Kapitel 30: Wildschweintod und Feuerdurst
Viggo
„Pass auf dich auf."
Ein letztes Mal drückte ich Liska an mich, bevor ich sie mit einem Kuss auf die Stirn losließ.
„Ich hatte schon schwierigere Aufträge."
Ihre Augen grinsten, als sie mir zuzwinkerte und sich umdrehte. Sie schwang sich auf den Riesenhaften Alptraum, ihr Umhang flatterte in einem Bogen hinter ihr her. Wenn sie ihn nur dalassen würde! Er würde ihre Bewegungen lähmen und sie zum Meeresgrund ziehen, aber sie hatte auf ihn bestanden. „Welcher Assassine würde schon ohne Umhang aufkreuzen?", hatte sie geknarzt. Diskussion beendet. Meine Sorgen hatte sie allerdings nicht abwürgen können.
So lange hatten wir uns nicht gesehen, ich wollte sie nicht wieder verlieren.
Deshalb blieb mir das „Das weiß ich doch" im Hals stecken. Abermals erlebte ich, wie Erkenntnis einen Gedanken zu Eissplittern explodieren ließ, die sich durch mein Herz fraßen. Denn ich würde die Schuld für alles tragen, was Liska zustieß.
Ich legte den Kopf in den Nacken, strich mit den Händen über mein Gesicht. Eine Tanne neigte sich über mich und ich suchte mit einer Hand Halt an ihrem Stamm. Doch sie konnte nicht verhindern, dass die Eissplitter bei jedem Herzschlag weitere Muskelstränge zerschnitten. Sie konnte nicht verhindern, dass wieder Säure meinen Hals entlangbrandete und meine Stimme zu Brei auflöste.
Jemand legte einen Arm um meine Schultern. Es wäre eine rührende Geste gewesen, hätte ich nicht Anlass zu der Vermutung, dass es nicht mit meinem Zustand zusammenhing. Der Zwillingsjunge schien kein Gespür für so etwas zu besitzen, es musste also einen anderen Grund geben, weshalb er sich zu mir hin beugte.
Seine Augen flackerten zur Seite, wollte er ungehört bleiben? Vielleicht hätte ich die Antwort gefunden, doch in dem Moment donnerte die Säure in meinen Bauch. Keine Reaktion zeigen. Nicht stöhnen, nicht zusammenkrümmen, nicht die Hände verkrampfen. Immer Gefasstheit zeigen. Auch wenn die Geliebte davonflog und man ahnte, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.
„Hey."
Die Zwillinge schienen kein Gefühl für angebrachte Distanzen zu haben. Erst hatte das Mädchen mich mit einer Handbreit Abstand zwischen uns angebrüllt, nun klebte der Junge an meinem Ohr.
„Super Plan."
Freude über das Lob flüsterte in mir auf, doch sie wurde sofort von der Säure verschlungen. Außerdem zeigte der Junge immer noch kein Interesse, mich loszulassen. Ein höflicher, aber kühler Satz hätte wohl Wirkung gezeigt, doch der Stimmbrei schwappte nur kurz in meinen Rachen, bis er wieder in sich zusammenfiel.
„So viel Spaß hatten wir seit Langem nicht mehr. Ich sollte dich in unseren Klub der Zum-Lachen-Bringer aufnehmen."
Jetzt musste ich lachen, wenngleich nicht mehr als ein Prusten herauskam. Viggo Grimborn, ein Unterhalter. Absurde Vorstellung. Und – meinte der Junge ernsthaft, das Ziel meines Plans wäre gewesen, die Reiter wieder zum Lachen zu bringen? Sollte ich ihn aufklären? Allerdings würde das wahrscheinlich nichts nutzen.
„Ich könnte Raffnuss stattdessen rauswerfen! Sie ist in letzter Zeit sowieso mies drauf, also hat sie ihr Anrecht auf den Posten verwirkt!"
Er legte den Kopf schief.
„Aber verrat ihr nichts davon. Streng geheim!"
Mit diesen Worten schlich er davon – auf Zehenspitzen und über alle Maße auffällig. Wie hatte Hicks es nur mit diesen ... Schafsköpfen ausgehalten? Nicht dass meine Jäger sonderlich intelligent gewesen wären, aber sie hatten mich immerhin nicht mit ihrer Dummheit belästigt.
„K-k-kommst du?"
Fischbein stand hinter mir, die Hand ausgestreckt, als wollte er mir auf die Schulter tippen, hätte sich dann aber doch nicht getraut.
„Natürlich. Ich nehme an, dass ich mit dir zusammen auf deinem Drachen fliege?"
Er straffte sich.
„J-ja. Das erste Mal alleine einen Drachen zu reiten, läuft meist nicht so gut und wir wollen die Mission schließlich nicht gefährden."
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Du hast Recht, das wollen wir nicht."
Als ich an ihm vorbeiging, wich er zurück, als wolle er jede Berührung vermeiden. Das Gronckelweibchen knurrte mich an. Roch sie die gefangenen Drachen an mir?
„Fleischklops, ruhig."
Er kniete sich neben sie.
„Mir gefällt das genauso wenig, aber wir müssen da durch."
Erstaunlich, die Ähnlichkeit zwischen den Drachen und ihrem jeweiligen Reiter. Nun, sie hatten sich wohl jene Art ausgesucht, die am besten zu ihnen passte. Dennoch konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich den dicken, weichen, braun gekleideten Fischbein mit dem Gronckel schmusen sah.
„Fischbein ist ja da, mein Engel. Ich passe auf, dass dir der böse Mann nichts tut."
Das schlug ins Gesicht und zwar kräftig. Andererseits, was hatte ich erwartet? Für die Drachenreiter würde ich immer der böse Mann sein. Ich hatte ihren Anführer, ihren Freund umgebracht. Und ich war nicht hier, um Freundschaften zu schließen, sondern um Romi zu beweisen, dass ich mich geändert hatte.
Rotzbacke drückte mir einen Beutel in die Hand.
„Rehfleisch. Du wirst eine Weile warten müssen."
Auch er vermied es sorgfältig, mich zu berühren. Den Beutel befestigte ich an dem Riemen, der einst mein Schwert getragen hatte. Ob es immer noch auf unserer Insel lag, rote Rubine im weißen Schnee?
Bestimmt war der Schnee längst geschmolzen.
Wieder sah ich weißrotweiß, ein weißer Körper in einer Blutpfütze im Schnee. Ich schloss die Augen und schüttelte das Bild weg. Was sie wohl mit Reikers Leiche gemacht hatten? Hoffentlich hatten sie ihn anständig bestattet.
Es brauchte zwei Versuche, bis ich auf den Gronckel geklettert war. Als ich meine Hände auf Fischbeins Schultern legte, zuckte er zusammen. Dann hoben wir ab.
Der Flug auf dem Gronckel verlief deutlich angenehmer als auf dem Alptraum. Die Flügelchen sirrten durch die Luft und wir schwebten gleichmäßig voran. Keine Spur von dem Geschaukel, das meinen Magen gequält hatte. Nur die fehlende Geschwindigkeit konnte ein Nachteil sein. Für Touren mit Kindern wäre der Gronckel allerdings perfekt.
Neben uns schnellte der Nadder durch die Wolken, überholte uns immer wieder und ließ sich zurückfallen. Wo sich Astrid wohl herumtrieb? Romi hatte erzählt, sie wolle sich an ihr rächen und Liska hatte dies noch bestätigt. Die Götter mussten verhindern, dass sie Romi fand.
Am Horizont wuchs die Insel heran, ein Schiff ankerte an ihrer Seite. Wir machten einen Bogen zum abgewandten Ufer, wo Fischbein dem Drachen gegen die Flanke klopfte. Daraufhin begannen wir, zu sinken, auch der Nadder tauchte ab.
Die Wildschweininsel hatten die Drachenreiter es genannt, ein Name, der mir kein Vertrauen einflößte. Genauso wenig wie der penetrante Gestank und der zerwühlte Boden. Sie schienen oft in diese Bucht zu kommen und ohne Waffen würde ich mich nicht gegen sie wehren können. Immerhin blieb der Nadder bei mir.
Fischbein rutschte vom Gronckel herunter und legte eine Hand auf die Schnauze des Nadders, der mich mit Schlitzpupillen und gespreizten Stacheln beäugte.
„Sturmpfeil, du musst auf ihn aufpassen."
Der Drache krächzte und legte den Kopf schief. Dann klappte er die Stacheln ein.
„Feines Mädchen. Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen."
Fischbein nickte mir zu, bevor er wieder davonflog. Kaum war der Gronckel zu einem Punkt geschrumpft, legte sich der Nadder hin und kringelte seinen Schwanz um sich. Tannenäste schleiften über den feuchten Boden, eine Brise fegte das Meerwasser gegen die schroffen Felsen. Vereinzelte Regentropfen klatschten in mein Gesicht. Das hier würde mal wieder eine sehr kalte Nacht werden. Schon jetzt reichten die Sonnenstrahlen nicht mehr hierher, dabei war die Sonne nicht einmal untergegangen – auch wenn das schon bald geschehen würde. Ich riss einige Arme voll Tannenzweige ab, legte sie zu einem Lager zusammen, setzte mich mit verschränkten Beinen darauf und packte das Rehfleisch aus.
-°-°-°-°-°-
„Und was machst du, wenn die Wildschweine kommen?"
Ich blinzelte. Vor mir bohrte sich ein Paar Stiefel in den Boden. Liska hatte einen Arm in die Seite gestemmt, unter dem anderen trug sie ein Bündel. Stöhnend wälzte ich mich auf die Seite und stemmte mich in eine sitzende Position. Liska grinste mich an, mit nass herabhängenden Haaren und einer keck hochgezogenen Augenbraue.
„Dann hoffe ich, dass du zur Stelle bist, um mich zu retten."
Sie lachte und zog mich hoch. Ihr Umhang verschmolz mit der Nacht und hüllte ihren Körper in Dunkelheit, aber das Mondlicht brachte ihr Gesicht zum Schimmern.
„Pass lieber auf, dass ich nicht dich versehentlich erwische."
„Wieso denn das?"
Gerade noch rechtzeitig riss ich meine Arme nach oben.
„Seit wann schmeißt du mich mit – ein Bärenkopf?"
Ich hob ihn in die Höhe. Das Ding fletschte die Zähne, an seinem Nacken hing der Rest des Felles.
„Sollte ich mich nicht als Soldat verkleiden und nicht als tierische Attraktion?"
„Sollst du auch. Das hier hat einer als Helm getragen."
„Die tragen Bärenköpfe als Helme?"
„Nicht alle. Sie scheinen von vielen Orten zu kommen, der Besitzer dieses ... Stücks wohl aus dem hohen Norden. Ich dachte, der lenkt von deinem Gesicht ab."
Kopfschüttelnd lachte ich.
„Das wird er sicherlich."
Sie legte den Kopf schief, dann streckte sie mir etwas entgegen. Romis Anhänger.
„Hier. Nimm."
„Du brauchst ihn doch!"
„Ich habe ihn schon vorgezeigt. Sie haben mir geglaubt – was sich schon daran zeigt, dass ich vor dir stehe und nicht auf dem Grund des Meeres liege."
„Was ist mit dem Soldaten?"
„Der wird uns keine Probleme machen."
„Bitte sag, dass du ihn nicht umgebracht hast."
„Wozu? Damit er uns auffliegen lassen kann? Damit wir ihn später umbringen müssen oder er uns?"
Sie starrte mir in die Augen.
„Du hast dich verändert."
Wahrscheinlich hatte ich das. Denn ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, ob auch hinter jenem Mann eine Familie stand, die einen Teil von ihr verloren hatte; Freunde, die seine Abwesenheit zerreißen würde; ein Dorf, das um ihn trauern würde. Aber Liska würde das nicht verstehen.
„Ich will nur, dass wir uns genauestens an den Plan halten. Wenn sie seine Leiche finden, fliegen wir auf."
„Tun wir nicht. Ich habe sie in eine Wildschweinhorde geworfen. Es wird so aussehen, als hätten sie ihn getötet. Niemand wird an Gift denken."
Ein schlauer Zug und sicherlich das Beste für unser Gelingen. Also warum konnte ich den Gedanken an Reiker nicht abschütteln? Mit seiner Leiche waren sie sicherlich würdevoller umgegangen, Krogan wollte ihn als Märtyrer darstellen und darüber hinaus war er beliebt bei den Jägern. Trotzdem sah ich ihn zerfetzt von Hauern und – Schweine waren Allesfresser.
Ruhig bleiben. Keinen Ekel zeigen. Würgereiz unterdrücken.
Ich durfte keine Diskussion mit Liska anfangen, nicht jetzt. Auch wenn ich einen ersten Mauerstein zwischen uns wahrnahm.
„Ich muss wieder gehen. Warte du noch eine Weile, sie sollen nicht ahnen, dass wir etwas miteinander zu tun haben."
Mit diesen Worten schlang sie ihre Arme um meinen Körper und küsste mich. Dann war sie weg. Und während ich die Kette umhängte, fragte ich mich, warum ich sie hatte gehen lassen.
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Schon immer hatte ich gewusst, weshalb ich mich von den einfachen Jägern ferngehalten hatte. Jetzt stellte sich heraus, Soldaten verhielten sich nicht besser.
Alkohol-, Urin- und Schweißgestank prügelte auf mich ein; Männer grölten schmutzige Lieder und begruben einander unter Beleidigungen in mindestens fünf verschiedenen Sprachen. Ein Besoffener schaufelte auf den Boden gekippten Brei auf, jemand zog mich am Arm und forderte mich auf, mein Geld auf den Ausgang einer Schlägerei zu setzen. Als ich ablehnte, klopfte sie mir auf den Rücken und beugte sich näher zu mir hin.
„Ach komm schon, sei mal ein bisschen locker", raunte sie mir zu, „Wenn du weiterhin so kultiviert tust, werden sie denken, du seist ein Spion."
Mit Mühe brachte ich ein raues Lachen heraus.
„Du beobachtest mich schon länger, nicht wahr?"
Ihr Grinsen reichte fast an Liskas heran. Aber ihre Stimme klang genauso wie Romis.
„Man sieht auf den ersten Blick, dass du dich hier nicht wohlfühlst. Du gehörst zu Erets Mannschaft, nicht wahr? Oder zu Meldoy? Die ist nämlich gleich da drüben, wenn du sie suchst."
„Eret."
„Wo der ist, weiß ich nicht. Wenn du mich entschuldigst, ich muss jetzt nach meiner eigenen Mannschaft schauen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich besaufen, anstatt die Schäden am Schiff zu reparieren, wie ich ihnen aufgetragen habe."
Gut. Sie sollte weggehen. Nicht nur, weil jeder, mit dem ich sprach, eine weitere Gefahr für das Gelingen der Mission darstellte, sondern weil ich alleine sein sollte. Weil ich es nicht aushielt in all dem Brutalitätschaos, weil die Sorge um Liska, hervorgerufen von der Ungewissheit und den Schuldgefühlen nicht nur an mir nagte, sondern Stücke aus mir herausriss und die Erinnerung, die die Stimme der Frau hervorzerrte, den Rest vergiftete.
Warum befand ich mich hier, obwohl ich lediglich mit Liska und Romi in einem Zelt sitzen wollte und hören, wie der Regen an den Planen herabsickerte, wie er uns nichts anhaben konnte, weil wir beisammen waren. Hören wollte, wie unser Lachen die Welt wegschmolz, kaminfeuerwarm, wie Liska und Romi mich aufzogen, wie die Flammen knisterten und prasselten und raunten und uns versprachen, dass sie uns immer warmhalten würden.
Schon einmal hatte ich all das besessen, aber Glück war nicht viel beständiger als eine Pusteblume. Irgendwann endete der Sommer und sie musste verwehen, aber wenn man nicht aufpasste, zerstörte man sie schon früher. Liska hatte mir das Leben entrissen oder das Schicksal oder die Götter oder wer auch immer, aber Romi hatte ich selbst davongestoßen. Den letzten Rest Glück, der mir noch geblieben war, hatte ich vernichtet.
Mit einem höflichen Lächeln entfernte ich mich von der Frau und als mir jemand einen Krug Bier andrehte, lehnte ich nicht ab. Es folgte der nächste und dann noch einer und einige Gläschen ekelhaften Schnaps, aber das war egal, denn der Alkohol weichte meine Gedanken auf, verflüssigte meine Zweifel, Schuld und alles, was mich auffraß, bis die Stimmen in meinem Kopf verstummten und nur noch Fackellichter tanzten, bis mein Körper sich auflöste und ich nur noch eine Stimme war, die mit den anderen Männern johlte, kein Viggo mehr, kein Monster, kein Mörder, nur noch Nachtlachen und Feuerdurst und Brüllvergessen.
Leute klopften mir auf den Rücken und einer zerrte an meinem Kragen und dann kamen die Schläge, seine, meine und obwohl es nicht Krogan war, fühlte es sich verdammt gut an. Dann fragte ich mich, warum ich auf einmal ‚verdammt' dachte, ich dachte nie ‚verdammt', aber es passte doch, denn auf einmal lag ich auf dem Boden und wieder bohrte meine Nase Schmerznadeln in meinem Kopf und ich lachte darüber, wie sich alles wiederholte, während Blut aus ihr heraussickerte.
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Ich hatte einen Hammer abbekommen. Auf den Schädel. Eigentlich ein Wunder, dass ich überlebt hatte, aber von etwas Anderem konnte das Dröhnen nicht herrühren.
Au. Nicht denken. Gedanken verstärkten es nur.
Mein Schädel platzte. Zu viele Gedanken. Zu hell. Zu laut.
Wo war ich?
Nass. Mein Kopf triefte und ich schnappte nach Luft. Mit einem Eimer Wasser weckte man normalerweise nur Leute, die sich betrunken hatten. Hatte ich mich betrunken?
Nachtlachen und Feuerdurst und Brüllvergessen.
Ja.
Verdammt.
Bevor ein weiterer Eimer Wasser nachfolgen konnte, setzte ich mich auf, was das Innere meines Kopfes in einen gleißenden Lichtball verwandelte, der seine Begrenzungen zu sprengen versuchte. Nie hätte ich erwartet, dass Licht schmerzen könnte, aber jeder einzelne Strahl bohrte Löcher in mich hinein, verwandelte Gedanken, Sinneseindrücke in pure Qual. Der Ball dehnte sich weiter aus und ich meinte, Knochen mahlen zu hören, haarfeine knackende Risse, die sich zu Schluchten ausdehnen würden und alles freilegen, was sich darunter befand. Das Licht, die zischenden Gedanken, das Monster.
Der Mann vor mir, ein Hüne mit geleckten schwarzen Haaren und Tätowierungen auf der Wange, blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf mich herab.
„Du meintest also, du gehörst zu meiner Mannschaft? Wie kommt es dann, dass ich dich nie gesehen habe?"
Er zog ein unterarmlanges Schwert hervor, die Spitze zeigte in meine Richtung. Lauffeuer aus Panik tosten durch meinen Körper, wollten ausbrechen und mich davonpreschen lassen, aber ich schluckte sie herunter und trat sie aus. Noch war nichts verloren, auch wenn ich staubkornkurz vor dem Abgrund schwebte.
Ich presste eine Hand an meinen Kopf – oder eher an den Bärenhelm – und kniff die Augen zusammen. Der Lichtball schrumpfte ein wenig, sodass er gerade noch in meinen Schädel hineinpasste und die Knochen nicht mehr zu bersten drohten.
„Na, wenn man so viel gebechert hat, ist das wohl kein Wunder."
Die Stimme des Mannes klang jung und großspurig.
„Da kann man schon mal behaupten, dass man zum besten Drachenfänger der Welt gehört!"
Eindeutig großspurig.
„Aber ehrlich, zu wem gehörst du wirklich?"
„Meldoy", quetschte ich hervor, während ich schwankend aufstand.
„Ah, die ist auf einem anderen Schiff. Verfluchte Drachenreiter, als wäre dieses Geschäft nicht schon hart genug!"
Hätte sich der Feuerball nicht bei jedem Versuch eines Gedankens weiter ausgedehnt, hätte ich ein Dankesgebet zu den Göttern geschickt.
„Zum Glück will Drago alle auslöschen."
Das Gebet nahm ich wieder zurück. Um die Reiter wäre es mir nicht schade gewesen, wahrscheinlich sogar die beste Lösung für sie, nach dem, was ich ihnen angetan hatte. Aber dieser Drago würde keinen Unterschied machen zwischen ihnen und Romi. Wie der Mann, bei dem es sich vermutlich um den sogenannten Eret handelte, so deutlich ausgedrückt hatte: Drago wollte sie alle auslöschen.
„Du kannst mir solange helfen, das hier zu Ragnar zu bringen."
Er stopfte mir eine Papierrolle in die Hand. Was sich wohl in ihr befand? Baupläne für Schiffe, Briefe, Pläne, die den Untergang der Reiter besiegelten? Es spielte keine Rolle. Die Zeichen in ihrem Inneren versteckten sich vor mir, unter keinen Umständen würde ich sie lesen können, ohne die Rollen zu öffnen. Ich hörte sie mich auslachen, winzige eckige Biester mit einem Wesen so tintenschwarz wie sie selbst, sie und das Wachssiegel, das mir den Weg versperrte. Wie grausam, dass ich womöglich den Schlüssel zu Romis Rettung in der Hand hielt, ihn aber nie würde einsetzen können ... es sei denn, ich stahl die Rolle.
„Danke. Mache ich. Ich weiß, wo er sich befindet."
Ganz abgesehen davon, dass jedes Wort mir eine Keule gegen den Hinterkopf krachen ließ, entsprach Letzteres nicht der Wahrheit. Ich log nicht gerne, wortlose Täuschung und irreführende Andeutungen waren mir deutlich lieber, aber hier handelte es sich nicht um ein Spiel. Romi war in Gefahr, ich musste sie beschützen.
„Na dann, danke dass du mir die Arbeit abnimmst. Nachher sind es schlechte Nachrichten und Ragnar ist zwar nicht ganz so schnell mit Brandnarben wie Drago, aber ich würde mich trotzdem nicht darauf verlassen."
Mit diesen Worten steckte er das Schwert zurück und stolzierte davon. Durch Angst erhielt Drago also die Ordnung in seiner Armee aufrecht ... interessant. Sowohl Krogan als auch dieser Eret zitterten sichtlich vor ihm und das, obwohl sie fähige Männer waren. Eventuell ließ sich das ausnutzen. Wenn man verängstigten Leuten eine verlockende Alternative bot, Sicherheit und ein glücklicheres Leben, dann wechselten einige die Seiten. War die Angst allerdings zu groß, würden sie sich weiterhin wegducken, um nicht aufzufallen und seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Erst einmal allerdings die Rolle verstauen. Der Bärenhelm eignete sich einwandfrei dafür, hinter meinem Nacken fand ich eine Lücke, in der sich das Pergament problemlos verstauen ließ. Mit dem Lesen würde ich mich gedulden müssen, bis Liska und ich das Schiff verlassen hatten. Würde ich vorher mit der ungeöffneten Rolle erwischt, könnte ich mich immer noch damit herausreden, in meinem Zustand Ragnar nicht gefunden zu haben. Mit einem geöffneten Wachssiegel würde ich als Spion hingerichtet werden.
Ich rubbelte mir den Schlamm ab, auf dem weißen Umhang blieben allerdings Streifen zurück. Wenn man sich einmal schmutzig gemacht hatte, konnte man den Dreck wohl nicht mehr von sich herunterbekommen. Selbst durch die Befreiung von Drachen und den Diebstahl von Pergamenten nicht.
In einigen Metern Entfernung schritt ein kräftiger Mann in meine Richtung. Vor ihm teilte sich das Chaos, alle wichen zurück und streckten sich. Den kräftigen Farben seiner Rüstung und der angespannten Haltung der Leute nach zu urteilen, handelte es sich hier um einen Anführer, womöglich diesen Ragnar. Auch ich hastete nach hinten, quetschte mich zwischen einen Mann mit knielangem Bart und eine Frau, deren Kopf an einen Würfel erinnerte. Schräg hinter Ragnar stakste Liska, ihr Gesicht ausdruckslos wie immer und doch strahlte sie eine Grausamkeit aus, die ich selten bei ihr gesehen hatte. Selbst ich stolperte weiter nach hinten, selbst mein Magen versteinerte, dabei kannte ich sie besser als jeder lebende Mensch.
„Drachendreck!", brüllte Ragnar.
Alle fielen auf die Knie. Alle außer ich.
Kaum hatte ich meinen Fehler erkannt, ließ auch ich mich fallen, hoffend, dass er mich übersehen hatte. Vergebens. Er stampfte auf mich zu und die Erde bebte unter seinen Schritten – oder zitterte ich? Jeder Soldat, jeder Drachenfänger glotzte mich an, ihre Blicke kribbelten auf meiner Haut. Ameisen, die nur darauf hofften, eine Schwachstelle zu finden. Brennnesseln, die meine Fassade durchätzten. Nicht tödlich ... außer ich machte einen weiteren Fehler.
Einen halben Schritt vor mir krallten sich Ragnars Stiefel in den Boden. Felsblockgroß, mit Stacheln behaftet. Mühelos könnte er meine Hand zerquetschen, ein Tritt in den Bauch würde den Tod bedeuten. Ich nagelte meinen Blick auf den Boden. Direkter Blickkontakt zu Höhergestellten galt meist als Provokation, sprich genau das, was ich vermeiden wollte.
„Warum schaust du mich denn nicht an? Bin ich dir nicht hübsch genug?"
Die Soldaten johlten und pfiffen; Hyänen, die meine Angst belachten. Noch während mein Kopf nach oben kroch und ich Ragnar in die Augen blickte, verfluchte ich mich dafür, dass ich mir sämtliches Wissen über Körpersprachen aus Büchern angeeignet hatte anstatt durch Übung. Hundert kleine Schritte konnten einen genauso den Klippenrand überschreiten lassen wie ein großer.
„Da habe ich mir schon eine so schöne Parole einfallen lassen und dann scheitert es an mangelnder Reaktionsfähigkeit."
Er schüttelte den Kopf, woraufhin abermals dutzende Kehlen in Gelächter ausbrachen.
„Entschuldigt bitte, aber dürfte ich das möglicherweise übernehmen?"
Die sanfte Sprechweise und die gewählte Wortwahl ließen mich erst eine Sekunde später merken, aus wessen Mund diese Worte stammten. Aber es war Liska, die sich Ragnar genähert hatte; Liska, deren Augen auf mich hinabflackerten, als sei ich nichts weiter als eine kleine Unannehmlichkeit.
„Aber sicher doch!", dröhnte Ragnar.
Innerhalb eines Augenblickes verdoppelte sich mein Puls. Meine Zunge klebte sich an meinem Gaumen fest und abermals fühlte ich mich wie auf dem Riesenhaften Alptraum. Herumgeworfen, jeglicher Kontrolle beraubt und kurz davor, endgültig herunterzufallen. Das ist ganz normal, versuchte ich, mir einzureden. Dir wird nichts passieren.
Dann riss jemand meinen Kopf zu sich und bog ihn nach hinten. Nein, nicht jemand.
Liska.
Ihre Lippen kräuselten sich zu einer Art Grinsen, doch es erinnerte mehr an ein Zähnefletschen.
„Sieh mal einer an. Viggo Grimborn, der berüchtigte Drachenjäger. Oder sollte ich eher Verräter sagen?"
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