Kapitel 34: Höhlengrab

Romi

„Wollen wir nicht langsam wieder hoch? Wir sind schon ziemlich lange hier drinnen und ich weiß nicht, mir ist kalt. Extrem kalt. Schüttelkalt."

„Geht ihr vor, ich bleibe noch ein wenig."

Wie stumpf Viggos Stimme klang. Doch immerhin war die Schwäche aus ihr gewichen. Auch wenn nur dank des dritten Feuers, ich hatte nicht versagt, hatte ihn gerettet. Ich wand meine Finger aus Dagurs Griff, machte einen Schritt zu Viggo hin, blieb wieder stehen. Vermutlich hätte ich etwas sagen sollen, doch ich wusste nicht einmal, ob die Wörter ihn aufbauen oder beschuldigen sollten. Und so drehte ich mich davon, umklammerte das Seil, ließ Viggo alleine in seiner Grübelgrotte zurück.

So grell die Farben hier draußen nach der Finsternis der Höhle, so ohrenbetäubend die Vögel, das vermodernde Laub. Doch zwischen den Menschen wachte die gleiche Stille, das gleiche wortringende Schweigen, der gleiche flehende Versuch, einander blind zu ertasten.

Dagur stemmte sich aus dem Loch, ich beugte mich zu ihm vor und reichte ihm eine Hand. Seine Augen weiteten sich, fast schon lächerlich sah es aus, wie die Augenbrauen zu seinem Haaransatz hüpften. Eine halbe Sekunde später schnellten sie auch schon zu ihrem normalen Platz zurück und er ließ sich von mir nach draußen ziehen.

Noch immer saß Astrid im feuchten Laub, allein Heidruns Arm bewahrte sie davor, in sich zusammenzusacken. Kaum hob sie den Kopf, ihre Bewegungen so schwer wie vor einer Woche.

„Hat es funktioniert?"

Heidruns Stimme flatterte, als wäre sie sich nicht sicher, ob das etwas Positives oder etwas Negatives sein sollte. Ich nickte bloß, gefangen in demselben Taumel, welches Gefühl richtig war.

„Also so eine Heilung habe ich noch nie gesehen! Die Funken und dann BAMM! Auf einmal war er wach, einfach so. Das Zeug ist echt der Hammer, kannst du noch mehr davon machen?"

„Nicht, wenn ich nicht wieder riskiere, blind und taub zu werden und Sternenwind zu verbrennen."

Seine Augen weiteten sich, ein Loch öffnete sich zwischen seinen Lippen. Hinter der Iris verkroch sich eine Betroffenheit, die das grüne Glas nicht verbergen konnte, genauso wenig wie sein Zurückschnellen in seine übliche Position vertuschte, dass meine schnippischen Worte ihn getroffen hatten. Auf einmal wusste ich nicht mehr, weshalb ich sie ausgespuckt hatte, wusste nicht mehr, woher die Gereiztheit kam, wollte sie von mir streifen.

„Tut mir leid."

Astrid schnaubte und Dagur murmelte ein „Schon gut". Die immer noch kahlen Äste zerschnitten den Wind, der jeden von uns in einen getrennten Wirbel einhüllte. Heidrun musterte mich, versuchte, mir etwas mit ihren Blicken mitzuteilen, doch ich verzog nur ahnungslos den Mund. Unsere Augenkommunikation, die wir auf der Jägerinsel entwickelt hatten, funktionierte nicht mehr. Zu lange hatten wir uns nicht gesehen.

„Er ist doch nicht immer noch da unten, oder?"

Was sollte ich Astrid antworten? Dass, ja, der Mörder ihres Geliebten sich allein mit dessen Leiche dort befand? Sie würde nicht verstehen, dass er es tat, um zu bereuen. Sie würde nur Hicks schützen wollen.

„Wenn er nicht hier oben ist, dann ist er wohl in der Höhle."

Ich starrte Dagur in die Augen.

„Falscher Kommentar? Oh, 'tschuldigung. Das mit der angebrachten Kommunikation habe ich immer noch nicht so ganz gelernt."

„Ist. Er. Alleine. Mit. Hicks?"

Ihr Ton rutschte in metallische Lagen ab, ihre Fäuste ballten sich wieder. Wenn sich die Lage nicht schleunigst entschärfte, würde sie erneut jemanden angreifen.

„Manchmal muss man sehen, was man angerichtet hat, um wirklich bereuen zu können."

Heidrun strich ihr über den Rücken und gemeinsam mit ihren Worten brachte das Astrid dazu, sich zu lockern. Sie presste gegen ihre Schläfen, ließ den Kopf im Nacken kreisen, streckte die Finger aus.

„Also warten wir einfach."

Weshalb schauten alle zu mir? Wer war ich denn, dass ich ihnen eine Antwort geben konnte? Aber niemand sonst erhob die Stimme. Daher nickte ich.

„Wir warten."

-°-°-°-°-°-

Wir warteten lange. Mittlerweile kroch Kälte von den feuchten Blättern hoch, Heidrun und ich hatten uns wieder die Oberteile über die gänsehautübersäten Arme gezogen. Noch immer starrte Astrid in die Lücke zwischen den Baumstämmen, doch ihr Rücken lehnte sich an den Heidruns an. Dagurs Finger trommelten gegen seine Knieschoner, der gleiche Rhythmus, seit er sich hingesetzt hatte. Er erinnerte mich an ein Lied, das die Jäger immer gesungen hatten – nicht das übliche Gejohle, sondern ungewöhnlich ernst. Nur Fetzen der Melodie hatte die Zeit verschont, trotzdem begann ich, die Überbleibsel nachzusummen.

„Du kennst das Lied?"

Beinahe streifte Dagurs Ohr seine Schulter, so schräg legte er den Kopf.

„Ein bisschen ... jedenfalls kannte ich es mal besser."

„Ist 'n altes Seefahrerlied, Vater hat es immer gesungen."

„Wirklich?" Heidrun lehnte sich in seine Richtung. „Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ist es ein Berserkerlied?"

„Nö, stammt von weit her, von einem ‚Kontinent'. Was auch immer das sein soll."

„Du weißt nicht, was ein Kontinent ist?", hakte ich nach.

„NEIN, WEIß ICH NICHT!"

Kein Finger hätte zwischen seine Stirn und die meine gepasst, ich wich nach hinten und fiel auf meine Ellenbögen. Augenblicklich riss er den Kopf zurück, zwischen so sehr hochgezogene Schultern, dass sie ihn beinahe überragten.

„Ähm, ich meine: nein, was ist das?"

„So etwas wie eine Insel, nur viel, viel größer. Ich habe in Viggos Kartenbüchern darüber gelesen."

Astrids Blick flackerte zu uns hinüber und ich drückte mich zurück in meine normale Sitzhaltung.

„Der Kontinent, den die Reisende beschrieben hat, war so groß, dass man das Meer nur an den allerwenigsten Stellen sehen konnte. Es soll dort riesige Ebenen geben und Berge, die die Wolken durchbrechen. Ich wollte schon immer dorthin."

„Ich auch!"

„Wieso wolltest du auf den Kontinent? Du wusstest bis gerade eben doch nicht einmal, was das ist!"

Dagur schürzte die Lippen, dann ließ er sie in ein breites Grinsen auspendeln.

„Nicht auf den Kontinent, aber zum Ort, um den es im Lied geht!" Er beugte sich näher. „Es soll da Nachtschatten geben."

„Nachtschatten?!"

Astrid drehte sich herum und schlug die Beine unter. Dagurs Kopf federte auf und ab.

„Ja, sie sollen sogar von dort kommen! Was meint ihr, weshalb ich mir das Lied so lange gemerkt habe? Hihi. Doch nicht etwa wegen den Helden, die darin besungen werden. Hihihi! Hiahiahahahaha! Mein altes Ich und Helden, der war gut!"

„Was wird über Nachtschatten gesungen?"

Dafür, dass sie so wenig gesprochen hatte, klang ihre Stimme ungewöhnlich fest. Eine Haarsträhne fiel über ihr Auge, aber sie strich sie zurück.

„Dass sie schnell sind und stark und obercool – nicht, dass das so gesagt wurde, aber ihre Plasmablitze wurden erwähnt und wer findet Plasma nicht cool? War das erste Mal, dass ich von ihnen gehört habe, seitdem wollte ich unbedingt einen sehen. Ach ja, sie sollen von diesem Ort kommen."

Er legte den Kopf schief.

„Und alle anderen Drachenarten sollen von ihnen abstammen. Aber das ergibt ja nicht so wirklich Sinn, die sehen ja ganz anders aus."

„Na ja, es würde schon möglich sein", schob ich ein, „Gibt es eigentlich noch andere Nachtschatten außer Ohnezahn?"

Astrid zuckte mit den Schultern.

„Wir sind nie einem begegnet. Hicks hat immer nach ihnen gesucht, aber ..."

Ihre Augen flackerten in Richtung ihres rechten Knies, sie zupfte an ihren Fingerspitzen.

„Wahrscheinlich sind sie alle tot. Ist der da drinnen eigentlich fertig? Wir wollten Hicks nach Berk bringen."

„Ich gehe ihn holen."

Wollte ich noch einmal in diese Höhle, in der das Versagen die Wände herunterrann? Nein. Wollte ich mit Viggo über Hicks reden? Nicht wirklich. Aber besser ich, als dass es Astrid tun müsste.

-°-°-°-°-°-

Kieselsteine knirschten unter meinen Füßen, als ich wieder die Höhle betrat. Jedes Mal hatte sie etwas Entscheidendes verändert, würde es auch diesmal so sein? Geruch nach nassem Stein schlug mir entgegen, so vertraut mittlerweile. Einige Schritte vor mir krümmte sich Viggos Rücken zu einem Bogen. Würde nicht daneben der Eisblock aus dem Boden wachsen, hätte ich ihn nicht von den Felsbrocken unterscheiden können. Im Zickzack stelzte ich um sie herum, auf einen Beobachter musste es wie ein Tanz aussehen.

Viggos Finger krampften sich um einen Gegenstand, etwas Kleines, denn es verschwand vollkommen in seiner Hand. Als ich mich neben ihn kniete, kroch sein Kopf ein wenig in meine Richtung, bevor er ihn ruckartig wieder abwandte. Doch nicht schnell genug, damit ich nicht die Tränen auf seinen Wangen wahrnahm. Ich hatte ihn nicht mehr weinen sehen, seit ... Eigentlich hatte ich ihn noch nie weinen sehen. Nach Liskas „Tod" waren zwar wochenlang seine Augen geschwollen und seine Wangen rotfleckig gewesen, doch kein einziges Mal hatte er damals vor mir geweint. Und seitdem hatte er sämtliche echten Regungen in sich hineingeschlossen und allerhöchstens in meiner Gegenwart schöne Gefühle emporsteigen lassen. Seine Angst, seine Einsamkeit, seine Trauer, niemand hatte sie je zu Gesicht bekommen.

Ich legte eine Hand auf seinen Rücken, sie reichte gerade an sein rechtes Schulterblatt heran. Also rutschte ich ein wenig näher. Er kniff die Augen zusammen, seine Wangen verhärteten sich. Wasser schwappte ans Ufer heran und wieder zurück, dann weichte sein Gesicht auf und seinen Lippen entfuhr ein Schluchzen. Meine Hand malte Kreise auf seinen Rücken, zum Nacken hoch, zum linken Schulterblatt, zur Stelle, an der die Wirbelsäule sich in die andere Richtung krümmte, und wieder zur rechten Schulter. Jeder Kreis dauerte genau einen Gedanken lang. Das hat er noch nie gemacht. Es macht mir Angst. Das hat er noch nie gemacht. Es ist gut, dass er es tut. Das hat er noch nie gemacht. Mach einfach weiter. Seine Lippen zuckten und zitterten, formten unhörbare Worte und doch vernahm ich ein „Es tut mir leid".

„Es ist in Ordnung."

Er blickte zu mir auf, das Gesicht verschmiert von Tränen, die geschwollenen Lider schwer und in seinem Bart glitzerten Spuren von Schnodder. Auf den Knöcheln seiner linken Hand klebte Blut und der Eisblock war voll von Bögen aus vier bräunlichen Tupfen.

„Es ist nicht in Ordnung, Romi."

Seine Stimme kroch mit letzter Kraft aus seiner Brust hervor, in meiner Ohrmuschel brach sie zusammen. Hinter sich schleifte sie einige Wortbrocken, so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.

„Ich ... habe viele Fehler gemacht."

Auf diesen Satz hin blieb meine Hand neben seiner Schulter liegen und ich rückte so nahe an ihn heran, dass sich unsere Hüften berührten. Zunächst blieb er steif, doch dann zerrann er in meine Umarmung.

„Das weiß ich."

Die Höhle verdunkelte sich und ich erspähte einen sich über das Loch beugenden Kopf, der prompt zurückgerissen wurde.

„Und ich weiß nicht, ob mir jemals jemand verzeihen kann."

Er drehte den Kopf weg.

„Ich weiß nicht, ob ich mir jemals verzeihen kann."

Mit der linken Hand fuhr er die Rillen des Eisblocks nach, sein Gesichtsausdruck wieder so gefasst, wie ich ihn kannte.

„Er war ein bewundernswerter junger Mann. Intelligent, ein großer Erfinder und voller Überzeugung."

Wieder krampfte sich seine rechte Hand um den Gegenstand darin und ich meinte, zwischen seinen Fingern Blut hervorsickern zu sehen.

„Er hätte so viel verändern können."

Viggo schluckte, zog die linke Hand zurück.

„Aber ich habe ihn umgebracht."

Auf den Steinboden platschte Blut.

„Was hast du da?"

Viggo öffnete die Hand, auf seinen Lippen ein Lächeln, das keines war.

„Eine Spiegelscherbe. Ich vermute, sie zeigt einem, wer man ist. Wie man ist."

„Und was hast du gesehen?"

Er schüttelte den Kopf, seine Augen stumpf.

„Darf ich ... darf ich sie haben?"

„Sicher."

Kühl lag sie in meinen Fingern, kühl wie alles hier. An der Decke erschien eine Lichtreflexion. Viggo strich meine Haare hinters Ohr.

„Ich habe dir noch gar nicht gesagt, wie gut du damit aussiehst."

„Danke."

Ich hob die Scherbe höher, dankbar für einen Vorwand, nicht noch mehr mechanische Antworten liefern zu müssen. Sie spiegelte mein Gesicht wieder, umgeben von vereinzelten rötlichen Punkten – Kratzer? Nein, Kratzer vermehrten sich nicht von selbst und vor allem bewegten sie sich nicht. Auch Lichtreflexe konnten es nicht sein, woher denn auch, so dunkel, wie es hier war. Die Punkte umschwirrten mich, sausten durch meine Haare und hüpften auf meine Nase. Wie von selbst tastete meine Hand nach ihnen, doch natürlich fand sie nichts. Der Funkensturm existierte nur im Spiegelbild, schnurrte sich zusammen und wallte auseinander, eine flammend rotorangene Masse, getupft von Gold und Silber und einigen Spuren violett. Immer kompakter wurde es, Kurven bildeten sich, eine Gestalt. Ein Vogel, ein Vogel aus Flammen, der den Kopf in den Nacken legte und sich auflöste. Wieder zogen sich die Funken zusammen, wieder zu einem ähnlichen Vogel, mit silbrigeren Augen jedoch. Auch dieser Vogel explodierte und aus den Funken entstand ein Weiterer, violette Schlieren in den Federn. Auflösen, neuer Vogel, auflösen, neuer Vogel, auflösen ...

Ich ließ die Scherbe sinken. War es Zufall, dass ich Sternenwind getroffen hatte – einen Dämmerungsphönix? Wie auch immer, meine Seele war schön. Sie war schön.

„Du lächelst."

„Ich ... äh ... ja."

„Nicht, dass es mich überrascht hätte."

Steinchen bohrten sich in meine Knie, aus irgendeinem Grund merkte ich erst jetzt, wie spitz sie waren. Ich verlagerte mein Gewicht nach rechts, in meinem Beutel knisterte die Schriftrolle.

„Was ist das?"

Viggo starrte auf die Rolle in meiner Hand. Ich hätte nicht sagen können, wer von uns beiden überraschter war.

„Woher hast du die?"

„Sie ist dir aus dem Kragen gerutscht."

Seine Hand fuhr zu seinem Nacken hin, als wolle sie sich vergewissern, dass da wirklich nichts mehr war. Wieder ein Kopf an der Öffnung, wieder wurde er zurückgerissen. Vermutlich blieb kein einziges Wort unserer Unterhaltung zwischen uns.

„Hast du sie gelesen?"

„Nein." Meine Fingerspitzen tippten aneinander. „Was ... was steht da drinnen?"

Seine Mundwinkel hoben sich, ein typisches Viggo-Lächeln, das von so vielen geheimen Gefühlen überlagert wurde, dass die meisten es wohl als gezwungen herabgesetzt hätten.

„Ich weiß es nicht."

„Viggo ... spionierst du für die Jäger?"

Sein Körper ruckte nach vorne, begleitet von einem Schnauben, das klang, als hätte er sämtliche Luft herausgepresst. Dann noch einmal und wieder, in immer schnellerer Abfolge, und erst, als sich eine Art Schreien dazu mischte, begriff ich, dass er lachte. Diese Art von Lachen hatte ich aus seinem Mund erst einmal gehört. So hatte er gelacht, nachdem Hicks sich das Schwert in die Brust gerammt hatte, und jetzt kniete er von seiner Leiche und prustete und stöhnte und heulte auf. Ich wich zurück, wusste nicht, was als Nächstes kommen würde, drei Köpfe beugten sich über das Loch und riefen mir zu, ob alles in Ordnung sei, ob sie mir helfen sollten.

„Ich ... nein, denke nicht."

Ob die Stimme unabhängig von einem sprechen konnte? Der Satz war nämlich ohne meine Beteiligung entsprungen. Die Köpfe zogen sich zurück, doch ich wusste, dass sie weiter zuhören würden.

„Was ist so lustig, Viggo?"

Er schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen. Doch das Lachen konnte er nicht zurückhalten, es quetschte sich zwischen seinen Zähnen hervor und schoss durch die Höhle. Meine rechte Hand tastete nach einem Stein, für den Fall, dass er mich angriff. Immer noch pendelte sein Kopf hin und her. Dann hielt er inne. Starrte mich an. Lachte erneut los, seine Stimme heiser. Ich legte die freie Hand auf seinen Unterarm, die andere schwebte auf Hüfthöhe. Er hob den Kopf.

„Was so lustig ist? Die Absurdität der Situation, würde ich mal schätzen."

Der Stein klackte auf den Boden.

„Welcher Situation?"

Seine Augen hefteten sich an die meinen, schwarze Kiesel auf einmal.

„Weißt du, wie ich diese Verletzung erlangt habe?"

Auch seine Stimme klang nach Kiesel. Diese Stimme kannte ich, er nahm sie immer an, wenn er mit Geschäftspartnern, Untergegebenen, Feinden sprach. Ganz der professionelle Drachenjäger. Zu welcher Kategorie er mich wohl zählte?

„Nach einigen Tagen Segeln haben Liska und ich Schiffsbruch erlitten."

„Du? Schiffsbruch?"

Er schnaubte ein Lächeln hervor.

„Eine Flotte an gewaltigen Kriegsschiffen hat unseren Weg gekreuzt und unser Boot zum Kentern gebracht. Hätten uns nicht die Reiter aus dem Wasser gezogen, wären wir wohl ertrunken."

Ich ruckte zurück. Die Kälte der Grotte erschien mir auf einmal viel klarer und spitzer, sie bohrte sich durch meine Kleidung und putschte mein Blut auf. Meine Hand glitt von Viggos Unterarm.

„Wie, die Reiter? Aber ... Und warum Kriegsschiffe?"

Ein Seufzer entfuhr Viggos Lippen und er kniff die Augen zusammen. Öffnete sie wieder, wandte den Blick ab, biss sich auf die Lippe und musterte mich.

„Nun, ich befürchte, dass Krogans Meister sein Gebiet auf das Archipel ausdehnen will."

„Krogans Meister ... Drago Blutfaust also?", hakte ich nach.

Schatten fraßen sich in Viggos Gesicht, seine Stirn zerklüftete sich.

„Woher kennst du Drago Blutfaust?"

„Liska hat mir von ihm erzählt."

„So, hat sie das also. Nun gut, immerhin muss ich es dann nicht mehr tun."

„Du hast nicht auf meine erste Frage geantwortet."

„Die Reiter? Was genau wolltest du in Bezug auf sie wissen? Deine Frage lässt da viel Spielraum offen."

„Hör auf, alles besser zu wissen!"

Seine Augenbraue knickte hoch. Um seine Lippen kräuselte sich ein Grinsen.

„Ja, ja, zu viel verlangt, ich weiß. Aber ... argh! Du kannst unerträglich sein, Viggo Grimborn!"

Das Grinsen zog sich in die Breite. Ich blies meine Wangen auf.

„Warum haben die Reiter dich gerettet? Sie hätten doch jeden Grund ..."

„Mich ertrinken zu lassen?"

Die hochgezogene Augenbraue konnte man förmlich hören. Meine Finger schoben einen Kiesel hin und her. Sein Klackern gab mir einen Grund, Viggo nicht anschauen zu müssen.

„Ja, ich vermute, sie hätten jedes Recht dazu gehabt", erwiderte er seine eigene Frage, „Aber sie haben es nicht getan. Sie haben Liska und mich gerettet."

Für einen kurzen Augenblick schielte ich zu ihm herüber. Sein Gesichtsausdruck schien ganz normal, doch diese Anspannung um die Augen herum, sein betont vertrauenswürdiges Lächeln ... Auch wenn ich es damals nicht erkannt hatte, er hatte mich schon so oft angelogen. Dieses Gesicht kannte ich.

„Was verschweigst du mir?"

Schlagartig zogen sich seine Augenbrauen zusammen.

„Was meinst du damit?"

Hart sein. Mich nicht ablenken lassen. Noch einmal würde ich mich nicht in einer heilen erlogenen Welt gefangen halten lassen.

„Du weißt, was ich meine. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das dir blindlings alles glaubt. Was auch immer es ist, ich will es wissen."

Die Felsen schienen schärfer zu werden, jede Unebenheit am Boden bohrte sie in meine Beine. Ich sah die Schatten auf Viggos Gesicht wabern und wie er einen Fingerbreit zu mir hin rutschte. Ich hörte sein langsames Einatmen und wie sein Fingernagel gegen den Boden klickte. Nicht das kleinste Detail würde ich mir entgehen lassen.

Oder gab es eine bessere Möglichkeit? Anstatt mich darauf zu verlassen, dass ich Viggos Lügen aufdecken würde, sollte ich ihn nicht lieber davon überzeugen, nicht zu lügen? Wenn er es auf eines nicht ankommen lassen würde, dann darauf, mich zu verlieren.

Ich streckte mich, spannte den Kiefer an, stütze mich auf meine Knie ab und lehnte mich nach vorne. Die Höhlenluft schmeckte feucht, doch sie erfüllte mich mit Klarheit.

„Hör zu. Wenn du mich jetzt anlügst, wenn du mir etwas verschweigst oder mir etwas vormachst, dann war's das. Dann kannst du abhauen und ich will dich nie wieder sehen. Verstanden?"

Langsam nickte er.

„Also schön, dann spuck aus."

„Nun, du weißt immerhin schon, wer Drago Blutfaust ist, dann vermute ich, dass es sowieso keine Rolle mehr spielt."

Was spielt keine Rolle? Jetzt sag's endlich!"

Er seufzte. Aus dem See schwappte eine Welle gegen den Stein, Kälte sägte an meinen Füßen. Die Bilder an der Wand schienen mich anzustarren.

„Er hat vor, das Archipel zu erobern. Und wenn er den geringsten Widerstand entdeckt, wird er alles niederbrennen."

Alles niederbrennen. Alles. Berk, die Berserkerinsel, die Beschützer des Flügels ... Sie alle würden kämpfen. Natürlich würden sie das, würde ich auch, aber hatte das überhaupt eine Aussicht? Alles niederbrennen. So lange war der Rest des Archipels mir unbekannt gewesen, vermutlich hätte es mir damals nichts ausgemacht. Doch jetzt, wo ich so viel Schönes gesehen hatte, so viel schützenswerte Orte, Drachen, Menschen ...

Ich kratzte über den Boden, mein Kiefer verkrampfte sich.

„Das lasse ich nicht zu."

Viggo musterte mich, den Kopf leicht schief gelegt, um den Mund dieses melancholische Lächeln.

„Was?", schleuderte ich ihm entgegen.

„Mit dieser Reaktion habe ich gerechnet. Aber ..."

Was aber?"

Zwar verriet mir die Art, wie er die Stirn runzelte, seine Antwort bereits, doch ich wollte ihm noch eine Chance geben, diese zurückzuziehen. Noch immer wandte er den Blick nicht ab, ich starrte zurück, würde auf keinen Fall nachgeben, nicht mehr. Dann senkte er den Kopf.

„Ich werde dich nicht aufhalten können, nicht wahr, Romi?"

„Nein, das wirst du nicht."

Sein Mundwinkel zuckte.

„Zumindest kann ich sagen, dass ich es versucht habe."

„Und du bist gescheitert."

Seinen Lippen entfuhr ein gespieltes Seufzen.

„Deine Lust, mich zu quälen, nimmt beunruhigende Ausmaße an."

Sein Lachen verhallte alleine. Denn ich konnte nicht verdrängen, wie genau das gleiche Lachen gesprüht hatte vor der Lust, Hicks zu quälen.

Viggo knetete seine Fingerspitzen, sein Blick krachte auf den Boden. Was war aus seiner undurchdringlichen Fassade geworden? Alleine mit mir hatte er sie oft gesenkt, doch nie hatte er so viele Reaktionen gezeigt wie jetzt. Hatte er sich geändert in den vier Monaten alleine? Oder spielte er mir wieder etwas vor?

„Dein Interesse beschränkt sich nur auf die unangenehmen Dinge, nicht wahr?"

Abrupt verharrte mein gegen den Oberschenkel trommelnder Finger in der Schwebe. Er hatte Recht. Was bedeutete ... was bedeutete, dass nicht nur er sich verändert hatte. Auch ich war eine Andere geworden, nicht nur als Wunschdenken, sondern in meinem Verhalten. Die Dämmerung hatte ihren Höhepunkt überschritten.

Schatten streckten sich mittlerweile in unsere Richtung, wie lange saßen wir schon hier drinnen? Und Viggo, immer noch ohne Hemd ... Wie von selbst legten sich meine Finger auf seine Schulter. Eiskalt.

„Du musst ins Warme."

Draußen trillerte ein Vogel, Dagur lachte auf.

„Dann entgeht dir aber ein entscheidender Teil der Geschichte."

Warum hatte ich vorher nicht die Gänsehaut gesehen und wie eng er die Arme um den Körper schlang? Die gräuliche Farbe seiner Lippen konnte auch vom Licht stammen, hoffentlich stammte sie vom Licht.

„Das ist mir egal."

„Nein, ist es dir nicht."

„Hörst du auf damit?! Du erfrierst hier! Du kletterst jetzt dieses Seil hoch oder ich hole Sternenwind! Und glaub mir, sie würde nicht gerade sanft mit dir umgehen."

Er seufzte – oder lachte er?

„Solche Mittel sind nicht nötig, ich gehe ja schon."

„Gut."

Ich reichte ihm eine Hand, er riss die Augen auf. Für einige Sekunden geschah nichts, dann krümmten sich seine Finger um meine. Ein Kälteschauer jagte meinen Arm hoch, der Schreck verlieh mir genügend Kraft, ihn hochzuziehen. Einige Körperlängen entfernt schraubte sich das Seil in die Wärme.

Viggo stakste darauf zu, strauchelte, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch ich sah genau, wie steif er seine Beine voranschob, wie sehr er sich bemühte, das Gleichgewicht zu behalten. Mit nur drei Schritten überwand ich die Strecke, für die er doppelt so lange gebraucht hatte. Er hob eine Hand und öffnete den Mund, aber ich schob die Hand beiseite und umfasste seinen Rücken. Nur zögerlich stützte er sich auf mir ab, aber als sein Arm meine Schultern berührte, brach seine Fassade zusammen. Gemeinsam schlurften wir die restliche Strecke bis zum Seil.

„Ich entschuldige mich aufrichtig, dass ich dir so viele Lasten verursache."

Ich antwortete nicht.

Viggo scheiterte daran, das Seil hochzuklettern. Drei Male rutschte er ab, dann gab er auf. Dagur beugte über das Loch, schlug vor, ihn hochzuziehen. Heidrun bot sich an, den anderen Arm zu übernehmen. Warme Wellen plätscherten in mir, hatte ich schon gedacht, ihn alleine schleppen zu müssen.

Ich formte eine Trittleiter mit meinen Händen, schwankte unter seinem Gewicht, bis Heidrun und Dagur seine Hände ergriffen. Gemeinsam hievten wir ihn ins Tageslicht, begleitet von Dagurs Krakeelen.

„Seid ihr Wikinger oder Quallen, Mädels? Das ist doch nicht schwieriger als ein Yak zu werfen!"

Zwar konnte ich ihn nicht sehen, doch ich war mir sicher, dass sein Grinsen ausgereicht hätte, um einen Kürbis darin verschwinden zu lassen. Mit einem Mal verschwand das Gewicht. Einen Augenblick lang baumelten Viggos Beine noch in der Finsternis, dann war er weg. Innerhalb weniger Sekunden erklomm ich das Seil, spürte, wie die Dunkelheit von mir abfiel und ich die Kälte zurückließ.

Kaum hatte ich einen Fuß auf festen Boden gesetzt, zogen mich schlanke Hände in eine Umarmung. Heidrun setzte zum Sprechen an, da rammte uns ein massiger Körper. Wir plumpsten auf den Boden, wo Dagur uns mit seiner Umarmung beinahe zerquetschte. Alle drei lachten und als ich den Kopf hoch, erblickte ich Astrid, die mich zögerlich anlächelte. 

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