalten. War er vielleicht krank?
"Ohnezahn!" Erneut bewegte er sich nicht.
"Ist alles in Ordnung mit ihm?", fragte Astrid besorgt. Ratlos entgegnete ich:
"Ich weiß es nicht, so war er noch nie."
"Soll ich ihn mir mal ansehen?", schlug Romi vor, "Ich bin Heilerin und kenne mich recht gut mit Drachen aus." Ich nickte.
Zögerlich trat sie an Ohnezahn heran. Erst wunderte ich mich über ihr Unbehagen, dann erinnerte ich mich daran, dass ihre Eltern von einem Nachtschatten getötet worden waren. Das hier musste sie ganz schön viel Überwindung kosten. Professionell tastete sie ihn ab, ohne etwas zu finden. Als sie gegen den Sattel stieß, wurde sie prompt von Ohnezahn angeknurrt. Merkwürdig.
"Kann es sein, dass etwas mit dem Sattel nicht stimmt?", hakte sie sofort nach.
"Ich weiß es nicht, aber wie soll er so ein Verhalten verursachen können? Das ist doch bloß ein ganz normaler Sattel", entgegnete ich.
Nein. Moment. Das war nicht bloß ein ganz normaler Sattel. Dieser Sattel kam von den Drachenjägern. War es möglich, dass... Astrid hatte den gleichen Gedanken gehabt. Gemeinsam nahmen wir den Sattel ab. Tatsächlich. An der Unterseite prangte eine dünne Nadel, von der eine wie Seifenblasen schillernde Flüssigkeit tropfte. Man musste kein Heiler sein, um zu erkennen, dass es sich um Gift handelte.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Eine eiskalte Hand umklammerte meine meine Eingeweide. Ohnezahn war vergiftet worden. Ohnezahn war vergiftet worden. Fassungslos flüsterte ich:
"Nein. Nein, das kann nicht sein. Bitte, das darf nicht sein."
Warum hatte ich nicht gemerkt, dass an dem Sattel etwas faul war? Zufälligerweise stand genau dann ein Sattel bereit, wenn wir ihn am meisten brauchten. Ich hätte doch merken müssen, dass da etwas nicht stimmte! Ich war unaufmerksam gewesen und jetzt trug Ohnezahn die Konsequenzen. Es war meine Schuld.
"Es tut mir leid, mein Freund", murmelte ich, "Aber wir finden schon ein Gegengift, versprochen."
Er antwortete nicht. Mit aller Kraft unterdrückte ich die aufkeimende Panik. Ich musste bei klarem Kopf bleiben, ansonsten würde ich ihn nicht retten können. Ganz ruhig, Hicks. Eins nach dem anderen. Wer war der Schuldige? Ganz klar Viggo. Und was bezweckte er damit? Gute Frage. Bei jedem anderen hätte ich gedacht, er wolle mich nur schwächen, aber so dachte Viggo nicht. Hinter seinem Handeln steckte immer ein Plan. Also, was wollte er? Denk nach, denk nach! Die Vergiftung allein war schon ein cleverer Zug, normalerweise hätte ich keine weitere Absicht dahinter vermutet. Doch Viggos Vorhaben war nie das, was es zu sein schien. Da musste noch mehr dahinter stecken. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich fand den Sinn einfach nicht.
Bis mein Blick auf eine Pergamentrolle fiel, die an der Unterseite des Sattels befestigt worden war. Mit einem flauen Gefühl im Magen begann ich zu lesen.
Mein lieber Hicks,
da du das hier gefunden hast, gehe ich davon aus, dass du inzwischen die Vergiftung deines Drachens bemerkt hast. Falls nicht, informiere ich dich hiermit davon. Sicherlich fragst du dich jetzt, was der ganze Aufwand soll. Nun, ich verlange von dir nichts Weiteres als deinen Nachtschatten. Sofern du dich jetzt fragst, warum du mir ihn überlassen solltest: Ich bin der Einzige, der das Gegengift hat und deinen Drachen behandeln kann. Falls du dich gegen mein Angebot entscheidest, wird dein Drache innerhalb von drei Tagen sterben. Ich erwarte deine Antwort spätestens einen Tag vor Ablauf der Frist. Hochachtungsvoll,
Viggo Grimborn
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