Kapitel 6: Feuer und Eis
Dagur
Kräuter. Da war man das mächtige, gleichermaßen geliebte wie gefürchtete Oberhaupt des stärksten, wildesten und generell tollsten Stammes überhaupt und dann wurde man losgeschickt, um Kräuter zu besorgen wie ein kleines Kind. Möglicherweise wäre das noch einigermaßen erträglich gewesen, doch da eine Verrückte aus angeblicher Rache sämtliche Heiler angegriffen hatte, wurden diese gerade verhört. Und so wanderte ich seit einer guten Stunde ziellos umher, auf der vergeblichen Suche nach jemandem, der mir Weidenrinde, Eisenkraut, Schafgarbe und den ganzen restlichen Kram verkaufen konnte.
Genervt ließ ich meinen Blick über die unzähligen Stände aus buntem Tuch schweifen und blieb an einem gewaltigen - selbst die Bezeichnung Trümmerhaufen wäre noch schmeichelnd gewesen - hängen. Verkohlte Balken, mit Dreck vollgesogene Laken, zersplitterte Möbel. Da hatte jemand aber ganze Arbeit geleistet. Zusammen gab das ein so einheitlich dunkles Bild ab, dass ich die vor dem ehemaligen Unterstand kniende Person beinahe übersehen hätte. Erst als sie anfing, sich zu bewegen, ging mir auf, dass sich unter dem Haufen Stoff ein Mensch verbarg.
Ob das wohl die Verrückte war, die das ganze Chaos verursacht hatte? Skeptisch beobachtete ich sie - zumindest das, was von ihr zu sehen war. Was, abgesehen von ihrem tiefschwarzen Umhang, der so auffallend finster war, dass man ihn gleich wieder übersah, eigentlich nur eine rötliche, wild gelockte Haarsträhne war.
"Entweder sagst du, was du willst, oder du hörst auf, mich anzustarren", sagte eine so dunkel klingende Stimme, dass ich sie zunächst nicht mit der Frau in Verbindung brachte.
Wie konnte sie wissen, dass ich sie beobachtet hatte? Sie hatte sich kein einziges Mal umgedreht! Konnte sie Gedanken lesen oder hatte sie vielleicht Augen im Hinterkopf? Als ich nicht antwortete, drehte sie scharf den Kopf herum.
"Nun?"
Hatte es vorher nichts gegeben, was man hätte betrachten können, so wusste ich nun nicht, wohin ich meinen Blick richten sollte. Unter der tief hängenden Kapuze wallte mir eine Mähne an so krausen Haaren entgegen, dass es mich nicht verwundert hätte, wenn sie in Wahrheit aus Draht bestehen würden. Farblich reichte es nicht ganz an meines heran, eher wie ausgeblichenes Kupfer, dennoch zog es sicher genügend Aufmerksamkeit auf sich. Im Vergleich mit dieser unglaublichen Menge an Haar wirkte ihr Gesicht noch spitzer, noch knapper gehalten. Ein kurzer, wie mit dem Lineal gezogener Strich, umrahmt von dünnen Lippen, prangte unter einer hakenförmigen Nase, zwei fahlgrüne Augen funkelten mich durchdringend an. Doch was wirklich herausstach, war die schreckliche Brandnarbe, die sich längs über ihr ganzes Gesicht zog und dieses verunstaltete. Unwillkürlich fühlte ich mich an einen Falken erinnert, der nur darauf wartete, auf seine Beute hinabzustoßen.
"Bist du fertig?"
"Was?"
"Ob du endlich fertig damit bist, mich anzustarren."
Die war aber von der ganz bissigen Sorte. Doch verrückt? Ne. Und ich musste mich schließlich damit auskennen. Wobei ich jedoch nicht leugnen konnte, dass eine gewisse Aura der Gefahr von ihr ausging. Deswegen tat ich auch genau das, was man normalerweise machen sollte, wenn man der Gefahr begegnete: ich ging auf sie zu.
"Ist das dein Stand?"
Spöttisch schnaubte sie, wobei nicht ganz klar war, ob sie die Vorstellung witzig oder abstoßend fand.
"Wohl kaum."
"Du bist aber gesprächig."
"Es ist eben nicht die Lieblingsbeschäftigung eines jeden, sich selbst reden zu hören, Dagur der Durchgeknallte, Oberhaupt des Stammes der Berserker."
Die letzten Worte wurden von einem verächtlichen Unterton begleitet.
"Hey, ich bin berühmt! Und von welchem Stamm kommst du? Oder ziehst du es vor, weiterhin eine geheimnisvolle Fremde zu bleiben?"
"Ich gehöre keinem Stamm an."
"Und was machst du hier, geheimnisvolle Fremde ohne Heimat?"
Ich hatte absolut keine Ahnung, warum ich weiterfragte, obwohl sie auf ein Gespräch keinen Wert zu legen schien. Wahrscheinlich, weil es interessanter war als Kräuter zu kaufen. Alles war interessanter als Kräuter zu kaufen, ich hätte mit Freuden stattdessen eine Tonne Fische ausgenommen. Da hätte ich wenigstens etwas über Anatomie gelernt. Hihi.
Bevor ich es verhindern konnte, war mir ein leises Kichern entwischt. Genau das Richtige, wenn man nicht für verrückt gehalten werden wollte. Im besten Fall dachte sie noch, ich würde mich über sie lustig machen. Das lief ja wirklich blendend.
"Ich suche jemanden."
"Hey, dann haben wir etwas gemeinsam! Also ich bin auf der Suche nach jemandem, der mir Kräuter verkaufen kann und du?"
"Ich bin auf der Suche nach jemandem, den ich töten werde."
Entsetzt wich ich ein Stück zurück. Das ... war plötzlich. Und überraschend. Und beunruhigend. Doch das Schlimmste war dieser unbeteiligte Ton. Genauso gut hätte sie sagen können: "Ich bin auf der Suche nach jemandem, dem ich einen Besuch abstatten werde." Wahrscheinlich war das für sie sogar das Gleiche. Oh ja, diese Frau war gefährlich. Mehr als nur gefährlich. Und was sollte ich machen? Ich liebte nun einmal die Gefahr!
"Du ... meinst damit aber nicht mich, oder?"
"Wer weiß?"
Okay. Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen. Ich überlegte mir schon, wie ich am besten von dieser beängstigenden Frau abhauen konnte, da fuhr sie fort:
"Aber nein, dich werde ich nicht töten."
Beruhigt atmete ich auf.
"Noch nicht."
Bitte was?
"Zumindest nicht, wenn du nicht vorhast, mir in die Quere zu kommen."
Bei allen Schafsfürzen der Welt, spielte sie gerade mit mir? Ohne allen Zweifel. Sie wollte sehen, wie ich aus dem Konzept geriet und Panik bekam. Das war gleichzeitig erschreckend und faszinierend. Auf eine bedrohliche Art. Die Art, mit der man eine Katze beobachtete, die eine Maus quälte. Nur dass in dem Fall ich die Maus war. Das Dämlichste, was ich hätte machen können, wäre, das Gespräch fortzusetzen. Deswegen tat ich genau das.
"Und ... ähm ... wen willst du ... ?"
"Streng deinen Verstand an. Falls du so etwas besitzt."
Ganz schön sarkastisch, die Dame. Aber gut, das musste nicht unbedingt etwas Negatives sein. Eine Menge Leute besaßen einen sarkastischen Humor, mich eingeschlossen. Und Hicks' Sarkasmus hatte ich immer gemocht, selbst als wir noch Feinde gewesen waren. Und nun war mein Hicks-Bruder tot, umgebracht von diesem verfluchten ...
"So ein kleiner Scherz macht dich schon so wütend?", fragte die Frau mit hochgezogener Augenbraue.
"Ich bin nicht wütend! Also, nicht deswegen. Also, ... Ach, vergiss es."
Ich befand mich wirklich auf dem besten Weg, die Geschichten über mich zu bestärken. Sicher hielt sie mich schon für komplett durchgeknallt.
"Da du diesen Stand hier untersucht hast, nehme ich mal an, dass es die Person ist, der das hier gehört. Aber da ist dir wohl jemand zuvorgekommen. Hihi. Hihihi! Oder vielleicht jemand, der hier eingekauft hat. Auch möglich. Oder jemand, der das hier angerichtet hat. Oder jemand, der ..."
"Würde es dir etwas ausmachen, nicht die ganze Zeit zu reden?"
"Natürlich! Äh, natürlich nicht, wollte ich sagen. Natürlich. Ach, auch egal. Was die Kräuter angeht, weißt du, wo ich welche bekomme?"
"Wie kommst du darauf, dass ich es wüsste?"
"Ähhh ..."
Irgendwie fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wie ein kleiner hilfloser Junge. Was wahrscheinlich daran lag, dass sie gute zehn Jahre älter war als ich.
"Nun, Kräuter besitze ich. Wenn auch nicht die Art, die du brauchst."
"Wie kommst du drauf?"
"Weil diese hier eine ziemlich verheerende Wirkung haben können."
Sicher stand mir das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sie besaß Gift? Hatte sie mich vergiftet? Nein, schließlich hatte sie mir weder etwas zu Essen, noch zu Trinken angeboten und mich mit irgendwelchen Pulvern bestreut hatte sie auch nicht. Trotzdem, diese Frau war wirklich alles Andere als harmlos. Und was das Schlimmste war: es war mir egal. Nein, mehr als das. Gerade weil sie so unnahbar und gefährlich schien, redete ich weiter, wollte ich mehr über sie erfahre, konnte ich einfach nicht davongehen, begab mich immer näher an ihr Spinnennetz heran.
Die Frage war nur, wie lange ich so weitermachen konnte, ohne zu ihrer Beute zu werden. Ich glich einem kleinen Kind, das austestete, wie nahe es einer Flamme kommen konnte, bis es sich verbrannte. Mit dem kleinen Unterschied, dass die geheimnisvolle Fremde keine wärmende Flamme war, sondern klirrend kaltes Eis.
"Und ... ähm ... wozu brauchst du die Kräuter?"
Schwach kräuselten sich ihre Lippen zu etwas, von dem mir erst nach ein paar Sekunden aufging, dass es ein Lächeln darstellen sollte. Wenn auch ein gleichermaßen spärliches wie spöttisches.
"Glaubst du ernsthaft, ich würde dir das verraten?"
War die Frage ernst gemeint? Und vor allem: glaubte ich das? Mein fragender Gesichtsausdruck amüsierte sie offenbar, denn ihr einer Mundwinkel bewegte sich ein paar Millimeter nach oben. Offenbar hatte ich mich getäuscht, sie war doch zu so etwas wie einem Lächeln fähig. Wenn man das hier ein Lächeln nennen wollte.
"Du bist wirklich niedlich, aber langsam gehst du mir auf die Nerven."
"Niedlich? Niedlich? ICH BIN NICHT NIEDLICH!"
Ein weiteres trockenes Schnauben entwich ihr.
"Sieht so aus als stimmt dein Ruf voll und ganz zu."
"Was? Ich bin nicht verrückt!"
"Wir alle sind verrückt. Manche mehr, manche weniger."
"Und zu welcher Sorte gehörst du?"
Durchdringend starrte sie mich an, ein furchteinflößendes Funkeln glitzerte in ihren Augen. Mehr denn je glich sie einem Raubvogel, der in vollem Sturzflug auf seine Beute hinabstieß. Urplötzlich liefen mir kalte Schauer über den Rücken.
"Neugier kann gefährlich sein, Dagur der Durchgeknallte. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann Leute, die meinen, mir unverschämte Fragen stellen zu dürfen. An deiner Stelle wäre ich jetzt sehr vorsichtig, meine Geduld mit dir neigt sich langsam dem Ende zu."
Sie hatte nicht laut gesprochen, fast beiläufig sogar und doch schwebte eine unverhohlene Drohung in der Luft, die mir mehr Angst machte als alles, was ich bisher erlebt hatte. Diese Frau war gnadenlos und brandgefährlich. Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte sich ihre Stimmung komplett gewandelt. Das war kein gutes Zeichen, das war alles Andere als ein gutes Zeichen. So war ich in meinen schlimmsten Zeiten gewesen und doch bezweifelte ich, dass ich jemals so furchterregend gewirkt hatte wie sie. Sämtliche Alarmglocken gellten in meinem Kopf, laut und unüberhörbar. Ich musste hier weg, bevor die Frau wer-weiß-was mit mir anstellte.
"Tut mir wirklich leid, aber ... äh ... meine Schwester wartet darauf, dass ich die Kräuter bringe und wenn ich nicht bald komme, wird sie wütend sein. Sehr, sehr wütend. Du weißt schon, Berserker."
"Dafür, dass du ebenfalls einer bist, bist du ein ziemlicher Feigling. Nun, besser für dich", antwortete sie so ungerührt als sei nichts geschehen.
"Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder."
"Hoffentlich nicht. Ich bin niemand, dem man mehr als einmal begegnen sollte."
"Also ich habe unsere Unterhaltung ziemlich genossen. Ich meine, man trifft nicht alle Tage eine eiskalte, sarkastische Killerlady."
"Ich weiß nicht, ob ich geschmeichelt sein oder dich für deine Unverschämtheiten umbringen soll. Geh lieber, bevor ich Letzteres tue."
Warum fiel mir das so schwer? Sie machte sich ohne Pause über mich lustig, war mindestens so gefährlich wie eine Taifumerangmutter, der man die Jungen weggenommen hatte und ein Riesenhafter Alptraum in der Paarungszeit zusammen und trotzdem kam es mir fast unmöglich vor, jetzt davonzugehen. Aber sie hatte mich unmissverständlich dazu aufgefordert und außerdem hatte ich vorhin nicht gelogen, Heidrun wartete sicher schon auf mich.
"Also dann, geheimnisvolle Fremde."
"Also dann, Dagur der Durchgeknallte."
In diesem Moment fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal ihren Namen wusste.
"Halt, warte! Ich, ich weiß noch gar nicht, wie du heißt!"
"Mein Name ist Liska. Liska Thyraia."
"Schön, dich kennengelernt zu haben, Liska Thyraia."
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen drehte ich mich um. Im Gehen warf ich einen letzten Blick über meine Schulter. Die Frau - Liska - hatte sich wieder abgewandt und untersuchte von Neuem den Stand. Einen Moment lang blieb ich stehen, beobachtete die Frau, von der ich abermals nur ihren finsteren Umhang und eine kupferne Haarsträhne erkennen konnte. Dann schüttelte ich den Kopf und ging endgültig weg.
-°-°-°-°-°-
Zehn Minuten später erhaschte ich einen Blick auf Heidrun wie sie - über den Marktplatz sprintete? Was hatte meine Schwester nur wieder angestellt? Kaum ließ man sie ein Stündchen alleine, war sie entweder in ein wildes Gefecht verwickelt oder musste Hals über Kopf fliehen. Kleine Schwestern, ehrlich! Ihr dicht auf den Fersen war eine Landstreicherin, die so aussah, als hätte sie schon mal bessere Zeiten erlebt. Würde es einen Preis für das verwahrlosteste, lädierteste, verwildertste Mädchen des Inselreiches geben, wäre sie einwandfrei die Gewinnerin, da half auch das leuchtend rote Halstuch nicht.
So verdutzt war ich von der plötzlichen Erscheinung meiner Schwester und der jungen Frau, dass ich wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Erst als sie schon an mir vorbeigerannt waren - natürlich ohne mich zu bemerken - kehrte Leben in mich zurück.
"He, Heidrun, warte auf mich!", brüllte ich ihr hinterher.
Vergebens. Sie hielt weder an, noch drehte sie sich um. Stattdessen raste sie mitsamt ihrer Begleiterin in unvermindertem Tempo weiter als wären sämtliche Feuer- und Eisriesen hinter ihr her. Also rannte ich ihr und dem abgerissenen Mädchen hinterher. Ernsthaft, wovor flüchtete sie? Sie war immerhin eine der besten, gefürchtetsten Kriegerinnen überhaupt, kaum jemand konnte ihr das Wasser reichen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das konnte. Nun gut, das andere Mädchen sah nicht so aus als könnte sie in einem Duell gegen jemanden gewinnen.
Als ich über meine Schulter blickte, entdeckte ich auch den Grund für ihren Wettlauf, der mitten durch die Stände der empörten Händler führte. Drei Drachenjäger hasteten ihnen - und nun auch mir - hinterher. Augenblicklich blieb ich stehen, ließ meine Axt in der Hand herumwirbeln und warf mich ins Getümmel.
Hieb! Drehung! Noch ein Hieb! Tritt, Ducken und Schlag! Im Handumdrehen lagen die drei Angreifer stöhnend am Boden.
"Das habt ihr davon! Niemand greift meine Schwester an, sonst bekommt er es mit mir zu tun, mit Dagur dem unbesiegbaren, grandiosen Durchgeknallten!"
Energie pulsierte durch meine Adern und erfüllte jede Faser von mir, der kleine Kampf hatte mich richtig belebt. Das hatte gut getan! Also, für mich, die Drachenjäger sahen das sicher anders. Dummerweise hatte ich Heidrun verloren. Hm. Aber wahrscheinlich befand sie sich schon an unserem Treffpunkt, einer kleinen abgelegenen Bucht, in der Schnüffler und Windfang sich versteckt hielten.
Ganz ideal war sie nicht gewesen, da dort ein Boot angebunden gewesen war und somit nicht gänzlich unbekannt. Aber dieses sah so verfallen aus, dass es wahrscheinlich schon seit Monaten oder sogar Jahren dort lag und selbst wenn wenn jemand sie entdeckte, Schnüffler und Windfang würden ihm schon zeigen, was ein Berserker war. Oder ein Drache in dem Fall.
Besagte Bucht erreichte ich gemütlich schlendernd ohne weitere Zwischenfälle. Und tatsächlich: Heidrun und das heruntergekommene Mädchen standen neben dem ebenso heruntergekommenen Ruderboot und unterhielten sich lebhaft.
"... dir keinen Kopf, ich kann voll und ganz verstehen, warum du alleine sein wolltest."
"Ich weiß auch nicht, warum ich nicht zu euch gekommen bin. Ich schätze mal, ich wollte einfach weg ... von allem."
"Du musst dich nicht rechtfertigen, wenn jemand weiß, wie du dich gefühlt hast, dann ich. Mir ging es damals genauso, als ich das mit Dagur herausgefunden habe. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich bin für dich da. Auch, wenn du Zeit alleine brauchst."
"Danke, Heidrun. Wirklich, ich weiß das sehr zu schätzen."
Irgendwoher kam mir die Stimme bekannt vor. War ich ihr vielleicht schon mal begegnet? Aber nein, mein Gedächtnis sagte mir ganz klar, dass ich niemanden kannte, der so schäbig aussah. Von dem Verbannten mal abgesehen. Die waren die Krone der Schäbigkeit. Allerdings schien mir dieses Mädchen recht jung für eine Verbannte. Erst als sie sich umdrehte, ging mir ein Licht auf. Das war Romi!
Was war denn mit ihr passiert? Gut, sich vier Monate lang völlig alleine durchschlagen zu müssen, tat sicher niemandem gut, aber dennoch ... Von dem fröhlichen, unbeschwerten Mädchen, das ich im Lager der Drachenjäger kennengelernt hatte, war nicht mehr viel übrig. Andererseits war uns allen die Unbeschwertheit verloren gegangen als Hicks gestorben war. Und wenn man bedachte, dass auch noch ihr Bruder schuld daran gewesen war ... Wahrscheinlich benötigte sie dringend eine Aufmunterung. Und etwas Wärme, nach all der Einsamkeit.
"Romi! Hey, endlich sehen wir uns wieder! Ich meine, das letzte Mal war bei den Verhandlungen mit den Jägern. Mann, ist das lange her! Weißt du noch, wie wir zusammen gekämpft haben? Ich meine, sicher weißt du das noch, so lange ist das auch nicht her. Die kann aber fliegen, hab ich mir gedacht. Und kämpfen. Du könntest glatt eine Berserkerin sein! Da fällt mir ein, magst du auf unsere Insel kommen? Steht jedem offen. Aber selbst wenn es nicht so wäre, du könntest auf jeden Fall zu uns."
"Hallo Dagur."
Begeistert schien sie nicht. Lag wahrscheinlich daran, dass ich nur dummes Zeug redete. So wie immer, wenn sie in der Nähe war. Dabei wollte ich sie lediglich glücklich machen, diese unaushaltbare Traurigkeit aus ihrem Gesicht verschwinden lassen. Selten hatte mich der Anblick eines Menschen so sehr mitgenommen wie ihrer: verwahrlost und struppig und, schlimmer noch, abgekämpft und resigniert. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, doch das würde sie wohl nicht zulassen.
"Was dein Angebot angeht: Ich würde gerne mit euch kommen, aber Sternenwind wird von Jägern verfolgt und ohne sie gehe ich nirgendwo hin."
Sie sprach genauso wie vor einem Jahr; leise und zurückhaltend, aber dennoch unüberhörbar. Jedenfalls in meinem Ohren.
"Na dann suchen wir sie! Ich kenne mich hier ziemlich gut aus, hab einige Zeit hier verbracht als ich für tot gehalten wurde und du bist sicher auch nicht seit gestern hier, nicht wahr? Komm schon, etwas Gesellschaft ist immer gut."
Meinen auffordernden Stupser mit dem Ellenbogen quittierte sie mit einem warnenden Räuspern. Sofort schmolz ich in mich zusammen.
"War nur ein Vorschlag! Du musst nicht mit uns gehen, ich wollte nur sagen, dass ich dir gerne helfe."
"Gehen wir."
"Ähm, ja klar, super! Willst du mit mir fliegen?"
Ihr Blick hätte ein ausgewachsenes Wildschwein im Angriffsmodus dazu gebracht, eine sofortige Kehrtwende hinzulegen und quiekend davonzurennen. Gut, dass ich kein Wildschwein war. Schön, vielleicht quiekte ich auch ein bisschen - aber immerhin rannte ich nicht davon!
"Ich fliege mit Heidrun."
Obwohl ich das erwartet hatte, versetzte es mir doch einen leichten Stich in der Magengegend. Heidruns Gesichtsausdruck nach benahm ich mich schon wieder wie der größte Volltrottel. Dabei wollte ich einfach nur nett zu Romi sein, ihr helfen, sie aufmuntern und unterstützen! Meine Schwester hatte das Spiel wahrscheinlich schon längst durchschaut, denn neben der eindeutigen Aufforderung "Lass gut sein", lag in ihrem Blick noch etwas, das ich nicht eindeutig definieren konnte - war es etwa Mitleid?
-°-°-°-°-°-
Ich entdeckten Sternenwind schlussendlich bei Helgas Kliff, wo sie einen der Drachenjäger am Boden festgefroren hatte, den Rest des Trupps in einem schwelenden Feuerring gefangen hielt und sie interessiert mit der Spitze ihres einen Flügels anstupste. Als sie uns entdeckte, richtete sie sich zu voller Größe auf, sodass die Drachenjäger hinter ihrem Rücken verschwanden und setzte einen unbeteiligten Gesichtsausdruck auf, einen von der Art "Ich war's nicht!"
"Siehst du, wir haben sie gefunden! Du musst dir keine Sorgen machen. Dagur ist da und hilft aus."
Auf mein übermütiges Grinsen reagierte Heidrun mit Kopfschütteln und Romi mit einem flüchtigen Zucken der Mundwinkel. Kaum hatte sich Windfang über der bunt zusammengewürfelten Gruppe positioniert, machte sie auch schon einen gewaltigen Satz hinab, umschlang ihre drachige Freundin mit den Armen und flüsterte ihr einige, von hier oben unverständliche Worte zu. Anschließend schwang sie sich auf ihren Rücken - ziemliches Kunststück bei so einem großen Wesen, aber wer so sportlich war wie sie, schaffte das sicher locker.
"Dann fliegen wir jetzt zu euch?"
Ich nickte begeistert, doch Heidrun hatte noch einen Einwand.
"Was ist mit den Kräutern?"
"Kräuter? Was für Kräuter?", fragte Romi verwirrt.
"Die Leute von Berk haben Probleme mit einem Todsinger, er hat ihre gesamten Vorräte zerstört. Sie brauchen dringend Heilkräuter und haben uns gebeten, welche zu besorgen."
Bei der Erwähnung von Berk schnaubte Romi abfällig. Dann zwirbelte sie die Spitzen ihrer Zöpfe, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, biss sich auf die Unterlippe. Schlussendlich nuschelte sie, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet:
"Ich habe noch einen Vorrat an Heilkräutern."
"Oh Romi, das ist wundervoll!", jubelte Heidrun, "Wenn du mir sagst, wo sie sind, kann ich sie holen und schnell nach Berk fliegen."
"Warum du und nicht Dagur? Dreifachstachel sind schneller als Klingenpeitschlinge."
Ganz offensichtlich wollte sie mich loswerden.
"Stimmt voll und ganz, meine liebste Drachenjäger-Reiterin."
Wütend funkelte sie mich an, wobei ich nicht sagen konnte, ob aufgrund von "liebste" oder "Drachenjäger".
"Aber Schnüfflerchen hat sich vor einigen Tagen den Flügel gezerrt und ist deswegen ziemlich langsam unterwegs. Und dich begleite ich immer gerne."
"Von mir aus. Also Heidrun, meine Kiste ist zwar verloren gegangen, aber ich habe noch einen Rest vergraben und zwar..."
Während der folgenden langatmigen Beschreibung betrachtete ich, wie die Strähnen, die sich aus Romis Zöpfen gelöst hatten, im Wind tanzten. Verspielt, beinahe neckend strichen sie immer wieder über ihr ausgezehrtes Gesicht, die hohlen Wangen, die Ringe unter den Augen. Ihre Kleider starrten vor Dreck, hingen schlaff an ihren abgemagerten Gliedern herab, Schrammen überzogen ihr Gesicht und ihre Arme, ihre Zöpfe erinnerten mehr an schlammiges Stroh als an menschliches Haar und doch sprach aus jeder ihrer Bewegungen die gleiche Anmut wie früher, glänzte in ihren Augen immer noch der gleiche lebenslustige Funken, als sie Heidrun umarmte.
"Dann bis später, wir treffen uns zu Hause!"
"Bis dann Heidrun, und danke nochmal!"
"Tschüssi, Schwesterherz!"
Pfeilschnell sauste sie davon - in die falsche Richtung? Nein, das war Romi, scheinbar fest entschlossen, mich abblitzen zu lassen. Drei Stunden würde der Flug dauern, drei Stunden nur mit Romi. Das war nicht viel verglichen mit den vier Monaten, doch vielleicht würden diese drei Stunden ausreichen, um wenigstens einen kleinen Teil ihres Schmerzes zu lindern. Denn ganz bestimmt würde ich sie nicht hängen lassen.
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