Kapitel 5: Vogelfrei

Romi

Kälte. Alles war Kälte. Wie ein lebendiges Wesen umschlang sie mich, kroch meine Glieder hoch, drang in mich hinein. Alles war Kälte, eine übermächtige, lähmende Kälte, die mich ganz allmählich zu einer reglosen Statue gefror. Immer tiefer versank ich in dem eisigen Nebel, immer mehr sickerte die warme Lebenskraft aus mir heraus, immer weiter senkte sich ein trüber Schleier über meine Gedanken. Und ganz allmählich wurde mein Atem langsamer.

Etwas stupste mich in die Seite und befreite mich aus diesem unwirklichen Dämmerzustand. Halbherzig schlug ich die Augen auf und änderte meine Haltung von liegend zu sitzend. Probeweise bewegte ich meine Finger. Jeder Millimeter ging mit stechenden Schmerzen und großer Überwindung Hand in Hand. Steif waren sie, viel zu steif! 

Am ganzen Leib zitternd umklammerte ich meine angewinkelten Beine. An meinen Rücken schmiegte sich Sternenwinds warmes Fell, beruhigend hob und senkte sich ihr Brustkorb. Ich kuschelte mich noch enger an sie, teils weil ich ihr dafür danken wollte, dass sie über mich wachte und vor der Unterkühlung bewahrt hatte, obwohl sie um diese Zeit normalerweise tief und fest schlief, teils weil sie eine herrliche Wärme ausstrahlte.

Mit einem kurzen Triller warnte sie mich, dann spie sie einen kleinen Schwall ihres goldenen Feuers. Selbst dessen unglaubliche Hitze reichte nicht aus, um die Kälte zu vertreiben, doch immerhin hörte ich auf, zu zittern. Liebevoll legte Sternenwind einen ihrer Flügel über mich, was einen viel besseren Schutz vor der eisigen Luft bot als meine dünnen, zerschlissenen Kleider und die fadenscheinige Decke. In dieser Haltung döste ich ein und verbrachte den Rest der Nacht in unruhigem Halbschlaf.

Kurz vor Sonnenaufgang wurde ich abermals von Sternenwind geweckt. Über mir spannte sich der graublaue Himmel, erkennbar durch ein Loch von der Größe eines Wildschweins, das in der Decke der baufälligen Hütte, in der wir Unterschlupf gesucht hatten, klaffte. Schwerfällig rappelte ich mich auf, angespornt von Sternenwinds ungeduldigem Pfeifen und schüttelte meine Glieder, um die Kälte aus ihnen zu vertreiben. Es war Zeit für unseren alltäglichen Morgenritt.

Zehn Minuten später jagten wir hoch über den Wolken dahin und beobachteten, wie die aufgehende Sonne den Himmel in allen möglichen Schattierungen zwischen zartrosa und grellorange anstrich. Pfeilschnell vollführten wir tollkühne Drehungen, wirbelten in die Höhe und ließen uns wieder fallen, mit dem Wind um die Wette jauchzend. Das war die beste Zeit des Tages, einfach fliegen. Vergessen all die Sorgen, verstummt mein knurrender Magen und trotz der viel kälteren Luft hier oben fror ich nicht mehr. Alles, was noch zählte, war das Gefühl der Freiheit und die Nähe zu Sternenwind. So sollte es immer sein, ich hätte ewig so weiterfliegen können. Doch leider war das nicht möglich.

Viel zu schnell verlor der Himmel seinen rosafarbenen Schimmer und die Sonne erhob sich über die Wolken. Viel zu schnell vergingen die kostbaren Minuten, die ich noch hier oben verbringen konnte, in denen nur Sternenwind und ich noch existierten. Denn man konnte nicht ewig in Träumen und Illusionen fliegen, irgendwann musste man auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Der Mensch musste essen und dazu benötigte man eben Geld. Daran hatte ich nicht gedacht, als ich mit Sternenwind von der Drachenklippe abgehauen war. Damals hatte ich angenommen, dass ich einfach frei sein konnte, ohne mir über irgendetwas Gedanken machen zu müssen. Doch dem war nicht so. Es war schwer, sich alleine durchzuschlagen, wenn man nichts und niemanden kannte, bis vor wenigen Monaten noch nicht einmal seine Insel verlassen hatte. So unendlich schwer.

Die Kälte war nur ein Problem, wenn auch eins, das mir heute Nacht beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Genauso gefährlich waren der Hunger und die Einsamkeit. Ich hatte gedacht, alleine zurechtkommen zu können, doch ich vermisste die Gesellschaft von anderen Leuten, ganz egal wer. Und damit meinte ich nicht die anderen Händler und Heiler, die in mir nichts als Konkurrenz sahen und alles Menschenmögliche versuchten, mich zu vertreiben. Nicht mal vor Diebstahl meiner Arzneien und Einkünfte hatten sie zurückgeschreckt. Warum sollten sie auch? Ich war nur eine junge Frau ohne irgendwelche Verbündete an meiner Seite. Ja, ich war frei, aber nicht so, wie ich es mir erträumt hatte. Ich war vogelfrei, Freiwild für alle, die jemanden suchten, auf dem sie bedenkenlos herumtrampeln konnten.

Ich sah sogar aus wie eine Streunerin, so viel konnte ich in der Spiegelung des glatten Meeres unter mir erkennen. Meine warme, schön bestickte Tunika hatte ich verkaufen müssen, um nicht von zufällig vorbeikommenden Jägern als Romi Grimborn erkannt zu werden. Lediglich den Saum hatte ich zuvor abgetrennt und mir daraus ein Halstuch genäht, um wenigstens nicht völlig abgerissen zu wirken. Stattdessen trug ich nun ein fadenscheiniges graues Hemd, darüber eine abgewetzte Fellweste, die ich hatte erfeilschen können. Auch meine Hosen hatten schon bessere Zeiten gesehen, mehrmals schon hatte ich sie flicken müssen. Das Einzige, was an mir noch genauso aussah wie früher, war mein breiter Gürtel mit dem Dämmerungssymbol auf der Schnalle. Ihn würde ich nicht mal verkaufen, wenn mein Leben davon abhinge. Meine Haare konnte ich nicht erkennen, dazu flogen wir zu schnell, doch als ich vorsichtig über sie strich, fühlte ich, wie sie widerspenstig in alle Richtungen abstanden.

Wahrscheinlich hätte mich nicht mal Viggo erkannt, würde er an mir vorbeilaufen. Nein, ich war nicht mehr die behütete Schwester der gefürchtetsten Drachenjäger im gesamten Inselreich. Mein altes Leben war vorbei, spätestens seit dem Tag, an dem Viggo mich in diese verfluchte Kammer gelockt und die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, an dem ich sein wahres Wesen gesehen hatte. Ich war nicht mehr Romi Grimborn. Die Frage war nur, wer war ich dann?

Für die Welt war ich ein Niemand.

Für meine Brüder war ich eine Verräterin.

Für die Drachenreiter ein Feigling, der sie im Stich gelassen hatte.

Für Sternenwind ihre Freundin.

Für mich war ich ich selbst.


Und das reichte mir.


-°-°-°-°-°-


Elegant setzte Sternenwind auf dem verschneiten Boden auf. Die Insel, auf der sich unsere Hütte befand, lag ein wenig abseits der nördlichen Marktinseln. Wir hatten sie vor drei Monaten entdeckt, gleich nach unserer Flucht von der Drachenklippe, und uns sofort dort niedergelassen. Problematisch war es nur gewesen, ein Dach über dem Kopf zu finden. Zwar gab es ein paar über die Insel verstreute Häuser, doch diese hatten sich als völlig verfallen erwiesen. Manchmal strich ich um sie herum, doch schon das Betreten von ihnen konnte lebensgefährlich sein, geschweige denn eine Übernachtung darin. Mal abgesehen davon, dass Sternenwind es nicht ertragen hätte, vom Himmel abgeschnitten zu sein. Insofern war das Loch in unserem Dach gar nicht mal so schlecht, auch wenn es dadurch mehr als nur einmal hineingeregnet hatte und ich vor ein paar Tagen mit einer Mütze aus Schnee aufgewacht war. 

Mit einem schwermütigen Lächeln strich ich Sternenwind über den Hals und drückte meine Stirn an ihre, so wie jeden Morgen. Denn für den Rest des Tages würden wir uns nicht sehen. Ich musste meine Künste als Heilerin auf den Marktinseln anbieten, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen und mitzukommen wäre zu gefährlich für sie gewesen. Daher verbrachte sie den Tag mit Jagen, während ich hinter meinem Stand hocken und auf Patienten warten würde.

Doch davor musste ich noch meine Arzneien holen. Seitdem sie auf wundersame Weise verschwunden und bei einem anderen Heiler wieder aufgetaucht waren - ich hatte mir neue kaufen müssen, was den letzten Rest meiner kläglichen Ersparnisse aufgezehrt hatte - bewahrte ich sie in unserer Hütte auf, versteckt hinter einem geborstenen Balken.

Auf dem Weg durch den Wald kam ich an den verfallenen Häusern vorbei. Geborstene und verrostete Käfige umgaben sie wie eiserne Pilze. Ein anderes Imperium von Drachenjägern, verschwunden und vergessen. Eines Tages würde auch niemand von den Grimborns mehr wissen. Eines Tages würde auch das Lager meiner Brüder so aussehen. Eines Tages würden wir alle höchstens eine blasse Erinnerung sein.

Ich beschleunigte meinen Schritt. Daran mochte ich nicht denken, nicht jetzt und nicht in aller Ewigkeit. Da die Ruinen der Häuser jedes Mal diese Wirkung auf mich hatten, vermied ich es für gewöhnlich, an ihnen vorbeizugehen. Doch heute war ich schon spät dran. Wenn ich mich nicht beeilte, nahm ein anderer Händler meinen Platz ein. 

Nach einem kurzen Zwischenstopp an unserer Hütte - ich konnte sie einfach nicht als ein Zuhause ansehen - erreichte ich die schmale Bucht, in der mein Boot angebunden an einen zur Hälfte vermoderten Baumstumpf auf den Wellen auf und ab tanzte. Ich hatte es im Tausch gegen mein Kettenhemd bekommen. Zuerst hatte ich mich gewundert, warum der Verkäufer es mir für so einen geringen Preis gegeben hatte, doch diese Nussschale - selbst der Begriff Ruderbötchen wäre zu hoch gewesen - befand sich in alles andere als einem guten Zustand. Doch für die Überfahrt zu der Hauptinsel reichte es aus.

Gleichmäßig zerrte ich an den glitschigen Riemen. In den ersten Wochen hatten sich vom Rudern schnell Blasen an meinen Händen gebildet, doch mittlerweile rief selbst  das Schaukeln der Wellen nicht mehr so eine starke Übelkeit hervor. Normalerweise. Jetzt allerdings rebellierte mein Magen mehr als nur heftig.

Die glatte See von heute morgen hatte sich in eine zerklüftete, Gischt speiende Berglandschaft verwandelt. Graugrün türmten sich die Wellen auf, ich hatte alle Mühe, mein Boot auf Kurs zu halten. Jetzt im Winter schlug das Wetter schnell um, die Schönheit des Sonnenaufgangs hätte mir eine Warnung sein sollen. Doch nun war es zu spät. Ich konnte lediglich noch versuchen, das rettende Ufer zu erreichen. Immer wieder brachen Wellen über das hin und her geworfene Bötchen hinein und durchnässten mich bis auf die Knochen. Ängstlich prüfte ich alle paar Sekunden nach, ob  die Kiste mit den Arzneimitteln noch straff genug festgezurrt war.

Fünfzehn nervenaufreibende Minuten später lief ich auf festen Grund auf. Endlich, Land! Triefend vor Wasser nahm ich meine Kiste und machte mich auf den Weg zum Ufer. Kaum hatte ich den schmalen Kiesstrand erreicht, begann ich zu zittern, noch schlimmer als heute morgen. Nach nur fünf Metern blieb ich stehen. Wasser tropfte aus meinen Haaren, meine Kleider hatten sich so sehr vollgesogen, dass sie fast doppelt so viel wie vorher wogen. So hatte das keinen Zweck.

Im Schutz einer mächtigen Tanne blieb ich stehen. Schlotternd wrang ich meine Haare aus, am Boden bildete sich eine kleine Pfütze, die sich in die Schneedecke hineinfraß. Anschließend versuchte ich, eine winzige Keramikphiole von meinem Gürtel loszubinden, was durch meine steifen, vor Kälte bebenden Finger heftig erschwert wurde. Ein ums andere Mal rutschte ich von dem mit einem hellblauen Farbklecks gekennzeichneten Stöpsel ab, bis ... 

Geschafft! Ein goldener Nebel strahlte mir entgegen, augenblicklich verschwand das klamme Gefühl aus meinen Fingerspitzen. Doch das schimmernde Feuer war heiß, viel zu heiß. Wenn ich es in die Nähe meiner Klamotten bringen würde, um sie zu trocknen, würden sie eher sofort in Flammen aufgehen. Ich musste es abkühlen und ich wusste auch schon, womit.

Vorsichtig gab ich einen Tropfen - sofern man bei dieser nebelartigen Substanz von Tropfen reden konnte - des silbern schillernden Eisnebels von Sternenwind in das Gefäß, gefolgt von einem zweiten. Nein, immer noch zu heiß. Behutsam tippte ich erneut gegen die Phiole, zwei weitere Tropfen landeten in dem nun deutlich abgekühlten Gemisch. Nachdem ich das Röhrchen mit dem silbernen Feuer - oder eher Eis - fest zugestöpselt hatte, schwenkte ich das andere sachte im Kreis. Ebenso behutsam verteilte ich es auf meiner Kleidung und meinen Haaren.

Eine wohlige Wärme breitete sich ausgehend  von diesen Stellen aus, in Sekundenschnelle trocknete der Stoff und das Wasser in meinen Haaren verdunstete. Schon viel besser. Zwar wirkte ich wahrscheinlich immer noch wie eine Vogelscheuche, aber daran konnte ich nichts ändern. 

Nach einem kurzen Fußmarsch gelangte ich auf den Marktplatz. Hastig blickte ich in alle Richtungen. Es war zwar mehr als unwahrscheinlich, doch möglicherweise stattete einer meiner Brüder der Insel einen kleinen Besuch ab. Doch so früh am Morgen befand sich kaum jemand hier, von den üblichen Händlern, die hinter ihren Ständen auf Kunden lauerten, mal abgesehen. Mein Stand befand sich ein wenig abseits, für einen Neuzugang wie mich war es schwer, sich durchzusetzen. Vor allem, wenn man in seinem Bereich ziemlich gut war und viele Kunden zu einem kamen, dann riskierte man nämlich, den Zorn der anderen Händler (oder in meinem Fall Heiler) auf sich zu ziehen. Auf mich hatten sie es besonders abgesehen, ich konnte von Glück reden, dass noch niemand ...

Was zum tanzenden Schrecklichen Schrecken ... ? 

Nein. Nein! Das durfte doch nicht wahr sein! Wie konnten sie es wagen? Diese verdammten Mistkerle!

Der Unterstand, den ich mir so mühsam zusammengebaut hatte, war ein einziger Trümmerhaufen. Holzsplitter lagen verstreut auf dem Boden, zwischen ihnen verteilten sich Scherben meiner Wassergefäße, Schlamm tränkte die zerrissenen Stoffbahnen, die das Dach geformt hatten. Die Kohlen für die Feuerstelle hatte jemand zu pechschwarzem Staub zertreten und es stank nach Urin. Nichts war ganz geblieben, selbst die metallenen Schalen, in denen ich meine Pasten anrührte, fand ich verbogen wieder. Und auf dem Boden prangten, mit leuchtend orangener Farbe hingepinselt, die Worte: "Verschwinde, du Miststück".

Ein merkwürdiges Summen erfüllte meine Ohren. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten sie es wagen? Und was hatten sie sich dabei gedacht? Dass ich eingeschüchtert von hier abhauen würde? Oh, das konnten sie vergessen. Nicht mit mir! Ich hatte schon genug durchgemacht, um mich jetzt von einer Bande an streitlustigen Händlern vertreiben zu lassen.

"Wer war das?", schrie ich unbeherrscht in den nun verstummten Platz, "Wer von euch war das? Hä?"

Von Zorn übermannt stampfte ich auf einen der Stände zu.

"Warst du das?", brüllte ich den verschreckt zurückweichenden Händler an. 

"Oder etwa du?" Scharf drehte ich den Kopf und durchbohrte seinen Nachbarn mit meinem Blick, meine Zöpfe peitschten durch die Luft.

"Und was ist mit dir, na? Keine Antwort? Tja, das hätte ich von euch verlogenen Feiglingen ja auch nicht erwartet! Habt euch sicher richtig mutig gefühlt gestern Nacht, nicht wahr? Nicht wahr?!"

Meine Stimme überschlug sich und ich schnappte nach Luft. Für alle Außenstehenden wirkte ich wahrscheinlich wie eine Furie, tobend und kreischend, mit zornfunkelnden Augen und geballten Fäusten. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie einer der Händler förmlich hinter seinem Tresen abzutauchen schien. Drohend baute ich mich vor ihm auf.

"Du verkaufst Farbe, stimmt's?"

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.

"Antworte mir!"

Er nickte.

Blitzschnell packte ich ihn am Kragen und zog ihn vor, sodass er die Überreste meines Standes sehen konnte.

"Kommt dir zufälligerweise diese Farbe dort vorne bekannt vor? Na?! Hast du die Worte da vielleicht sogar selber hingeschrieben?!"

"Was ist hier los?"

Augenblicklich ließ ich den schwer schnaufenden Händler los, der wie ein Sack zu Boden plumpste. Langsam drehte ich mich um. Zwei Drachenjäger kamen auf mich zu, offenbar entschlossen, den Konflikt aufzuklären. Na toll, die ersten Jäger, die Frieden stiften wollten und sie hatten es auf mich abgesehen. Hastig versuchte ich, zwischen den Ständen abzutauchen, doch derselbe Händler, den ich vor zwei Sekunden noch gepackt gehabt hatte, hielt nun mich am Kragen meiner Weste fest und begann, auf die Drachenjäger einzureden. Die umstehenden Händler unterstützten seine Geschichte, in der ich offenbar ihnen Geld gestohlen hatte, woraufhin sie meinen Stand durchsucht hatten, was mich zum Durchdrehen bewogen hatte.

"Wer bist du?", wollte der kleinere der Jäger wissen.

"Man nennt mich Finja."

"Und woher kommst du?", bohrte sein Partner nach.

Sofort wurden meine Hände feucht. Dank Viggos Überfürsorge - oder eher seiner Angst, ich würde die Wahrheit über ihn herausfinden - hatte ich absolut keine Ahnung von Geographie. 

"Berserkerinsel", stieß ich ohne große Überlegung hervor.

"Dann stehst du also auf der Seite der Drachenreiter?".

Super. Nicht nur, dass ich absoluten Schwachsinn redete, diese beiden zählten wohl zu den seltenen Exemplaren der etwas intelligenteren Jäger. Ich brauchte eine Antwort, eine Antwort, die mich irgendwie aus diesem Schlamassel heraushauen würde.

"Nein!", stammelte ich, "Ich ... ich bin von dort abgehauen, als Dagur sich mit diesen bescheuerten Drachenreitern verbündet hat. Deswegen bin ich hier."

"Aha." 

Offensichtlich glaubten sie mir nicht. Was jetzt, was jetzt? Angriff war die beste Verteidigung.

"Was geht euch das eigentlich an?"

"Weißt du nicht, dass die Marktinseln unter dem Schutz von Viggo Grimborn stehen?"

Das waren ja wirklich ausgezeichnete Nachrichten, offenbar war heute mein Glückstag. Fehlte nur noch, dass er selbst hier aufkreuzte.

"Und ... äh ... was macht ihr jetzt mit mir?" 

Obwohl - wollte ich die Antwort wirklich wissen? Keiner von ihnen schien überzeugt von meiner Geschichte und Drachenjäger waren nicht gerade für ihre Freundlichkeit bekannt.

„Nun, da du auf unserer Seite zu sein scheinst: Wir bringen dich auf unsere Insel. Dort kannst du dann eine richtige Drachenjägerin werden."

Es wurde ja immer besser! Wie ich mich da herausreden sollte, war mir schleierhaft. Wenn sie mich tatsächlich ins Lager brachten und ich dort Viggo begegnete ... 

„Ich ... äh ... ich würde ja gerne kommen, aber ... meine Mutter wartet auf mich, sie ... ist krank und braucht mich."

Bedrohlich beugte sich der Jäger zu mir vor. Nein, er glaubte mir ganz bestimmt nicht. Was nun, was nun? Hektisch blickte ich mich um, wie automatisch schlossen sich meine Finger um den Griff eines an meinen Oberschenkel geschnallten Dolch. Mit etwas Glück konnte ich mich freikämpfen, vielleicht gelangte ich rechtzeitig ans Ufer und konnte zurück zu der Insel, auf der meine Hütte lag, rudern. Danach mussten wir von hier abhauen, Sternenwind und ich. Nicht nur dass die Händler sich zu einem echten Problem entwickelt hatten, mit den Jägern war es einfach zu gefährlich. Aber dazu musste ich erstmal aus dieser verzwickten Situation rauskommen.

„Hör mal zu, Kleine. Du hast 'ne Menge Ärger gemacht und langsam verliere ich die Geduld mit dir. Normalerweise würd ich jetzt kurzen Prozess machen, aber du erinnerst mich an meine Tochter. Dich mitzunehmen ist ein großzügiges Angebot, klar?"

Eingeschüchtert nickte ich. Ich musste hier weg und zwar schnellstens! Aber am besten wartete ich erst einmal ab, bis die beiden etwas nachlässiger wurden. Doch die Jäger schienen meine Gedanken gelesen zu haben und nahmen mich in die Mitte. Um meine Arme schlossen sich kräftige Hände, die jeden Fluchtversuch aussichtslos erscheinen ließen.


-°-°-°-°-°-



Zwanzig Minuten später kauerte ich auf dem Boden eines der wenigen festen Gebäude der Marktinsel. Der Raum war winzig, wenn ich meine Arme ausstreckte, berührte ich beide Wände gleichzeitig. Eine schäbige Holztür trennte mich von meinen Bewachern, die das Gebäude, eigentlich ein Lagerraum, beschlagnahmt hatten. Dass die Männer meiner Brüder hier so einen großen Einfluss hatten ... Aber mich ging das ja nichts mehr an.

Durch die Tür vernahm ich undeutlich die Stimmen der Jäger. Sobald einer von ihnen wegging, konnte ich das Schloss der Tür mit meinem versteckten Dolch knacken und die übrig gebliebene Wache überwältigen, aber gegen zwei auf einmal hatte ich keine Chance. Bis dahin musste ich mir irgendwie die Zeit vertreiben - und was gab es Besseres, als den Drachenjägern bei ihren Gesprächen zuzuhören? Vielleicht fand ich ja etwas Wichtiges oder Interessantes heraus. Meine Zeit als Spionin war zwar glücklicherweise vorbei, aber Wissen konnte nie schlecht sein. Eines der wenigen Dinge, in denen ich mit Viggo einer Meinung war.

" ... machen wir mit der Kleinen? Die wird bestimmt keine Jägerin."

"Glaube ich auch nicht. Aber vielleicht finden die Chefs raus, was wirklich mit ihr los ist."

Ernsthaft, wie viel Pech konnte ein Mensch an einem einzigen Tag haben? Musste es da nicht irgendeine Obergrenze geben?

"Was soll mit ihr los sein?"

"Ich weiß nicht, aber sie verbirgt etwas. Hast du nicht gesehen, wie sie reagiert hat, als ich gesagt habe, dass wir sie ins Lager bringen? Wahrscheinlich ist sie eine Spionin dieser verdammten Reiter oder so."

"Was machen die eigentlich? Hab seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört."

"Hast du's noch nicht erfahren? Ihr Anführer ist gestorben."

Und wegen wem? Wegen wem war der klügste, warmherzigste und beste Mensch dieses gesamten verkommenen Archipels gestorben? Wegen ihrem tollen Anführer! Am liebsten hätte ich ihnen all das zugebrüllt, doch das hätte mich nur noch mehr in Schwierigkeiten gebracht.

"Ist wahrscheinlich besser so", fuhr der Jäger fort, "Ich wünsche zwar niemandem den Tod, schon gar nicht so jungen Kerlen wie dem, aber wir haben mehr als genug Probleme am Hals."

"Hast Recht. Mann, wenn dieser Krogan-Typ einfach verschwinden würde!"

War der immer noch nicht weg? Wobei, das hätte ich mir eigentlich denken können. Er war schließlich hinter Ohnezahn her und würde sicher nicht ohne ihn abziehen.

"Geht leider nicht so einfach. Aber hast du schon gehört, er hat sich wieder mit Viggo gestritten. Meik hat gesagt, es ist beinahe zu einem Kampf gekommen. Dieser Hundesohn Krogan hat ihn mit einem Messer bedroht, zum Glück ist Reiker dazwischen gegangen."

Krogan hatte Viggo attackiert? Das würde dieser Drecksack büßen! Niemand, niemand bedrohte meinen Bruder und schon gar nicht der

Moment, was sollte das? Viggo war nicht mehr mein Bruder, er war mir vollkommen gleichgültig. Nein, nicht nur gleichgültig, ich hasste und verachtete ihn! Sollten sie sich alle drei gegenseitig doch zerfetzen, umso besser für mich. Ich brauchte keinen von ihnen, am allerwenigsten Viggo. Wenn er weg wäre, wäre das ein Grund zum Feiern.

Wirklich? Er ist doch dein Bruder.

Ja. Er war ein mieser Schuft, es wäre für alle am besten, wenn er tot wäre.

Aber er ist dein Bruder, er kann dir niemals gleichgültig sein, egal was er getan hat.

Er hatte Hicks umgebracht, verdammt noch mal! Er hatte mich mein Leben lang belogen!

Um dich zu schützen.

Nein, um sich zu schützen.

Er hatte Angst, dich zu verlieren.

Tja, hätte er eben nicht so ein eiskalter, skrupelloser Psychopath sein sollen. Und jetzt basta!

"... sag dir, wird nicht gut gehen mit den beiden."

"Tja, ich bin echt froh, dass ich hier stationiert bin und nicht im Lager. Meik hat erzählt, seit die Kleine entführt wurde, ist dort die Hölle los."

Mit der "Kleinen" war wohl ich gemeint. Natürlich wollte Viggo nicht, dass irgendjemand wusste, dass ich mich gegen ihn gewandt hatte. Die Leute könnten sich ja fragen, warum, und dahinter kommen, was für ein mieser, hinterhältiger Mistkerl er war. Wahrscheinlich behauptete er auch noch, es wären die Drachenreiter gewesen. Seine Fehler vertuschen und gleichzeitig seinen Feinden eins auswischen. Jep, das passte zu ihm.

"Wo is' er eigentlich? Ich hab ihn seit heut Morgen nicht mehr gesehen."

"Er hat einen Drachen gesehen und ist ihn suchen gegangen. Hat gemeint, der sieht so aus wie der, den diese komische Reiterin hatte."

Sternenwind! Dieser Meik hatte sie gesehen, womöglich war sie in Gefahr. Warum hatte ich mich nur entschieden, auf den Marktinseln mein Glück zu versuchen? Mir hätte doch klar sein müssen, dass es hier vor Jägern nur so wimmelte. Mir hätte klar sein müssen, dass wir hier nicht in Sicherheit waren. Mir hätte klar sein müssen, dass früher oder später jemand sie bemerken würde. Und vor allem hätte mir klar sein müssen, dass wir uns nicht ewig vor allem verstecken konnten. Aber jetzt war es zu spät, jetzt konnte ich nur darauf vertrauen, dass Sternenwind so schlau war, sich nicht von dem Jäger fangen zu lassen. Und darauf, dass ich  schlau genug war, aus dieser Zelle zu entkommen.

Na schön. Die Wachen konnte ich nicht beide auf einmal überwältigen, nicht auf so engem Raum. Die Wand mit Sternenwinds Feuer durchzuglühen, war auch keine Option, denn die Phiole mit dem goldenen Nebel war leer. Die andere jedoch barg noch genug Eisdampf, um einen Bottich voll Saft in ein gigantisches Eis am Stiel zu verwandeln. Ein entschlossenes Lächeln umspielte meine Lippen. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

"Hilfe! Hilfe! Ei- eine Ratte! Ahh! Die ist riesig! Nein, lass mich in Ruhe, du dummes Viech! Hilfe!"

Schrill durchschnitten meine Schreie die Stille. Ich kreischte und quiekte so hoch wie noch nie, beinahe machte es schon Spaß.

"Was? Was ist los?"

Die Tür stand einen Spalt weit offen, dahinter lugte einer der Jäger misstrauisch hervor. Noch nicht genug, ich musste weitermachen.

"Da! Eine Ratte!", wimmerte ich, "Sie hat es auf mich abgesehen, sie ... Ah!"

Mit angstverzerrtem Gesicht zeigte ich in die Ecke der winzigen Kammer, die von der Tür verdeckt wurde. Um zu sehen, worauf ich deutete, musste der Jäger die Zelle betreten.

"Wo ist eine Ratte?"

Er hatte angebissen! Blitzschnell schleuderte ich ihm die silbern schimmernde Substanz entgegen. Einen Augenblick lang schwebte sie als glänzende Wolke im Raum, dann sank sie hinab und überzog den Jäger mit einer dicken Eisschicht. Ohne Zeit zu verlieren, schlüpfte ich durch die Tür, zog mein Messer aus der versteckten Halterung am Oberschenkel und jagte es seinem Kollegen in die Schulter. Stöhnend umklammerte er sie, ging aber nicht zu Boden und versperrte mir darüber hinaus noch den Weg nach draußen.

Das war's. Ich hatte weder weitere Waffen, noch die Kraft, gegen diesen durchtrainierten Krieger zu Kämpfen. Vielleicht wäre ich an ihm vorbeigekommen, hätte ich meine volle Stärke zur Verfügung gehabt, doch so ausgehungert und durchgefroren hatte ich keine Chance. Dennoch versuchte ich einen Ausfall, der vieles war, aber ganz bestimmt nicht klug. "Verrückt", "lebensmüde" und "unmöglich" trafen es schon besser. Wahrscheinlich musste ich der Liste auch noch "tödlich" hinzufügen, denn trotz seiner Verletzung griff er nach seiner Lanze und schwang sie mir entgegen. Ich konnte mir genau ausmalen, was geschehen würde, wenn kein Wunder passierte: Ich würde nicht mehr fähig sein, zu bremsen und die eiserne Spitze würde sich mit voller Wucht in meine Eingeweide bohren.

Würde ich so sterben? Vollkommen alleine, ohne wirklich gelebt zu haben?

Ein Bild von Sternenwind blitzte in meinem Kopf auf. Sternenwind, die ich alleine gelassen hatte und die möglicherweise ebenfalls um ihr Leben kämpfen musste.

Augenblicklich verblasste das Bild, machte Platz für ein Neues. Die Drachenreiter erschienen, in einem Moment aus ganzem Herzen lachend, im nächsten hilflos und betrübt, in ihrer Gruppe klaffte eine gewaltige Lücke. Auch sie hatte ich im Stich gelassen, hatte mich davongemacht, obwohl sie mich gebraucht hätten.

Und ganz kurz, für den Bruchteil einer Sekunde nur, starrte Viggo mich flehend an.

Unendlich langsam schloss ich die Augen, mein Schwung trug mich weiter, hin zum tödlich spitzen Ende der Lanze. Ich konnte nicht mehr dagegensteuern, ich konnte mich lediglich damit abfinden. Damit abfinden, dass es vorbei war.

Doch offenbar schienen die Götter beschlossen zu haben, dass mein täglicher Vorrat an Pech mehr als nur ausgeschöpft war und ich zur Abwechslung mal ein wenig Glück vertragen konnte.

Gerade als es zum unvermeidlichen Zusammenprall hätte kommen müssen, beendete ein dumpfer Aufprall die Zeitlupe, in der die letzten Sekunden abgelaufen waren, und der Jäger sackte wie ein geschlachteter Ochse in sich zusammen.

"Dich kann man wirklich nicht alleine lassen", meinte Heidrun mit einem verschmitzten Lächeln.

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