Kapitel 7: Daheim

Dagur

Fünf Stunden später landete ich vollkommen ernüchtert auf dem wunderbar nach Heimat duftenden Erdboden der Berserkerinsel. Der Flug war der reinste Horror gewesen, für beide von uns. Geschwächt von monatelangem Hunger, lähmender Kälte und Übermüdung war Romi gegen Ende kaum noch in der Lage gewesen, sich auf ihrem Drachen zu halten. Den ganzen Flug über hatte ich um sie gebangt und war unter ihr geflogen, um sie zur Not auffangen zu können. Eine weise Entscheidung, wie sich herausstellte, denn um die Mittagszeit war ihr Drache aus heiterem Himmel abgestürzt. Dank meiner brillanten Reflexe hatte ich ein Bad im Meer verhindern können, doch da Schnüffler den Rest des Weges ein mehrere Tonnen schweres, schnarchendes Reptil schleppen musste, waren wir entsprechend langsam vorangekommen.

Das einzig Schöne war gewesen, als sie hinter mir gesessen war und sich an mir festgehalten hatte. Gut, steif und widerwillig und erst nachdem sie eine plötzliche Böe beinahe von Schnüffler heruntergeweht hatte. Aber das Gefühl ihrer Hände auf meinem Bauch, ihrer Arme, die gegen meine Arme drückten! Klamm und doch wie glühendes Eisen auf meiner bloßen Haut. Dazu noch ihr Atem in meinem Nacken, die feinen Haare, die mich kitzelten und ihre herrlich sarkastischen Bemerkungen ... Ich wäre nicht überrascht gewesen, wäre auch ich wie ein Stein ins Meer gestürzt.

Doch durch irgendein Wunder hatte wir wohlbehalten meine geliebte, großartige, grandiose Berserkerinsel erreicht. Tat das gut, zu Hause zu sein! Stolz lächelnd sprang ich von Schnüffler herunter, sobald dieser Sternenwind abgesetzt hatte. Natürlich nicht, ohne ihm dankend gegen die Flanke zu klopfen. Ich wusste, was ich meinem Drachen schuldig war, vor allem wenn er solche Schwerstarbeit wie heute leisten musste - mit einem gezerrten Flügel immerhin!

"Romi, du stehst auf der Spitze der besten, stärksten, hipsten Insel des gesamten Archipels. Von hier kommen die draufgängerischsten Kämpfer, die größte und fortschrittlichste Armada und die köstlichsten Yakmilchpfannkuchen mit Blaubeeren der Welt. Nicht zu vergessen die unzähligen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung wie der Katapult-Schleudersitz oder das Eisklettern in den Höhlen unterhalb der Insel. Ich verspreche dir, es wird dir nicht langweilig werden. Wie wäre es mit einer kleinen Besichtigungstour am Anfang?"

Ablenkung brauchte sie sicherlich und nichts pustete trübe Gedanken und quälende Erinnerungen so gut weg wie ein Katapultflug über die Insel und die anschließende Landung im Meer. 

Schwer blinzelnd hob sie den Kopf, ihre Augen lediglich Schlitze.

"Dagur, das Einzige, was ich will, ist ein schön deftiger Eintopf. Und möglicherweise ein paar Ohrenstöpsel, dein Gequatsche ist nämlich nicht auszu-"

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte eine entrückte Regung in ihrem Gesicht auf, über ihre Augen legte sich eine glasige Schicht. Dann sackte sie in sich zusammen.

So schnell hatte ich mich noch nie in meinem Leben bewegt. Kurz bevor sie unweigerlich auf dem Boden aufgeschlagen wäre, machte ich einen Satz nach vorne und ergriff ihren Arm. Dummerweise hatte ich sowohl meinen Schwung als auch ihr Gewicht völlig falsch eingeschätzt, sodass wir eine synchrone Drehung machten und ebenso synchron auf den aus der Nähe nicht mehr so wundervoll riechenden Untergrund fielen.

Gut, dass das keiner gesehen hatte. Zumindest niemand, der Romi hinterher davon berichten konnte. Ich war mir nicht sicher, ob sie mich für meine Unfähigkeit auslachen oder mich gleich umbringen würde und ich hatte keine Ahnung, was schlimmer wäre. Die Frage war nur, was sollte ich jetzt mit ihr machen? Bei ihrem Zustand würde sie wohl kaum bald aufwachen. Und sie hier liegen zu lassen, brachte ich einfach nicht übers Herz, allein der Gedanke kam mir wie ein himmelschreiender Verrat vor.

"Ähm, Kumpel, würde es dir etwas ausmachen, sie zu unserem Haus zu tragen? Kumpel? Hey, wo bist du hin?"

Seufzend beugte ich mich vor und hob Romi hoch. Bei Thors Hammer, das Mädchen war ja nur noch ein Sack Knochen! Selbst ein Qualmdrache wog mehr als sie, kein Wunder, dass sie zusammengeklappt war. Oder war sie eingeschlafen? Sah so aus. Bei einer Ohnmacht müsste sie schon längst wieder aufgewacht sein.

"Äh, Dagur-Chef, können wir irgendwie helfen?"

"Was?"

Überrascht drehte ich mich um, wobei mir Romi beinahe aus den Armen gefallen wäre.

"Wer wagt es mich zu - Ach, ihr seid das!"

Hinter mir stand in Reih und Glied ein Trupp aus meinen sechs tapfersten Berserkern und musterte mich skeptisch.

"Genau, wir. Sie haben uns losgeschickt, um die Grenzen zu bewachen, schon vergessen? Und da haben wir die Drachen landen sehen und dachten..."

"Und genau deshalb sollt ihr das Denken mir überlassen. Drachen sind jetzt unsere Verbündeten, kapiert, ihr Hohlbirnen?!"

"Verstanden, Chef. Äh, ist das eine Gefangene? Sollen wir sie in die Kerker bringen?"

"NEIN, DAS SOLLT IHR NICHT! Das ist ein Gast, falls ihr dieses Wort überhaupt kennt."

"Ach so. Äh, sollen wir sie dann zum Heiler tragen?"

"Was? Nein, nein, alles bestens. Ihr geht es gut, seht ihr. Sie muss sich nur ausruhen. Ach, wenn ihr schon nichts zu tun habt, dann bringt diesen Drachen in die Ställe. Und wehe, es stößt ihr etwas zu! Verstanden?"

"Natürlich, Chef."

Während die sechs sich mit der zugegebenermaßen ziemlich großen Sternenwind abmühten, mühte ich mich mit Romi ab. Nicht etwa, weil sie zu schwer für mich gewesen wäre, sondern weil ich mich nicht von ihrem wundervollen Anblick loseisen konnte und daher andauernd über Unebenheiten im Boden stolperte. Dass wir auf dem Weg zu Heidruns und meinem Haus kein einziges Mal hingefallen waren, grenzte schon an ein Wunder. 

Vor der Haustür blieb ich stehen, schwindelig vor Glück. Romi war hier auf der Berserkerinsel, hier bei mir, lag in meinen Armen! Ich hätte singen können, einen Berserkerschrei ausstoßen, doch nichts davon könnte ausdrücken, was in diesem Augenblick in mir vorging. Hatte ich jemals einen perfekteren Augenblick erlebt? Die Wärme, die ihr drahtiger Körper ausstrahlte, das leichte Prickeln an den Stellen, wo sie den meinen berührte, der Frieden auf ihrem von Erschöpfung und Leid gezeichneten Gesicht. Nein, einen schöneren Moment konnte es nicht geben, alle Freuden erschienen blass und schal gegen Hauch von Unendlichkeit. Lachend richtete ich den Kopf der Sonne entgegen, die hoch über uns zwischen Wolkenfetzen leuchtete und doch nichts war verglichen mit dem Ball aus purer Energie, purer Liebe, die in mir brannte und strahlte und mich bis in die Fingerspitzen erfüllte. Am liebsten würde ich den Moment für immer einfrieren, die Zeit anhalten, auf ewig so stehen bleiben mit Romi in meinen Armen.

Doch die Schwerkraft kümmerte mein Glück nicht und obwohl Romi deutlich abgemagert war, zitterten meine Arme unmissverständlich. Außerdem türmten sich über den Bergen finstere Wolken auf, hergetrieben von einem eisigen Wind, der ihre Hagelkörner auf uns zu peitschte. 

Eine letzte Sekunde betrachtete ich Romi noch, gab mich dem Augenblick hin, der sich unauslöschlich in mein Gedächtnis brannte und nie wieder daraus verschwinden würde, bevor ich das Haus betrat.

Drinnen war es dunkel, allein das schwache Glühen der Kohlen im Kamin und das wenige Tageslicht, das durch die Fenster fiel, erleuchteten den Raum. Die hölzernen Fensterläden klapperten im Rhythmus der Windböen. Eilig schloss ich sie und legte den Haken vor. Romi sollte nicht frieren, dass hatte sie schon lange genug getan. Wie im Schlaf trugen mich meine Füße die Treppe hoch ins Obergeschoss und umkurvten elegant alle im Weg stehenden Möbel. Oben angekommen, marschierten sie schnurstracks durch die rechte der beiden Türen.

Früher hatten Heidrun und ich uns dieses Zimmer geteilt, während unsere Eltern nebenan geschlafen hatten. Nachdem ich Heidrun ausgesetzt hatte, meine Mutter an Aalpocken gestorben und mein Vater verschwunden war, hatte ich alleine in diesem Haus gelebt. Bei ihrer Rückkehr hatte Heidrun dann das ehemalige Zimmer unserer Eltern übernommen. Besser so, ich hatte es gehasst, mein Zimmer teilen zu müssen. Wobei ich das nun gerne für sie machen würde.

Sanft legte ich Romi auf meinem Bett ab und deckte sie mit einer Wolldecke zu. Keine Regung ihrerseits, sie lag genauso schlaff da wie zuvor in meinen Armen. Wer weiß wie lange es dauern würde, bis sie wieder aufwachte. Doch ich würde warten, auch wenn Geduld nicht zu meinen herausragendsten Eigenschaften gehörte. Ich würde sie nicht alleine lassen.


-°-°-°-°-°-


Rasch flog der Stift über das Papier, hinterließ schwarze Spuren, die sich zu einer Skizze von der immer noch bewusstlosen Romi formten und doch nur einen Hauch von ihrem Glanz einfingen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, doch als ich vor einer Weile aus dem Fenster geschaut hatte, hatte ein tintenblauer Schimmer den Himmel überzogen - was nicht viel heißen musste. Jetzt im Winter ging die Sonne extrem früh unter. Ich konnte lediglich schätzen und meinem alles Andere als zuverlässigen Zeitgefühl nach waren schon mehrere Tage vergangen.  Seit ich Romi hingelegt hatte, hatte ich schon meine Waffen geschärft, Romi beim Schlafen zugesehen, Yakmilchpfannkuchen für sie gebacken, ihr beim Schlafen zugesehen, das Zimmer gefegt, Romi beim Schlafen zugesehen und angefangen, sie zu zeichnen. Aber Moment, da fehlten noch ein paar Korrekturen, wie wäre es, wenn ich hier ...

Ein leichtes Rascheln ließ mich hochschrecken.

"Was zum ... Wo bin ich hier?", fragte eine schläfrige Stimme.

Romi war aufgewacht! Sofort rutschte ich mit dem Hocker näher an das Bett heran und beugte mich vor.

"Wie geht es dir?", stieß ich atemlos hervor.

"Was? I-ich ... ganz gut, denke ich. Wo bin ich?"

"Bei mir im Haus. Du bist umgekippt, also habe ich dich hierher getragen."

"Hast du? Oh, danke."

Benebelt lächelte sie mich an. So freundlich hatte sie mich noch nie angeschaut, nie, nie, nie!     Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Es war mir egal, dass sie nicht völlig wach war, sie lächelte mich an! Und auch ich lächelte, mindestens so verschwommen wie sie und doch aus so vollem Herzen wie noch nie in meinem Leben.

"Könnte ich ... könnte ich vielleicht etwas trinken?"

"Jederzeit! Warte, ich hole dir etwas."

Beschwingt hüpfte ich die Treppe herunter - wohl etwas zu schwungvoll, denn ich verfehlte eine Stufe und polterte nach unten. Autsch, autsch, autsch, autsch, autsch! Mein Knöchel! Jep, ich konnte eindeutig eine Treppe runterlaufen. Zum Glück hatte Romi das nicht gesehen. 

Eilig humpelte ich zum immer noch im Halbdunkel verborgenen Tisch und griff nach dem Krug. Zu eilig, denn ich griff daneben, streifte ihn unglücklich und mit einem lauten Scheppern kippte er um. Eine sich ausbreitende Pfütze überschwemmte den Tisch, tropfte auf den Boden und durchnässte den Papierstapel, den Heidrun dort hingelegt hatte.

Super. Nicht nur dass ich mich in das Musterbeispiel eines Tollpatsches verwandelt hatte, Heidrun würde vor Freude auf dem nun in Papierbrei getränkten Tisch tanzen. Genervt wischte ich die Pfütze auf und füllte einen Becher mit Wasser aus einer weiteren Karaffe. Anschließend hastete ich nach oben, so gut das mit meinem schmerzenden Knöchel eben ging. Bloß nicht noch einmal hinfallen, nicht hinfallen ...

Glücklicherweise gelangte ich wohlbehalten nach oben. Als ich durch die Tür trat, bemerkte ich, dass Romi sich aufgesetzt hatte. Immer noch verschleierte ein schwummriger Ausdruck ihre Augen, doch immerhin schien sie nicht mehr ganz so benommen zu sein. Wahrscheinlich kehrten langsam ihre Geisteskräfte zurück.

"Dagur?"

Sie runzelte die Stirn, Verwirrung schwang in ihrer Stimme mit. Musste ich erst erwähnen, dass mein Herz beim Klang meines Namens aus ihrem Mund gleichermaßen erschrocken wie glücklich auffuhr, meine Handflächen begannen zu kleben und ein merkwürdiges Kribbeln meine Eingeweide durchzuckte?

"Was machst du hier? Viggo hat erzählt, du bist abgehauen."

Viggo? Bitte was? Also entweder fehlten mir ein paar Informationen (schön, ziemlich viele) oder Romis Gedächtnis hatte einen Aussetzer oder ich hatte mir beim Runterfallen der Treppe den Kopf angeschlagen und delirierte nun. 

"Äh ... ich sag's dir ja nur ungern, aber wir sind nicht im Lager der Drachenjäger."

"Was? Wo sind wir dann?"

Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand gleichzeitig schneidend und verschwommen anhören könnte, aber hier war der Gegenbeweis. Auch ihr Blick hätte einen Nagel in die Wand hämmern können (hoffentlich war nicht ich der Nagel!) und war doch kaum mehr als ein unstetes Flackern. Wie lange das wohl anhielt? 

"Du ... du hast mich aber nicht entführt, um an das Geld meiner Brüder heranzukommen, oder? Wenn ja, warne ich dich. Ich kann sehr gut mit Messern umgehen und du gibst eine hervorragende Zielscheibe ab."

Das klang schon mehr nach der Romi, die ich kannte. Doch dass sie offenbar alle Ereignisse des letzten halben Jahres vergessen hatte, war nicht gut. Es war alles andere als gut, es war zum Durchdrehen, zum Verzweifeln, zum Ausrasten! Was sollte ich nur machen? Wenn doch nur Heidrun hier wäre! 

Halt. Keine Panik. Wenn ich in Panik geriert, dann würde Romi das auch tun.

"Nein, natürlich habe ich dich nicht entführt! Du befindest dich zwar auf der Berserkerinsel und ... äh ... auch in meinem Haus - in meinem Zimmer um genau zu sein -, aber entführt habe ich dich nicht!"

"In deinem Zimmer? Was hast du ... Ich warne dich! Wenn du ..."

"Beruhige dich, du bist freiwillig hierher gekommen. Gut, das letzte Stück habe ich dich tragen müssen, weil du bewusstlos geworden bist, aber ansonsten bist du von ganz alleine gekommen. Auf deinem Drachen, um genau zu sein."

"Meinem Drachen? Bei Thor, jetzt spinnt er wirklich. Ich befinde mich in einem Zimmer mit einem Verrückten!"

"Ich bin nicht verrückt! Du bist eine Drachenreiterin, glaub mir."

"Dir glauben? Denkst du ernsthaft, dass ich noch irgendwem glaube nach dem, was mit Viggo passiert ist? Und dann auch noch di- Moment mal, Viggo? Was ... was war noch mal mit ihm?"

Hilfesuchend glitt ihr Blick durch den Raum und blieb schlussendlich an mir hängen. Verflixt, was sollte ich tun? Wie sollte ich ihr all das erklären?

"Ja, äh, Viggo, also ... äh ... Hey, warte mal, das heißt, du erinnerst dich?"

"Erinnern? Woran soll ich mich erin- sag mal, hast du mich gezeichnet?"

"Ich?"

"Neeiin, ich meine das Hausschwein. Natürlich du!"

Aus irgendeinem Grund verspürte ich das dringende Bedürfnis, ein Loch in den Boden zu hacken, nach unten zu springen und weit, weit weg zu segeln. Nervös trommelten meine Finger gegen die Bettkante.

"Womöglich."

"Womöglich?!"

Ehe ich nur einen Mucks machen konnte, war sie aufgesprungen und presste mich gegen die Holzwand. Nur wenige Zentimeter vor mir schwebte ihr Gesicht, jedes Detail klar erkennbar. Mein Atem ging schnell und flach, mit einem Augenblick arbeiteten alle meine Sinne auf Hochtouren. Als wären wir zwei Magneten, bewegten wir uns langsam aufeinander zu, ich von einer unbenennbaren Kraft angezogen, sie bebend vor Wut. Aus ihren stählernen Augen sprühten Funken, ihre zu einer Linie zusammengepressten Lippen verströmten eine so hinreißend zornige Aura und ihre blassen Wangen schrieen danach, über sie zu streichen. Noch nie war ich ihr so nahe gewesen. Mein Herz raste, meine Knie schienen zu Brei zu zerfließen, eine unsichtbare Hand hielt meine Innereien in eisernem Griff und nichts davon lag daran, dass Romi mir wahrscheinlich jeden Moment einen Kinnhaken verpassen würde. Erbost zischte sie:

"Ich geb dir gleich 'womöglich', du ..."

Ein Quietschen, das mir wie Rettung in letzter Sekunde erschien und das ich doch inbrünstig verfluchte, unterbrach sie. Synchron schnellten unsere Köpfe zur nun sperrangelweit offenen Tür herum.

"Wer von euch hat meine Aufzeichnungen - oh, ähm, störe ich?"

Im Türrahmen stand Heidrun, eine Hand immer noch an die Tür gelehnt und mit einem Gesichtsausdruck als würde sie jeden Moment platzen. Einen Moment lang starrten Romi und ich uns verwirrt an, dann wurde uns unsere sehr missverständliche Position bewusst. Als wäre ich plötzlich mit Juckpulver überzogen - könnte erklären, warum meine gesamte Haut anfing, zu jucken und zu brennen - sprang sie von mir weg, wobei sie über den Hocker, auf dem ich die ganze Zeit über gesessen hatte, stolperte und auf die hölzernen Dielen knallte. Unwillkürlich zuckte ich ebenfalls zusammen. Noch bevor sie überhaupt daran dachte, sich aufzurappeln, stieß sie sichtlich peinlich berührt den abgedroschensten Satz in der Geschichte der abgedroschenen Sätze hervor:

"Es ist nicht, wonach es aussieht!"

"Schade", entgegnete ich.

Alles, was ich realisierte, war eine flüssige Bewegung und ein dumpfer Schmerz in der Gegend meiner Wagenknochen. Dann prallte etwas gegen meinen Hinterkopf - oder prallte mein Hinterkopf gegen etwas? Für einen kurzen Moment verschwamm alles um mich herum zu einer braunen Suppe, ein merkwürdiger Schwindel erfasste mich. Als die Umgebung wieder scharf wurde, bemerkte ich, dass ich am Boden lag. Nicht nur das, ich erblickte auch den Grund für meinen Sturz.

Mit geballten Fäusten und gelösten, wild abstehenden Haaren ragte Romi über mir auf. Und, uh, ihr Gesichtsausdruck hätte selbst Odin höchstpersönlich das Fürchten gelehrt. Noch nie hatte ich sie wütender gesehen, nicht einmal Schnüffler hätte ihr im Bereich Aggressivität das Wasser reichen können, geschweige denn sie übertrumpfen. Eventuell war der Spruch doch nicht die schlauste Reaktion gewesen. Reflexartig zuckte meine Hand zu meiner schmerzhaft pochenden Wange.

„Hast du ... Hast du mich gerade geschlagen?"

„Womöglich."

Im Nu war ich auf den Beinen, eine feurige Welle brauste durch meine Adern.

„Willst du dich über mich lustig machen? Willst du das? Na dann los, kämpf mit mir!"

„Nur zu gerne", fauchte sie angriffslustig, „Na los, mach schon, du Feigling!"

„Feigling? Du nennst mich nicht einen Feigling!"

„Oh doch, das tue ich!"

„Aufhören, alle beide! Ihr seid ja schlimmer als zwei kleine Kinder, habt ihr den Verstand verloren?"

Es hatte schon etwas Beschämendes, von seiner jüngeren Schwester gerügt zu werden. Augenblicklich ebbte die überwältigende Wut ab. Ich lockerte meine Fäuste und atmete durch. Ganz ruhig, Dagur. Ein. Aus. Ein. Aus.

„Habt ihr euch beruhigt?" 

Zerknirscht nickte ich. 

„Romi?"

„Der Idiot hat ..."

„Ich weiß, was er getan hat und die Backpfeife hat er auch verdient. Auch wenn er jetzt ein bisschen bescheuert aussehen wird, wenn wir auf Berk sind."

Autsch. Meine Schwester verbündete sich gegen mich. Das tat weh.

„Berk? Wir sind auf Berk eingeladen?"

Offenbar war Romi nicht sehr begeistert von diesem Gedanken. Kein Wunder, laut dem, was ich gehört hatte, gab Astrid ihr die Schuld an Hicks' Tod, obwohl ich bezweifelte, dass Romi davon wusste. Das würde ein lustiges Wiedersehen werden. Nicht. 

„Ja, sind wir."

„Ich etwa auch?"

So wie es aussah, war ich nun vollkommen überflüssig geworden. 

„Sie haben dich zwar nicht erwähnt, aber du bist unser Gast. Von daher ... ja."

Wenn ich mich ganz, ganz langsam zurückzog ...

„Und der Trottel kommt auch mit?"

Langsam entwickelte sich diese Unterhaltung zu einer echten Qual. Warum konnte sie mich nicht ausstehen, warum? Und warum machte mir das so viel aus?

"Natürlich kommt er mit."

"Super. Wirklich super. Berk und dann auch noch Dagur, das ist ... Na ja, egal. Wann fliegen wir los?"

"Morgen vor Sonnenaufgang, dann riskieren wir keinen Absturz und müssen auch nicht zwischenlanden. Wir sollten uns am besten schlafen legen, nicht dass jemand vom Drachen fällt."

"Woher weißt du, dass Sternenwind abgestürzt ist?", fragte Romi stirnrunzelnd.

"Ich habe die Patrouille getroffen. Sie sahen sehr ... frustriert aus."

Frustriert. Ja, das war ein guter Begriff. Er beschrieb voll und ganz, wie ich mich gerade fühlte.

"Romi, du kannst bei mir im Bett schlafen, ich lege mich dann auf den Boden", schlug Heidrun vor.

"Oder bei mir! Nein? Nur ein Vorschlag, nur ein Vorschlag, bitte tu mir nicht weh!"

Abfällig schnaubte sie und drehte sich um. Heidrun folgte ihr zur Tür heraus.

"Gute Nacht, Romi!", rief ich aufgekratzt.


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