Kapitel 32: Weißinrotinweiß

Viggo

Wolken. Meer. Leere.

Ich fühlte mich leer.

Verloren hatte ich sie.

Liska verloren.

Ich hatte versagt.

Keine Melodiebänder liebkosten mich, vielleicht ahnte der Funkengesang, dass sich manches Leid nicht wegsingen ließ. Oder auch nicht, schließlich war er nur ein Drache.

Ein Drache.

Ich ritt auf einem Drachen. Ich hatte einen Drachen gezähmt.

Aber das spielte keine Rolle.

Liska weg.

Liska weg.

Machten die Götter das eigentlich mit Absicht? Einem ein Fitzelchen Glück zu schenken, nur um es einem gleich wieder zu entreißen. Nie war ich sonderlich gläubig gewesen, die Existenz der Götter hatte ich immer angezweifelt, doch jetzt war ich mir sicher, dass es sie gab.

Denn der bloße Zufall konnte nicht so grausam sein.

Nein. So durfte ich nicht denken. Liska war stark. Sie war gerissen. Und skrupellos, vor allem, wenn sie jemanden beschützte, den sie liebte.

Aber würde das gegen Krogan und sämtliche Jäger ausreichen?

Es musste.

Mein Bein pochte. Liska hatte mir einen Druckverband angelegt, mit Stoff aus ihrem Umhang und einem faustgroßen Stein. Der feuchte Stoff klebte auf meiner Haut, erinnerte mich daran, wie knapp es gewesen war. Viel zu knapp.

War es so den Reitern gegangen? Hatten sie ein ums andere Mal ihr Leben riskiert für etwas, wovon sie selbst nicht profitierten? Verrückt. Unlogisch. Und auf solchen Leuten lag die letzte Hoffnung, das Archipel und Romi zu beschützen.

Auf vier Personen, die man kaum als junge Erwachsene bezeichnen konnte. Auf vier verwitterten Säulen eines ehemals prächtigen Schlosses, die kaum sich selbst tragen konnten.

Mit etwas Glück könnte man Berk mobilisieren. Ein Dorf voller Drachen, von denen schon eine Handvoll ganze Armeen auseinandergenommen hatte, würde mit Sicherheit eine starke Streitkraft darstellen. Armeen ... Die Berserker besaßen eine Armada an Schiffen und sie hatten sich mit Berk verbündet. Aber ob das ausreichen würde?

Ich wollte nicht mehr nachdenken.

Es reichte mir. Hatten meine Pläne nicht schon genug Leid gebracht?

Andererseits, was geschah, wenn ich nichts tat?

Aber nicht jetzt. Jetzt hing ich zwischen den Inseln, im Nichts, in grauen Wolken über grauem Meer. Ich konnte schlafen, der Funkengesang würde mich sicherlich auffangen, falls ich herunterrutschen würde. Kühle überzog mein Gesicht, von meinen Wimpern tropfte das Wolkenwasser.

Es überraschte mich, wie schnell die Schwärze kam.


-°-°-°-°-°-


Stimmen umringten mich, ein kribbelndes, wärmendes Nest, auch wenn ich die Zweige nicht voneinander unterscheiden konnte. Gesichter über mir, verschwommen, aber bekannt. Ihre Züge schärften sich, dann schüttete jemand Wasser darüber und sie zerliefen. Dutzende Male wiederholte sich der Kreislauf, doch die gleiche Person hatte eine Scheibe aus Bernstein zwischen uns gestellt, milchweißem Bernstein, und so konnte ich sie nicht erkennen.

„...verletzt..."

„Was ... passiert?"

„...Drache ... wie?"

Verlangten sie von mir, dass ich antwortete? Würde sich nämlich als schwierig erweisen, jemand hatte meine Kehle mit Wolle zugestopft. Kratziger Wolle. Atmen konnte ich aber noch. Oder?

Bein. Blitzschmerz. Au, au, au, au, au! Was taten sie da? Aufhören sollten sie!

„...übel..."

Übel. Ja. Mir war übel. Warum wurde alles schwarz?

„...Todsinger..."

Tod? War ich tot?

Schwärze.

Schwärze.

Schwärze.


-°-°-°-°-°-


Blitze. Aus welchem Grund hatte ich Blitze in den Augen?

Schmerz. Schon wieder. Und noch einmal. Kaum hatte sich mein Körper entspannt, donnerte etwas auf meinen Brustkorb, schnell und unerbittlich und hör doch bitte auf.? Wieder. Und wiederwiederwiederwieder.

Seltsam rhythmisch für Donnern. Menschengemacht? Möglicherweise konnte ich mich daran gewöhnen.

Einatmen. Krampfkrampfkrampf. Ausatmen. Krampfkrampfkrampf.

Nein. Auf diese Weise durfte es nicht weitergehen. Ich musste die Augen öffnen, mich meiner Umgebung stellen.

Mein erstes Blinzeln wurde von einem weiteren Donnern unterbrochen, doch keine weiteren folgten.

„...schlägt wieder!"

Stimmen. Also doch Menschen. Aus welchem Grund hämmerte jemand auf meinen Brustkorb ein?

Schlägt wieder. Was schlug wieder? Auf den Brustkorb drücken musste man, wenn das Herz zu schlagen aufgehört hatte. Hatte mein Herz aufgehört zu schlagen?

„...atmet..."

Eine andere Stimme. Ich nahm mal an, dass sie mich meinte. Aus welchem Grund sollte ich nicht atmen? Mir ging es doch bestens, abgesehen davon, dass mein Brustkorb zersplittert zu sein schien. Also, warum?

Ein Blatt trudelte auf mich zu, mit goldenen, spinnwebfeinen Adern. Es krümmte sich zusammen und ein Riss öffnete sich darin, gleich einem Mund, aus dem eine zappelnde Masse quoll, nein, Menschen, Menschen mit der Kleidung meiner Jäger und sie trugen jemanden, eine Frau mit knochenzackigem Körper, warfen sie in einen Brunnen. Der Brunnen lachte, mit einer Stimme, als hätte er soeben eine Halle voller Menschen angezündet.

Nein. Wachbleiben.

Möglicherweise sollte ich noch einmal versuchen, die Augen zu öffnen.

Ein verschwommener Fleck über mir, höchstwahrscheinlich ein Gesicht. Ich blinzelte. Der Fleck wurde schärfer, Konturen zeichneten sich, Augen, ein Mund. Dieses Gesicht ... kannte ich es nicht?

Romi. Romiromiromiromi.

Moment. Romi befand sich immer noch auf der Drachenklippe, ich hingegen war zurück zu den Reitern geflogen. Was bedeutete, ich halluzinierte.

„Scheint ... Bewusstsein ..."

Noch eine andere Stimme. Auf jeden Fall war ich bei den Drachenreitern, schließlich hatte ich Romi alleine zurückgelassen.

„Kannst du mich hören?"

Den Kopf heben und nicken. Wer hätte gedacht, dass sich diese simple Bewegung anfühlen konnte, als stemme man Felsbrocken?

Ein weiteres Gesicht schwebte neben – ich bezeichnete die Person mal als Romi, wahrscheinlich handelte es sich um das Zwillingsmädchen, zwischen ihren Gesichtszügen bestand eine gewisse Ähnlichkeit. Diese Person hier erinnerte an Rotzbacke, sofern ich das erkennen konnte.

„Das war knapp. Allerdings bin ich mir immer noch nicht sicher, ob ich mich freuen soll oder nicht."

„Kann er sprechen?"

Das dritte Gesicht. Ebenfalls länglich, die Stimme tiefer. Der Zwillingsjunge, auch wenn sein Haar seltsam dunkel erschien.

Ein Arm schob sich unter meinen Achseln durch und zog mich in eine halbwegs sitzende Position. So wie Liska es getan hatte vor einigen Minuten? Stunden? Zeit schien sich gemeinsam mit der Zuversicht verflüssigt zu haben. In jedem Fall mussten mich die Drachenreiter nur kurze Zeit nach meinem Schock gefunden haben, ansonsten wäre ich nicht mehr am Leben.

Ich schien mich an einem Strand zu befinden, Wellen rauschten und prügelten auf das Ufer ein. Immer noch schmerzte der Strich in der Mitte meiner Rippen von den Schlägen der Reiter. Aber sie hatten mir das Leben gerettet. Weshalb eigentlich?

Einige Schritte entfernt drehte sich ein blonder Haarschopf über einem runden Kopf von uns weg. Fischbein hatte noch kein Wort von sich gegeben – nicht, dass es mich sonderlich überraschte.

„Kannst du sprechen?"

Sie meinten mich, oder? Schade, zu gerne hätte ich noch die süße Leere ausgekostet. Nichts sagen, nichts denken, nicht erinnern – warum konnte dieser Zustand nicht bleiben? Trotzdem öffnete ich den Mund. Im ersten Moment fragte ich mich, wie man eigentlich Worte bildete, dann würgte ich sie aus.

„Ja. Liska. Weg."

„Das sehe ich, aber was ist mit ihr?"

Seit wann machte sich Raffnuss Sorgen um Liska? Und aus welchem Grund kniete sie so nahe vor mir? Ich rieb mir die Augen, hoffend, dass sich dadurch alles aufklären würde.

Natürlich verschlimmerte es die Halluzinationen lediglich. Romis Gesicht trat in allen Details zum Vorschein, vom dunkelblauen Rand ihrer Augen über ihr kantiges Kinn bis hin zum Grübchen zwischen ihren Augenbrauen. Rotzbacke verwandelte sich aus irgendeinem Grund in das Oberhaupt der Berserker, Taffnuss in dessen Schwester – nur Fischbein blieb weiterhin außerhalb meines Blickfeldes.

„Ich muss euch im Vorfeld mitteilen, dass ich offenbar an Halluzinationen leide. Dich sehe ich als Romi, dich als Dagur den Durchgeknallten und dich als Heidrun."

Raffnuss zog die Augenbrauen hoch und blickte ihren Bruder an, während Rotzbackes Blick in alle Richtungen huschte, bis er sich schlussendlich entschloss, an mir hängen zu bleiben. Fischbein hielt sich immer noch im Hintergrund, als welche Person er wohl erscheinen würde? Ewigkeiten sagte keiner ein Wort, nur Raffnuss' Finger krallten sich in ihren Oberschenkel. Bis Rotzbacke zu Kichern begann.

„Er ... hihihi ... denkt, wir wären Halluzinationen! HAHAHA!"

Dieses Lachen, diese aufgerissenen Augen und der Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Ausgelassenheit und Wahnsinn, ich kannte ihn. Niemand sonst könnte dieses Lachen nachahmen, zumindest niemand, der nicht ebenfalls sich über diese Grenze lehnte. Doch wenn Dagur real war, dann mussten es die anderen ebenfalls sein. Und das hieß –

„Romi!"

Die Erkenntnis katapultierte mich nach vorne, wir hatten uns wiedergefunden! Ich breitete meine Arme aus und zog sie in eine Umarmung, aber sie drückte mich weg.

„Du solltest liegenbleiben. Die Wunde ... sie blutet immer noch."

Obwohl ich wusste, dass sie es nur als Vorwand benutzte, und obwohl dieses Wissen für gewöhnlich ausgereicht hätte, mich zurück auf den Boden zu treten, blieb ich sitzen und musterte meinen Oberschenkel. Blutige Lumpen umschlangen das Bein auf der Höhe der Wunde und pressten einen Stein darauf. Dieser Druckverband hatte wohl nicht lange durchgehalten. Und obwohl jemand mein Bein hochgelagert hatte, wurde der Stoff feuchter und feuchter.

Romi fluchte, dann packte sie einen zweiten Druckverband drauf. Sie fasste an ihre Hüfte, fand dort jedoch nichts und drehte sich zu Dagur um.

„Rennst du bitte ins Haupthaus und holst meine Medizintasche? Wir werden sie brauchen."
„Natürlich, liebste Romi."

An diese Art von Sprüchen erinnerte ich mich, schon während seiner Zeit bei den Jägern hatte er Romi belästigt. Doch im Gegensatz zu damals ließ sie ihn nicht abblitzen, sondern schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Was wohl zwischen ihnen passiert war?

Viel zu viel Zeit, die ich verpasst hatte und während der Romi gelernt hatte, mich nicht mehr zu brauchen. Nun hatten sich die Rollen verkehrt, nun war ich auf sie angewiesen.

„Warum macht ihr euch solche Mühe? Soll er doch abkratzen!"

Diese Stimme ... ich kannte sie. Sie musste zu dem vierten Kopf gehören, dem Fischbein-Kopf, aber sie klang weiblich und voller Abscheu.

Auf nur einen Menschen passte diese Kombination von Dingen. Aber – Astrid Hofferson hier? Bei Romi und Dagur? Ohne dass sie sich einen Kampf lieferten? Es musste einiges geschehen sein in der Handvoll Tage, die ich mit Liska und den Drachenreitern verbracht hatte.

Irgendwann gab mein Hals nach und mein Kopf plumpste zurück auf den Sand, der sich schon in meinen Haaren eingenistet hatte. Über mir der Himmel, über mir die Wolkenmauer, die uns immer noch im Griff hielt. Ich fragte mich, ob sie uns jemals freigeben würde.

„Ah!"

Feuer an meiner Wange, kurz und scharf. Jemand musste mir eine Ohrfeige verpasst haben.

„Nicht wieder bewusstlos werden!"

In Romis Augen brannte Stahlfeuer, hatte sie es von Liska abgeschaut? Liska. Wo war sie? Ging es ihr gut? Sie durfte nicht auffliegen, auf keinen Fall. Ich hätte sie aufhalten müssen; wie Rotzbacke gesagt hatte, sich hineinzuschleichen funktionierte niemals.

„Viggo!"

Romi schüttelte mich, woraufhin die Gedankenbrocken aus mir heraus und in den Sand kullerten.

„Immer noch, wozu die Mühe? Sein Tod wäre besser, als er verdient hätte."

Romis Kopf drehte sich nach hinten, von mir weg, ihre Finger ballten sich zu im Schoß versteckten Fäusten.

„Ich bin Heilerin und lasse niemanden sterben, wenn ich es nicht verhindern kann."

An ihre Seite trat Heidrun und stemmte die Hände in die Seiten.

„Wehrlose tötet man nicht."

„Sagst du, Frau Ich-zerstöre-Fischkutter. Ich wette, die konnten sich nicht gegen Windfang wehren."

Noch während Heidruns Gesichtsfarbe ins Rötliche abdriftete, legte Romi einen Arm um sie.

„Ich glaube, keiner von uns darf in diesem Punkt urteilen."

Reiker hatte mich ebenso verteidigt. Immer hatte er das, gleich welches Thema, gleich gegenüber wem. Bis ich ihn fallen gelassen hatte für Liska und Romi. Wen wunderte da noch seine Eifersucht auf Romi oder dass er mir nichts von seiner Begegnung mit Liska erzählt hatte?

Gegen meinen Nacken drückte die Pergamentrolle, ich musste sie unbedingt den Drachenreitern überreichen. Möglicherweise konnte ich den Anwesenden davon erzählen, die Flotte der Berserker würde sicherlich eine gewaltige Unterstützung darstellen. Aber dann würde Romi mitkämpfen wollen, sie würde in Gefahr geraten, vielleicht würde ich sie sogar endgültig verlieren. Ich musste eine andere Lösung finden.

Der Blutfleck auf dem Verband wuchs nicht weiter an, sehr gut. Doch an so einer unter Spannung stehenden Stelle würde sicher einige Zeit vergehen, bis ich normal laufen konnte – falls nicht noch tiefere Schäden entstanden waren. Versuchsweise beugte und streckte ich das Bein. Es ließ sich bewegen, wenn ich die Schmerzpfeile ignorierte, die sich bis in meine Hüfte bohrten. Der Biss hatte also keine Sehnen beschädigt.

Der Funkengesang schüttelte seine Flügel aus, woraufhin alle sich zu ihm umdrehten. Ihre Blicke glitten über die schillernden Muster, über den schlanken Körper, wanden sich um die metallenen Stacheln an seinem Hinterkopf.

„Was ist das für ein Drache?"

In der Stimme der Berserkerin vibrierte Ehrfurcht, ihr Mund formte ein Oval. Auch ihr Drache gehörte zu einer ähnlich gefährlichen Art, wenn ich mich recht erinnerte.

„Statischer Todsinger. Das Mistvieh hätte beinahe Sturmpfeil gefressen."

Aus welchem Grund sollte es auch einen Punkt geben, der Astrid nicht dazu brachte, mich zu hassen?

„Der, wegen dem wir auf den Marktinseln Kräuter besorgen sollten?"

Ein knappes Nicken von Astrid.

„Fischbein würde vor Begeisterung im Kreis springen, würde er ihn sehen. Ich weiß noch, wie er mir seitenlange Briefe über den Brüllenden Tod geschrieben hat."

Heidrun kicherte, doch niemand stimmte ein und das Kichern verhallte. In dieser Gesellschaft überlebte Lachen nicht lange. Sie räusperte sich, aber immer noch reagierte niemand. Zwischen den Wolken spähte ein Sonnenstrahl hervor und brachte ihren Rock zum Glänzen. Lichtflecken krochen aneinander vorbei, als sie das Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Selbst als ich die Augen schloss, drifteten sie durch die Leere, wo sie die Schmerzblitze einhüllten und in sich aufnahmen, sie aufweichten und beruhigten.

„Ihr befindet euch nicht zufällig im Besitz eines Schrecklichen Schrecken? Ich würde Liska gerne eine Nachricht zukommen lassen."

Selbstverständlich würde die Nachricht nicht an Liska gehen, ein Brief von mir würde sie umbringen können. Doch wenn ich die Wahrheit sagte, würde man mir entweder nicht glauben oder sie würden unzählige schmerzhafte Fragen auf mich loslassen.

„Liska?"

Aus Astrids Mund klang ihr Name wie ein Insekt mit viel zu vielen Beinen und einer unangemessenen Größe.

„Der kennt sie also auch?"

Sie kniff die Augenbrauen zusammen.

„Na ja, mich wundert mittlerweile gar nichts mehr. Wahrscheinlich sind sie auch noch verlobt oder so."

„Damit liegst du in der Tat richtig. Wir sind verlobt, allerdings haben wir uns einige Jahre aus den Augen verloren."

Schon nach den ersten drei Worten verfluchte ich mich dafür, dass ich nicht einmal still bleiben konnte. Denn Astrid beugte sich zu mir herunter, ihre Miene gleich der Liskas, als sie mich verraten hatte. Die Miene eines Menschen, der einen im nächsten Augenblick eine Klippe hinunterwerfen würde und jeden Augenblick davon genoss. Nur, dass es hier nicht gespielt war.

„Tut weh, nicht wahr? Tut weh, jemanden zu verlieren, den man liebt."

Sie trug keine Waffe, doch das würde sie nicht aufhalten. Astrid würde mich mit Worten und notfalls auch mit ihren Nägeln in Stücke reißen. Jedes Wort würde mir einen weiteren Schnitt zufügen, bis ich zusammenbrach, bis ich genauso l blass sein würde wie Reiker, so schlaff wie Hicks, so unkenntlich wie die Leichen auf der Versammlung, so fort wie meine Eltern.

Und sie würde Recht haben, mit jeder einzelnen Anschuldigung.

„Wie fühlt es sich an, jemandem genau das zuzufügen, woran man selbst gelitten hat?"

Wieder fraß sich Blut in den Stoff hinein, wieder sickerte Leben aus mir heraus. Ein Staubkorn setzte sich auf meinem Bein zur Ruhe, auf dem rotgetränkten Bein über dem hellen Sand. Weißinrotinweiß, auch wenn es keine Axt gab, auch wenn ich mir sagte, dass ich nichts zu befürchten hatte; die Zähne hatten keine großen Adern verletzt und erst recht nicht meinen Rücken gespalten, Romi würde mich versorgen; doch ich sah nur das Staubkorn und den Blutkreis und den Sand, weißinrotinweiß.

„Astrid, hör auf."

„Stellst du dich jetzt auch auf seine Seite? Wir sind Freundinnen, Heidrun! Wie kannst du so etwas sagen?"

„Genau deshalb kann ich so etwas sagen! Es tut dir nicht gut, es bringt dich wieder genau dorthin, wo du vorher warst. Glaub mir, ich weiß, wohin Rache einen führen kann."

„Und was, wenn es mir egal ist?"

Sie verschränkte die Arme, doch Heidrun legte die Hände auf ihre Schultern.

„Das glaube ich dir nicht."

„Dann irrst du dich eben!"

„Sicher? Denke an die Höhle, an den Kristall und sage es mir noch einmal. Dann glaube ich dir."

Astrid stolperte einen Schritt nach hinten, ihr Mund öffnete sich einen Hauch. Sie sagte nichts. Irgendwann ließ sie ihre Arme sinken und setzte sich ein Stück entfernt hin. Ihre Knie formten einen Wall vor ihr, einen steilen, spitzen Wall. Doch immerhin schnitt sie keine weiteren Wunden.

Romis Hände drückten auf meinen Oberschenkel, rostrote Farbe setzte sich in den Rillen ihrer Finger fest. Die Blutung staute sich.

Wie schmal ihre Finger waren, so völlig anders als Reikers oder die meinen. Die Knie hatte sie sorgsam untergeschlagen, die Schultern streiften beinahe ihre Ohrläppchen und ihr Blick wich nicht von dem Verband ab. Kein einziges Mal hatte sie bisher in meine Augen geschaut, wollte sie den Kontakt mit mir vermeiden? Vorgaukeln, ich wäre nicht hier, nicht zurückgekommen, obwohl sie mich fortgeschickt hatte?

Nicht, dass es freiwillig gewesen wäre.

Ich fröstelte, doch es lag nicht am nassen Sand, auch nicht am feuchten Wind. Vermutlich hatte ich zu viel Blut verloren, ich würde mich eine ganze Weile ausruhen müssen. Dabei wollte ich die Drachenreiter unterstützen, Krogan von hier vertreiben und Romi beschützen. Fürs Erste würde das wohl nicht zur Auswahl stehen.

Abermals verlangsamte sich das Wachstum des Kreises, bis der rote Rand nur noch millimeterweise vorankroch. Die Umgebung der Wunde pochte, als wolle sich mein Herzschlag durch Schmerzen bemerkbar machen, um bestehen zu können. Alles strömte auf diesen einen Fleck hin, der Biss hatte sich meines Empfindens bemächtigt, nur noch er existierte. Aber immerhin fraß er mich nicht mehr auf, hatte sich zufrieden gegeben mit dem, was er mir schon genommen hatte.

Doch immer noch schlugen sich mit jedem Herzschlag die Zähne des Funkengesangs in mein Fleisch.

Eine Hand drückte Romis Schulter und sie blickte zu Dagur auf. Lächelte ihn an. Schon wetzte die Eifersucht ihr Messer, streckte es mir entgegen, da erinnerte ich mich, wozu sie mich bereits getrieben hatte.

„Das ist alles, was ich gefunden habe. Ich hoffe, es reicht."

Der Wahnsinn hatte sich aus seinem Gesicht gelöst, um seinen Mund lag eine Aufrichtigkeit, die ich nie bei ihm gesucht hätte.

„Das ist perfekt, danke."

Wie viel hätte ich gegeben, um diese Sanftheit an mich gerichtet zu hören! Doch diese Chance hatte ich verspielt.

„Ich werde jetzt die Wunde reinigen und sie anschließend nähen."

Sie hielt ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit gegen das Licht. Schnaps vermutlich, wenn auch nicht mehr als ein zwei Fingerbreit.

„Ein bisschen wenig, aber es muss reichen."

Mit diesen Worten schob sie ihre Nägel zwischen die Schlingen des Knoten und pulte ihn auf. Eine Lage nach der anderen wickelte sie ab, blutgetränkter Stoff kräuselte sich auf dem Sand. Ich versuchte, die Farben zu verdrängen, doch das Rot und das Weiß verschmolzen mit Reiker, ein Bein wurde zu einem Rücken und –

Klänge. Funkenblasen perlten auf und wuschen das weißinrotinweiß fort, übertönten das Herzschlagbeißen und umschwirrten meinen Kopf, bis ich nichts mehr sah, nichts mehr fühlte. Dann waren sie fort.

Doch sie hatten den Schmerz mitgenommen, zumindest für eine kurze Zeit, und während Astrid knurrte und die Berserker die Hände immer noch nicht von den Ohren nahmen, nutzte Romi die Lage aus.

Schnaps tropfte in die Bisslöcher und mit einem Mal verstand ich, woher die Bezeichnung „Feuerwasser" gerechtfertigt war. Aber Feuer war gut. Feuer reinigte, wenn auch durch Brennen, Brennen, Brennen. Dann folgte der nächste Schluck und meine Zähne klemmten sich zusammen, aber sie konnten das Feuer nicht aufhalten. Es drang durch die Wunde ein, entflammte meinen Körper, bis es keine Nahrung mehr fand und erlosch.

Beim dritten Mal sagte ich mir nicht mehr, dass der Schmerz nötig sei. Ich wünschte mir lediglich, er solle aufhören, Romi solle aufhören, bestand hierin ihre Rache für all das Leid, das ich über die Reiter gebracht hatte?

Beim vierten Mal wimmerte ich, woraufhin Astrid schnaubte, freute sie sich über meine Qual? Empfand sie Genugtuung? In ihrer Lage hätte ich es getan oder zumindest hätte es der alte Viggo. Doch wohin das führte, erlebte jeder an diesem Strand.

Ich wappnete mich für einen fünften Feuersturm, doch er blieb aus. Vorsichtig blinzeln. Es hatte wohl aufgehört. Am Himmel formten sich Wolken zu Krogans Gesicht, lachte er mich aus? Axt. Reiker röchelte. Weißinrotinweiß.

Stopp. Augen öffnen. Da waren nur Wolken. Kein Krogan, kein Reiker.

Aber die Bilder blieben.

„... wieder blass ..."

„... Blick ... glasig ..."

„Aufwachen!"

Wieder peitschte etwas gegen meine Wange, doch zu Romis Stahlfeuer mischte sich Besorgnis. Kleiner Strich zwischen ihren Augenbrauen. Noch etwas, das sich früher nicht an ihr gezeigt hatte.

„Viggo!"

Ihre Stimme ... so hoch.

„... viel Blut verloren ..."

„... nähe ... eben ..."

Feuernadelnbeinheißglühendstich! Mein Oberkörper schnellte in die Höhe, Schreie zerrissen die Bilder, meine Schreie, doch schon war es vorbei. Der Schmerz hatte mich zurückgeholt von der Nebelgrenze zwischen Bewusstsein und Ohnmacht.

„Offenbar war deine Ohrfeige wohl nicht stark genug", kicherte Dagur und Romi schnaubte ein Lächeln hervor.

„Ich brauche noch drei Stiche."

War sie immer so ruhig geblieben, als sie im Lazarett ausgeholfen hatte? Hatte den Schmerzen ihrer Patienten ein glattes, konzentriertes Lächeln entgegengestellt; ein Lächeln, an dem man abrutschte; ein Lächeln, das die wahre Romi hinter der Ärztin verbarg.

Noch ein Nadelstich und wieder schrie ich, als könne das die Nadel vertreiben. Romis Finger drückten meine Schultern nach unten, schmal, aber bestimmt, weiße Striche der Entschlossenheit. Noch immer schaute sie mir nicht in die Augen, ihr Lächeln prallte lediglich gegen meine Nase. Hatte sie aufgehört, mich als ihren Bruder zu sehen? Wollte sie verdrängen, wer ich war, nur die Wunde sehen, die versorgt werden musste und nicht den Menschen dahinter?

Romi.

Meine Schwester.

Verlor ich sie?

Wie würde sie reagieren, wenn sie mich verlor? Hier und jetzt, wenn die Naht nicht ausreichen würde, um das Leben in mir einzusperren? Würde sie um mich trauern oder würde sie mit den Schultern zucken und weitermachen?

Wolken quollen auf. Nebelschwarz. Gedankenwolken?

Zwischen ihnen blasse Linien, begrenzten sie, hielten sie an Ort und Stelle. Schmale, weiße Striche, beinahe wie Finger.

Blitz! Rotglühend, durchbohrte die Wolken, brannte meinen Atem fort, spaltete mein Bein.

Mein Bein ...

Weshalb war es so taub? Hatte jemand es durch einen Schneeblock ersetzt? Ein Schneeblock, durch den sich ein Feuerschlange nagte.

Ich blinzelte. Kein Schneeblock, sondern rot. Doch nur das eine Hosenbein, weshalb hatte ich so eine merkwürdige Hose angezogen? Fingerspitzen strichen über meine Stirn, so warm. Ich wollte nachsehen, von wem sie stammten, doch meine Lider hatten sich wieder gesenkt, drängten mich zurück in die Nebelwolken.

Noch ein Blitz. Weit weg, kaum mehr als ein roter Faden.

Dann erlosch er.

Und ließ mich im Nebel zurück.

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