Kapitel 8: In der Nacht ...

Romi

Vom Regen in die Traufe kommen, das beschrieb meine Lage wohl am besten. Berk! Was sollte ich da? Jeder Ort auf der gesamten Welt wäre mir lieber gewesen, abgesehen von der Jägerinsel vielleicht. Am liebsten wäre ich mit Sternenwind weggeflogen, an einen Ort weit, weit weg, wo mich niemand jemals finden würde. Aber das konnte ich Heidrun nicht antun, nicht nachdem sie mich aufgenommen hatte. Sie würde sich wahrscheinlich riesige Sorgen machen oder Schuldgefühle haben, dass sie Berks Einladung nicht abgelehnt hatte. Nein, das konnte und wollte ich nicht. Und selbst wenn sie mir keinen Schutz geboten hätte oder es mir schlicht egal wäre, ich konnte nicht immer davonlaufen. Trotz allem, was passiert war, das hier war auch meine Welt. Ich musste mich ihr stellen, mich der Reaktion der Reiter stellen. Obwohl ich mir wünschte, dass das nicht nötig wäre.

„Kannst wohl nicht schlafen?"

Vor Schreck machte ich einen halben Satz in die Luft, verlor das Gleichgewicht und kippte quietschend zur Seite. Zwar fing ich mich noch rechtzeitig ab, aber das änderte nichts an der Peinlichkeit meiner Reaktion. Na ja, war ja nur Dagur.

„Offensichtlich nicht", gab ich zurück.

Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ernsthaft, was war los mit ihm? Egal wie oft ich ihm klarmachte, wie sehr er mich nervte, kam er wieder. Und wieder. Und wieder. Wahrscheinlich machte ihm genau das Spaß, mich platzen zu sehen. Aber den Gefallen würde ich ihm ganz sicher nicht tun, nicht noch einmal.

„Wegen morgen?"

„Neeiin, wie kommst du darauf?"

Und überhaupt, warum setzte er sich neben mich? So unauffällig wie möglich rutschte ich zur anderen Seite der Treppe, so weit weg von ihm wie es nur ging.

„Na ja, ich kann mir vorstellen, dass die Leute dort nicht gerade begeistert sein werden."

Hatte er noch nie etwas von Sarkasmus gehört?

„Als ich zum letzten Mal dort war, habe ich mitbekommen, dass Astrid dir die Schuld gibt an ... du weißt schon. Zumindest war das bei der Trauerfeier so, ich weiß nicht, ob sie immer noch so denkt, ist schließlich ein paar Monate her. Und was alle anderen angeht, denke ich mal, dass die Reiter nicht gerade begeistert von deinem Verschwinden sind."

Astrid machte bitte was? Diese miese, bescheuerte Tussi gab mir die Schuld? Wie kam sie denn bitte schön da drauf? So eine verfluchte ... Wobei sie nicht so ganz Unrecht hatte. Gewissermaßen war es meine Schuld, ohne mich wäre nichts von all dem passiert, ohne mich wäre Hicks noch am Leben. Zwar säße er ohne mich womöglich immer noch in einer Zelle auf der Jägerinsel, aber das war ein schwacher Trost, denn gefangen und eingesperrt war immer noch besser als tot. Tot, verdammt noch mal, tot war er!

Schwindel erfasste mich, ich griff hinter mich und klammerte mich an dem rauen Holz der Treppe fest. In der Hoffnung, es würde den Schwindel vertreiben, kniff ich die Augen zusammen, doch es verschlimmerte alles nur. Denn auf einmal war da Hicks, lachend, grübelnd, verzweifelt, zornig, begeistert. Er sträubte sich an der Grenze zur Panik gegen die Lederriemen des Tisches im Heilerzelt der Jägerinsel, lag vergiftet durch Reikers Dolch und meine Arznei in Berks großer Halle, beobachtete entsetzt und hilflos auf dem Deck des Granatenfeuerschiffs wie die Käfige mit Astrid und Heidrun untergingen, brachte mein Weltbild durch seine Erzählungen ins Wanken, nahm das Drachenauge in meiner Hand an, verabschiedete sich am Boden zerstört von Ohnezahn, rammte sich das Schwert in die Brust. Immer schneller flogen die Momente dahin, bis sie schließlich zu einem einzigen Bild von ihm verschwammen. Aber nein, das konnte kein Bild sein, kein Bild der Welt hätte ihn so gut einfangen können. Überwältigt wimmerte ich, meine Nägel bohrten sich in meine Handflächen und ich krümmte mich zusammen.

„Hey. Hey. Ganz ruhig. Ich bin da. Ist alles gut."

Ja. Ruhig. Ich musste mich beruhigen.

Bebend atmete ich durch, öffnete die Augen, lockerte die Fäuste, richtete mich auf. Warf einen flüchtigen Blick auf Dagur, der mich besorgt musterte.

„Ich will dich ja auf keinen Fall bedrängen oder so, aber hängt das gerade mit dem zusammen, was ich vorhin gesagt habe?"

Seine Stimme klang ehrlich interessiert und besorgt, vielleicht war das der Grund, warum ich ihn nicht wie sonst auch ignorierte oder eine bissige Antwort gab. Dennoch überraschte mich selbst, dass ich so reagierte, dass ich mich endlich nach all der Zeit öffnete und herausließ, was ich zu einem harten Knoten zusammengepresst hatte, nun aber mit aller Macht darauf pochte, aus mir herauszuströmen.

„Nein. Ja. Also ... Ach, ich vermisse ihn, ich vermisse ihn einfach. Ich meine, er ... er war immer so freundlich zu mir, hat mich vor allen anderen verteidigt und wenn ich ... wenn ich daran denke, dass er wegen meinem Bruder ... dass er wegen mir ..."

Schluchzer schüttelten mich und ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Hilfe, was war los mit mir? Seit wann weinte ich vor Fremden – und dann auch noch ausgerechnet Dagur? Ich wandte den Kopf ab, so sollte er mich nicht sehen, so schwach, so verletzlich. So sollte mich niemand sehen und er schon zweimal nicht. Beschämt fuhr ich mir mit der Hand über den nassen Film auf meinem Gesicht und versuchte, jegliches Schluchzen zu unterdrücken, mit eher mäßigem Erfolg.

„Das ist nicht deine Schuld. Nichts davon."

Ein trockenes Lachen entfuhr mir. Entweder war Dagur dumm oder naiv oder er wollte mir etwas vormachen.

"Du ... du brauchst mich nicht zu trösten, ich weiß ... ich weiß, dass ich mich albern benehme."

„Romi. Sieh mich an."

Zögerlich drehte ich den Kopf. Er saß nun noch näher an mir als zuvor und blickte mich eindringlich an. Am liebsten hätte ich mich wieder weggedreht oder wäre gleich ganz aufgestanden. Doch seine stechend grünen Augen nagelten mich fest, bannten mich an Ort und Stelle.

„Erstens: wenn du weinen musst, dann wein. Tut gut manchmal. Du musst dich nicht dafür schämen."

Mein Lächeln musste vollkommen aufgesetzt wirken, mit diesem tränenüberströmten, verkrampften Gesicht und den Händen, die sich so fest um das Geländer der Treppe krampften, dass meine Knöchel weiß angelaufen waren. Möglicherweise hatte er Recht, möglicherweise war es keine Schwäche, zu weinen. Trotzdem hätte ich mich lieber an jedem anderen Ort befunden als auf dieser Treppe im Haus der Berserker. Auch wenn es auf verdrehte Weise guttat, all diesen Schmerz endlich richtig zu spüren anstatt ihn zu ignorieren. Obwohl es vor Dagur stattfand - vor einem Dagur, der jedoch völlig verändert wirkte. 

"Und zweitens: Das ist nicht deine Schuld. Und jeder, der etwas Anderes behauptet, kriegt von mir eine gesemmelt!"

Vielsagend wackelte er mit den Augenbrauen, was so herrlich albern wirkte, dass ich gar nicht anders konnte als loszuprusten. Trotz allem, was geschehen war, trotz dieser absurden Situation, konnte ich nicht anders als zu kichern und zu kichern und zu kichern. Für einen Moment hielt Dagur inne, dann lachte auch er los. Und für einen kurzen, kostbaren Moment traten alle Geschehnisse der letzten Zeit in den Hintergrund. Als wir uns wieder abreagiert hatten, gab ich der Frage nach, die seit einigen Minuten in meinem Kopf herumspukte und ihn mit riesigen leuchtenden Buchstaben ausfüllte.

„Warum?"

„Warum was?"

„Warum machst du das? Tröstest mich, versprichst, mich zu verteidigen, bringst mich zum Lachen, das passt so überhaupt nicht. Ich meine, du wolltest immerhin auf mich losgehen und ich habe dich geschlagen! Warum also?"

Er bestastete seine angeschwollene, blau verfärbte Wange.

„Jaaa, das tat weh. Ziemlich weh, um genau zu sein. Aber gut, mein Spruch war auch ziemlich bescheuert, von daher sind wir quitt. Und ... na ja ... ich will nicht, dass du traurig bist. Ich meine, klar, du hast jedes Recht dazu, aber ... Du verdienst es, glücklich zu sein und wenn ich etwas dazu beitragen kann, dann tue ich das gerne."

„Wow. Das ausgerechnet von dir zu hören ..."

„Wieso 'ausgerechnet von dir'?"

War er wirklich überrascht oder tat er nur so? Zuzutrauen wäre es ihm. Wahrscheinlich wollte er mich bloß mal wieder aus der Reserve locken, mich verwirren, meine Fassade durchdringen. Blöd für ihn, dass ich das nicht zulassen würde. Nein, dieses Mal würde es anders laufen. Ich würde ihn aus der Reserve locken, ihn mit seinem gnadenlos verwirrenden Verhalten - je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto weniger verstand ich ihn - konfrontieren. Mal sehen, wie er reagieren würde.

„Hm, lass mich mal überlegen ... Jedes Mal, wenn du mich siehst, bist du darauf aus, mich zur Weißglut zu bringen. Du klopfst dumme Sprüche, machst vollkommen absurde Vorschläge, stocherst in Sachen herum, die dich absolut nichts angehen und das alles nur, um mich zum Ausrasten zu bringen. Und dann kommst du jetzt zu mir und bist auf einmal nett. Wie passt das zusammen, Dagur, wie? Gar nicht, das sage ich dir. Und weißt du, was mich am meisten aufregt? Dass es funktioniert! Jedes Mal falle ich auf deine verfluchten Tricks herein – da, schon wieder! Sicher bist du jetzt froh, nicht wahr? Argh, du machst mich fertig! Fertig machst du mich!"

Nichts. Keine Reaktion. Er starrte mich einfach nur vollkommen perplex an. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit begann er zu lachen, so laut, dass wahrscheinlich das ganze Dorf davon geweckt wurde.

„Oh ja, lach mich nur aus, mach schon!"

Rabendreck, war dieser Typ verwirrend! Was war bitte schön so witzig? Meine Wut konnte doch nicht der einzige Grund sein für dieses Lachanfall, den man schon guten Gewissens als hysterisch bezeichnen konnte. Er kriegte sich ja gar nicht mehr ein, sein Lachen besaß mittlerweile etwas Krampfhaftes, Gequältes.

„Dagur?"

Hilflos musterte er mich, seine Augen schwammen in Tränen. Er wirkte als würde er jeden Moment platzen.

„Du – du denkst also, ich will dich einfach aufregen? Das soll der Grund sein, warum ich ... äh, ja."

„Weswegen sonst?"

„Das fragst du mich?", wollte er wissen, als sei es die unverständlichste Sache der Welt, „Du hast nicht gemerkt, dass ich ..."

„Dass du was?"

Konnte er nicht mal damit aufhören und einfach sagen, was er sagen wollte? Bei Thor, regte mich dieses Gestammel auf. Eigentlich wäre es am klügsten, zu gehen, bevor eine weitere Katastrophe geschah, doch dieses Gefasel machte mich nicht nur wütend, sondern auch neugierig, und so blieb ich sitzen. Was er mir wohl mitteilen – beziehungsweise eher nicht mitteilen – wollte? Erneut lachte er freudlos, schüttelte ungläubig den Kopf.

„Du hast also nichts mitbekommen von alldem? Gar nichts?"

„Könntest du bitte mal aufhören, so kryptisch zu reden, zum hinkenden Wechselflügler nochmal?! WAS soll ich nicht mitbekommen haben?"

Einen Moment knetete er unschlüssig seine Finger, dann winkte er ab.

„Ach, nicht so wichtig."

Das war der Moment, in dem ich explodierte.

„Nicht so wichtig? Nicht so wichtig? Erst machst du lauter mysteriöse Andeutungen und dann lässt du mich einfach damit sitzen? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie unfair und bescheuert und ... und unfair das ist? Aber neeeiiin, Dagur der Durchgeknallte interessiert sich nur für sich selbst. Warum bist du dann überhaupt zu mir gekommen, warum hast du mich dann überhaupt getröstet?"

„Romi, ich ..."

„Ich will's gar nicht erst wissen, lass mich in Ruhe! Weißt du was? Ich gehe jetzt schlafen. Bei Heidrun im Zimmer, bevor du noch auf irgendwelche dummen Gedanken kommst. Auf dich habe ich nämlich wirklich keine Lust mehr. Gute Nacht!"

„Gute Nacht, Romi", hörte ich ihn murmeln, aber bestimmt bildete ich mir das nur ein. So einer wie der wünschte mir ganz bestimmt keine gute Nacht, der wünschte mir eher, dass ich aus dem Bett fallen und mir dabei ein Bein brechen würde. Ohne mich nach ihm umzudrehen, stampfte ich die Treppe hoch.

Die Tür zu Heidruns Zimmer knarzte alarmierend laut – was möglicherweise daran lag, dass ich sie in meiner Wut etwas zu schwungvoll aufriss. Mist, Mist, Mist, hoffentlich hatte ich sie nicht gewe-

„Romi? Was ... was gibt's?"

Super. Das hatte ich ja mal wieder grandios hingekriegt. Einen Applaus für Romi, den größten Trampel unter der Sonne.

„Nichts, alles gut."

Mit etwas Glück würde sie es glauben und weiterschlafen. Auf eine Diskussion über die Diskussion mit Dagur hatte ich nämlich absolut keine Lust, zumal es mir leidtat, sie geweckt zu haben. Eine tolle Freundin war ich, weckte sie mitten in der Nacht, weil ich einen Kleinkrieg mit ihrem Bruder führte. Doch irgendetwas in meiner Stimme musste meine Worte Lügen gestraft haben, denn sie richtete sich im Bett auf und hakte nach:

„Was ist passiert? Du hörst dich wütend an."

Wütend? Ja, das traf es ziemlich genau. Genervt, sauer, hochgradig aufgebracht und seit ein paar Sekunden auch schuldbewusst passten ebenfalls.

„Nichts ist passiert. Warum muss immer etwas passiert sein?"

Zwar konnte ich in der Dunkelheit des Zimmers nichts erkennen, doch ich war mir sicher, dass Heidrun die Stirn runzelte.

„Denkst du, ich würde dir das abkaufen?"

Bis gerade eben schon.

„Wenn du nicht willst, musst du es mir nicht erzählen. Ich zwinge dich zu nichts. Außer vielleicht dazu, mich morgen eine Runde auf Sternenwind mitzunehmen."

Ich hätte schwören können, dass sie mir zuzwinkerte, obwohl ich nicht mehr sehen konnte als zuvor. Wie machte sie das? So ruhig und entspannt zu bleiben, mir so viel Zeit zu lassen wie ich brauchte? Und was war mein Dank? Ich verheimlichte Sachen vor ihr, schwieg sie an, platzte mitten in der Nacht in ihr Zimmer herein, ohne ihr den Grund zu nennen. So gesehen war ich eine ziemlich miese Freundin. Wann hatte ich je etwas für sie getan? Nur Probleme bereitete ich ihr und ließ mir nicht mal von ihr helfen, sie zu lösen. Ja, ich fühlte mich schäbig und zwar nicht aufgrund meines Aussehens. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich nun etwas tat, was ich eigentlich schon längst aufgegeben und begraben hatte. Den Blick fest auf den Boden gerichtet, erzählte ich, was passiert war, und schloss mit den Worten:

„Eigentlich ist es ja nichts Schlimmes, nur ... Dagur eben. Er - er regt mich einfach so auf mit seinem blöden Getue, du hast es gestern ja selbst gesehen."

„Ja, mein Bruder kann manchmal ziemlich bescheuert sein. Aber ich denke nicht, dass das gerade eben Absicht war."

„Wie soll er es bitte ohne Absicht machen? ‚Ups, jetzt habe ich dich aus Versehen zur Weißglut gebracht, tut mir leid' oder wie?"

„Ich wollte sagen, dass er ziemlich ungeschickt ist, wenn es darum geht, sich auszudrücken, es aber mit dir nicht böse meint."

Konnte das sein? Hatte Dagur sich tatsächlich einfach nur mit mir unterhalten wollen? Die Wahrheit war, ich wusste es nicht und es herauszufinden, war so gut wie unmöglich. Also murmelte ich kleinlaut:

„Jaja, schon gut, Ich gebe ihm eine Chance."

Heidrun schien sichtlich erleichtert über meine Antwort, auch wenn sie nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Wie leicht es mir inzwischen fiel, diejenigen, die mir wichtig waren, anzulügen! Ein Jahr zuvor hätte Heidrun mich sofort durchschaut – möglicherweise hatte sie mich auch jetzt durchschaut, ließ es mich aber nicht wissen. Die Übung hatte die Meisterin gemacht, mich von einem jungen Mädchen, das nicht einmal ein Kleinkind hätte anlügen können, in eine Person verwandelt, deren Gewissen sich nun so gut wie gar nicht geregt hatte. Es sprach Bände – und sie gefielen mir nicht.

Was, wenn ich wie Viggo wurde?

Wie ein Blitz durchfuhr mich dieser Gedanke, brachte das Blut in sämtlichen Adern zum Kochen und meine Haut zum Kribbeln. Vor Schreck schnappte ich nach Luft, saugte jedoch auch Speichel ein, der prompt meine Luftröhre verstopfte. Tränen schossen mir in die Augen, ich röchelte und hustete und rang nach Sauerstoff, alles ohne Erfolg, die Spucke blieb und meine Lunge zog sich verzweifelt zusammen ... bis ein heftiger Klaps gegen meinen Rücken alles wieder ins Lot brachte.

„Lass mich raten: alles gut bei dir, du trainierst nur für den diesjährigen Wettbewerb im Luftanhalten?"

Keine Ahnung warum, doch diese vollkommen absurde Bemerkung brach einen Damm in mir, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Ich begann zu lachen. Laut. Und lange. Und so heftig, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Das kleine Prusten und Kichern mit Dagur war nichts gegen diesen ausgewachsenen Lachanfall.

Ich lachte über Heidruns Kommentar, aber auch über alles Andere, über mich und mein vollkommen lächerliches Verhalten, über meine überzogenen Ängste und mein sinnloses Misstrauen, darüber, dass die einzige Person, der ich etwas vormachte, ich selbst war. Verdammt, selbst Dagur hatte mich wahrscheinlich längst durchschaut! Was irgendwie so absurd war, dass ich noch mehr lachte. Was noch absurder war, aber egal, ich lachte. Und lachte. Und lachte. Wann hatte ich bitte das letzte Mal so gelacht? Und warum hatte ich keine Ahnung gehabt, wie befreiend es war, über sich selbst zu lachen?

Denn mit einem Mal erkannte ich, wie kindisch, wie dämlich ich mich verhalten hatte, wie sehr ich mich von meinen Ängsten leiten ließ. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich so nichts erreichte, außer mich immer weiter zu isolieren. Mit einem Mal merkte ich, dass ich eigentlich nichts zu verlieren hatte, also warum mich weiterhin einigeln? Ja, ich realisierte, dass ich mich auf einem völlig falschen Weg befunden hatte.

Und das tat gut.

Eine gefühlte Ewigkeit später ging mir die Puste aus von all dem Lachen, ich konnte einfach nicht mehr. Völlig fertig ließ ich mich auf das Bett fallen - und schrie gleich auf. Das war ja gar keine Strohmatratze wie in meinem alten Zuhause, das waren Holzbretter! Sehr, sehr harte Holzbretter.

"Sag mal, wie kannst du darauf schlafen?", schimpfte ich, "Da kann man sich ja genauso gut auf den Boden legen! Wozu braucht man dann noch ein Bett?"

"Tja, es sind eben nicht alle verweichlichte Prinzesschen", konterte sie mit einem schelmischen Unterton.

"Die Rolle der knallharten Berserkerin war leider schon vergeben, da musste ich eben nehmen, was übrig ist. Du darfst dich nur nicht von meinem Aussehen täuschen lassen, in Wahrheit bin ich die hübscheste Prinzessin von allen."

Schwungvoll warf ich meine struppigen Zöpfe über die Schulter.

"Ach, übrigens, Eure Majestät, Ihr neustes Gewand steht zur Anprobe bereit."

"Neustes Gewand?", hakte ich stirnrunzelnd nach.

"Nun, ich habe mir gedacht, dass das, was du jetzt trägst, einer Prinzessin nicht ganz angemessen ist. Deswegen habe ich auf dem Rückflug von Berk einen kleinen Zwischenstopp auf den Marktinseln gemacht und siehe da ..."

Mit diesen Worten öffnete sie eine hölzerne Truhe und zog einige Stoffbündel hervor.

"Warte, ich mache Licht."

Im goldenen Schein der Kerze breitete sie die Kleidungsstücke auf dem Nicht-Bett aus. Ein rotes Oberteil mit langen, weiten Ärmeln, eine beige Hose sowie eine ärmellose schwarze Tunika, mit rotem Leder an der Seite und im Brustbereich verstärkt.

"Für mich?", fragte ich ungläubig.

"Natürlich ist es für dich, für wen sonst? Ich habe sogar dein Symbol aufgestickt."

Tatsächlich, da war mein Dämmerungszeichen, mit goldenem, silbernem und orangenem Garn auf das Leder gestickt. Handtellergroß stach es hervor und strahlte mit der goldenen und silbernen Borte, auf der rechten und linken Seite des Saums angenäht, um die Wette. Überwältigt strich ich über den herrlich weichen Stoff. Es war ein wunderbares Geschenk, das Beste, das ich jemals bekommen hatte. Doch genau deshalb ...

"Heidrun, das kann ich nicht annehmen.

"Warum?"

"Weil ...", unbehaglich wand ich mich unter ihrem Blick, "weil du schon genug für mich getan hast, da kann ich nicht auch noch ..."

"Hör zu, ich brauche und will es nicht. Es ist deins."

"Aber ..."

"Kein aber. Sonst hole ich Dagur und der quatscht dich solange voll, bis du es anziehst. Da ist es besser, du machst es gleich."

Manchmal war mir meine Freundin regelrecht unheimlich. Doch da ich ihrer unverhüllten Drohung wenig entgegensetzen konnte, nahm ich die Kleidungsstücke an mich. 

"Zufrieden?"

"Fast."

Heidrun hatte den Kopf schiefgelegt, presste die Lippen aufeinander und musterte mich. Lange. Extrem lange. Die flackernde Kerze ließ ihr Gesicht in jedem Moment anders aussehen, verschleierte ihre Gedanken. Gerade als mir die Stille so dröhnend vorkam, dass ich mir am liebsten die Decke über den Kopf gezogen hätte, da brach sie das Schweigen.

"Komm mal her."

Wie hatte ich ihre Stimme vermisst, ihre sanften Anregungen und das neckische Funkeln in ihren Augen, ihre ganze wohltuende Gegenwart. Es war mir nicht bewusst gewesen bis zu diesem Moment, doch jetzt, wo sie vor mir stand, spürte ich mit einem Mal die volle Kraft der Einsamkeit, die sich in mich hineingeätzt und ein Loch in meine Brust gefressen hatte. 

Ein Loch, das mich betäubt, mir die Orientierung und den Willen geraubt hatte. Ein Loch, das auf einmal anfing zu sengen und zu reißen, meine Hände sich verkrampfen ließ und die Säure meine Kehle hochjagte. Doch ich umarmte den Schmerz, tauchte in ihn hinein, ließ mich von ihm ummanteln. Denn ich wusste, nur er würde mir Heilung bringen können.

Auffordernd klopfte Heidrun neben sich auf das Nicht-Bett. Ich stakste zu ihr hinüber, setzte mich zu ihr. Wäre am liebsten gleich wieder aufgesprungen. Nicht, weil ich nicht neben ihr sitzen wollte, sondern weil der Drang nach Nähe so groß wurde, dass er meinen Hals verstopfte. Ich wollte sie umarmen und zugleich wegrennen, sie nie mehr loslassen und mich für immer zurückziehen. Doch wie jeder Magnet, der von zwei Kraftfeldern angezogen wurde, blieb ich regungslos sitzen.

Weiche Finger fuhren über meinen Kopf, meinen Nacken, meine Zöpfe hinunter. Immer wieder blieben sie in verfilzten Strähnen hängen, zerrten kurz daran, bis sie sich gelöst hatten.

"Du siehst aus wie eine Vogelscheuche, weißt du das?"

"Vielen Dank für das Kompliment!"

Leise schmunzelte ich. Oh ja, sie hatte mir wirklich gefehlt.

"Soll ich sie dir abschneiden?"

Sie abschneiden? Wollte ich das? Beinahe mein ganzes Leben hatte ich meine Haare so getragen. Ihr Gewicht an meinem Rücken hatte mir immer Halt gegeben. Sie gehörten zu mir, zu Romi. Schnitt ich sie ab, verlor ich dann nicht die Verbindung zu mir, zu meinem alten Leben?

Andererseits, wollte ich noch die alte Romi sein? Ich hatte mir geschworen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Die Erinnerungen daran, sie waren sowieso vergiftet. Ich war eine andere geworden. 

Mit einem Mal erschienen mir meine Zöpfe unerträglich schwer, wie sie da auf meinen Schultern lasteten, wie die Knoten und abstehenden Härchen in meinen Nacken stachen, wie sie sowieso seit Monaten völlig verfilzt und  heruntergekommen aussahen. Und die Entscheidung wurde zur leichtesten Sache der Welt. Nein, ich wollte sie nicht mehr mit mir herumschleppen. Also nickte ich.


-°-°-°-°-°-


Fünf Schnitte benötigte Heidrun, bis der erste Zopf zu Boden plumpste. Wie eine Schlange sah er aus, so leblos auf den Holzdielen, oder ein totes Frettchen.

"Nicht bewegen!"

Ich wandte den Kopf wieder nach vorne, merkwürdig schutzlos und einseitig fühlte er sich an. Schutzlos ... aber leicht. Der zweite Zopf war schneller durchtrennt, hart und endgültig ertönte das letzte Schnappen der Schere. Zum Schluss wuschelte Heidrun mir durch die restlichen Haare, dann stand sie vom Bett auf. Zögerlich fuhr ich mit den Fingern hindurch. Es fühlte sich definitiv anders an - aber auf gute Weise. Ich lächelte, ließ den Kopf kreisen, die feinen Haarspitzen streichelten meinen Nacken.

"Willst du mal sehen?"

Der Handspiegel, den Heidrun mir reichte, war verziert mit eingravierten Efeuranken und Pusteblumen. Fein zogen sich die Linien unter meinen staunenden Fingern dahin. Das Metall war über die Jahre schwarz angelaufen, auf der Rückseite prangten einige Kerben und doch war er ein Stück unglaublicher Schönheit. 

Aus ihm heraus blickte mich eine junge Frau an, mit ernsten Augen und einem abgekämpften Zug um die Mundwinkel herum, dennoch umgab sie eine gewisse Leichtigkeit, eine gewisse Freiheit. Weiche Haarsträhnen hingen bis zu ihrem Kinn hinab. Sie sah erwachsen aus, so fremd, aber ich wusste, sie war genau die Richtige.


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