Kapitel 27: Rückkehr
Astrid
Es fühlte sich komisch an, wieder in einem Körper zu stecken. Beengend. War es Hicks so in dem Kristall gegangen? Und wie hatte ich das neunzehn Jahre durchgehalten, ohne durchzudrehen?
Moment. Ich hatte doch nicht wirklich meinen Körper verlassen? In den Legenden waren die Leute bei so etwas immer zusammengebrochen, aber ich saß noch genauso da wie vorher. Das Wasser plätscherte immer noch gegen den Stein und auch der Hase raschelte weiter im Gras. Das Ganze konnte höchstens einen Augenblick gedauert haben, auch wenn es sich wie eine Unendlichkeit anfühlte.
Hatte ich es mir eingebildet?
Nein. Solch ein Gespräch hätte ich mir niemals ausdenken können. Ich war noch nie besonders fantasievoll gewesen und – ein seelenverwandelnder Trank? Ein Alles ohne Zeit? Ein weiterer Nachtschatten?
Es klang so absurd, dass es real sein musste.
Also war ich Hicks begegnet. Indem ich meinen Körper verlassen hatte. Und er hatte mich gebeten, den Kristall zu zerstören.
Den Kristall ...
Stöhnend stemmte ich mich hoch, hielt den fingernagelgroßen Stein in die Luft. Vorhin war er mir meterhoch vorgekommen ...
Schaffte ich das? Ihn zu zerstören? Hicks zu zerstören.
Aber ich zerstörte ihn ja nicht, ich befreite ihn. Selbst wenn es hieß, dass ich ihn nie wieder sehen würde – ich war es ihm schuldig.
Leicht würde es mir trotzdem nicht fallen.
Ich drehte den Kristall zwischen meinen Fingern. Violette Lichtstrahlen brachen aus ihm heraus. Lichtstrahlen, die mir das Leben gerettet hatten. Die jede beliebige Verletzung heilen konnten, mindestens genauso gut wie das dritte Feuer.
Doch ihr Preis war zu entsetzlich, um sie jemals wünschenswert zu machen.
Also. Hicks befreien. Nicht zu viel darüber nachdenken. Dass ich ihn getroffen hatte. Und dass ich jede Chance zerstören würde, ihn jemals wiederzusehen, wenn ich diesen Kristall zerbrach.
Verdammt, worauf wartete ich eigentlich? Jeder mit Zögern verschwendete Moment würde für Hicks eine Unendlichkeit sein. Eine Unendlichkeit, während der er darunter litt, nicht dort zu sein, wo er hingehörte. Eine Unendlichkeit, während der er sich danach sehnte, dass ich endlich handeln würde.
Der Kristall zersplitterte.
Ich hatte ihn gegen den Boden geschmettert, ohne die Bewegung gemerkt zu haben. Und jetzt hüpften die Bruchteile über Geröll, wiesen das Licht zurück. Stumpfe kleine Scherben, aus denen das Leben entwichen war. Ihr Klirren hörte sich wie Hicks' Lachen an.
Es war vorbei. Ich hatte es getan.
Keine Möglichkeit mehr, ihm jemals noch zu begegnen.
Mit einem Plumpsen landete ich neben Hicks. Neben seiner Leiche, denn das hier war nicht der echte Hicks. Den hatte ich getroffen, mit ihm geredet, mit ihm gelacht und geweint. Der war jetzt frei.
Und in mir schwirrten so viele Gefühle, dass ich mich ganz leer fühlte.
-°-°-°-°-°-
Nach einer Weile stand ich auf. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, ob Zeit vergangen war. Sie schien nicht mehr zu existieren, seit ich die Drachenklippe betreten hatte.
Hicks hatte von Malereien gesprochen. Malereien von einem ausgelöschten Dorf und von zwei Nachtschatten, die überlebt hatten. Der eine war Ohnezahn. Den anderen würde ich finden. Ich hatte es versprochen.
Der Hase musterte mich, als ich zu den Bildern stakste. Mit einem Mal wünschte ich mir, er würde verschwinden. Er sollte aufhören, mich ständig daran zu erinnern, dass die Welt oben weiterging! Je mehr da draußen passierte, desto stärker würden die Erinnerungen verdrängt werden. Bis sie schließlich anfingen, zu verblassen.
Schon jetzt konnte ich nicht mehr sagen, worüber wir gelacht hatten. Ich wollte es nicht vergessen, wollte ihn nicht vergessen. Doch ich konnte wohl nur versuchen, die Erinnerung zu bewahren; in sie einzutauchen, wann immer ich die Orientierung verlor, und seinen letzten Willen zu erfüllen.
Mit so vielen Bildern hatte ich nicht gerechnet. Auch nicht mit so großen und gut getroffenen. Und schon gar nicht damit, dass ich bekannte Personen darauf vorfinden würde.
Da war Ohnezahn, natürlich, und das Ei. Auch Reiker entdeckte ich, wie er gemeinsam mit einem weißblonden Mann Nachtschatten und Dorfbewohner abschlachtete. Nun, überraschte es mich? Nein. Es passte zu ihm. Aber was hatte Liska dort zu suchen? Weshalb rettete sie das Ei? Sie war Auftragsmörderin, hatte nichts mit Drachen zu tun. Und sie vernichtete Leben, anstatt es zu erhalten.
Immerhin, ein Anhaltspunkt. Besser noch, ein erstes Ziel. Ziele waren gut. Sie hielten einen in Bewegung, bewahrten einen davor, in Teilnahmslosigkeit abzudriften – wenn es sich nicht gerade um Rache handelte, diese Art von Zielen warf man am besten gleich auf den Misthaufen. Doch ich musste nur Liska finden. Verglichen mit meinem letzten Ziel ein Musterbeispiel für einfach und harmlos.
Beim Rückweg zum Loch knirschte etwas unter meinen Füßen. Zunächst dachte ich an Splitter des Kristalls, aber es handelte sich um Scherben. Spiegelscherben.
Ein Spiegel, der einem die Seele zeigte. Sollte ich es wagen, hineinzublicken?
Hicks hatte es sicherlich sofort getan. Seine Neugier war die größte Antriebskraft in den gesamten neun Welten. Allerdings musste er auch nicht Angst vor dem haben, was er sah. Ich jedoch ... ich wollte es nicht wissen. Ich hatte Romi umbringen wollen, meine Freunde vertrieben, mich mit einer Auftragsmörderin eingelassen, einen Unschuldigen beinahe erwürgt. Monatelang hatte ich jeden Spiegel vermieden – und jetzt sollte ich in einen blicken, der mir das Monster zeigte?
Trotzdem hob ich die größte Scherbe auf. Strich mit dem Daumen über die Kante, Blut trat aus einer hauchdünnen Linie. Dort vorne stand der dazugehörige Rahmen. Glaube nicht an die Fassade, sei die Seele.
Die Seele sein? Dann würde ich mich wieder genau in die Richtung entwickeln, in die ich nie wieder auch nur einen Blick werfen wollte.
Dummerweise brachte mich der Spruch dazu, mitten in die Scherbe zu schauen.
Farbenschleier tauchten auf, tanzten aneinander vorbei, vermischten sich. Sie wirbelten und bremsten ab, lösten sich auf und erschufen sich neu, banden sich aneinander und trennten sich, formten Lichter, Zacken, Kreise. Legten sich übereinander, bis sich langsam eine Gestalt daraus flocht.
Das wäre der Moment, an dem ich eigentlich den Blick abwenden müsste. Aber ich tat es nicht.
Ein kleines Mädchen umschlang ihre Beine. Blaue Flecken und Schrammen verunstalteten ihre Arme, ihre hübschen Gesichtszüge waren mit Tränen, Rotze und Dreck verschmiert. Für ein Kind ihres Alters – acht? neun? – sah sie ganz schön trainiert aus. Als sie sich aufrichtete, konnte man deutlich ihren Stolz und ihre einstige Würde erkennen. Eine kleine Königin. Was sie allerdings nicht vor den ungeheuren Schmerzen beschützt hatte, die sie erlitten haben musste.
Ich ließ die Scherbe wieder sinken. War das meine Seele? Ein Kind, das Trost und Schutz brauchte?
Es fühlte sich irgendwie stimmig an.
„Danke, Hicks."
Mein Flüstern verhallte in der Höhle. Ich hatte meine Seele gesehen. Und sie war kein Monster.
-°-°-°-°-°-
Es fühlte sich an, als würde ich in die Sonne hineinklettern. Nach der Nacht der Höhle sah ich nun kaum etwas, alles war viel zu grell. So viel Licht, das sich nicht wegblinzeln ließ! Komisch, wieder an der Oberfläche zu sein. Ich hätte schwören können, ein ganzes Leben in der Grotte verbracht zu haben. Eine Unendlichkeit.
Das Seil hörte auf und ich tastete nach dem Rand. Meine Finger berührten etwas, aber es fühlte sich weich an und quiekte und rannte davon. Ich hatte geradewegs in den Hasen gefasst.
Wenn er noch hier war, wie lange konnte das hier gedauert haben? Doch sicher nicht mehr als ein paar Augenblicke? Wahrscheinlich sollte ich aufhören, über Zeit nachzudenken. Auf dieser Insel hatte das sicherlich keinen Sinn.
Mit einem Schwung zog ich mich an der Kante hoch, stellte ein Bein auf den Boden und drückte mich in den Tag hinein. Offenbar hatte ich meinen Körper wieder auf seine alte Leistung zurückgebracht. Was es mir allerdings brachte, das wusste ich nicht.
Ich war keine Kriegerin, die hatte ich schon vor einiger Zeit abgelegt. Aber ein verletztes kleines Mädchen ... Normalerweise beschützte ich andere und nicht umgekehrt. Aber das Mädchen brauchte Schutz, es brauchte Trost. Leider konnte ich nicht gut mit Kindern umgehen.
Meine Seele ... was war das überhaupt, die Seele? Und was hatte es mit diesem Alles auf sich? Gab es doch kein Walhalla, waren die Legenden unserer Vorfahren falsch? Dann würde es keinen Unterschied machen, ob man im Kampf starb oder nicht.
„Astrid!"
Dagur hechtete auf mich zu und umarmte mich.
„Alles klar bei dir? Geht es dir gut? Du warst ewig da drinnen, wir haben uns Sorgen gemacht!"
Sie hatten sich Sorgen gemacht. Um mich. Warum sollte sich jemand Sorgen um mich machen?
Noch immer zerquetschte er mich in seiner Umarmung. War es Hicks immer so gegangen? Schrecklich!
„Du schmunzelst", Dagur klang, als ob er sich nicht sicher war, ob er diesen Satz als Frage oder Feststellung aussprechen sollte. „Hey, Romi, sie schmunzelt! Wir haben eine schmunzelnde Astrid zurück! Jaaa!"
Ich lachte, ein schwaches, mehr geatmetes Lachen, aber Dagur streckte mich trotzdem auf Armeslänge von sich weg.
„Was ist denn mit dir da drinnen passiert?"
Wollte ich ihnen davon erzählen? Nein. Diese Erinnerung, ich wollte sie mit niemandem teilen. Sie war wertvoll, nur für mich gedacht. Ich durfte ihre Wirkung nicht abschwächen, indem ich sie in unpassende Worte quetschte. Lügen wollte ich allerdings auch nicht und schweigen stand nicht zu Auswahl. Nicht bei Dagur. Er würde mich so lange sticheln, bis ich einknickte.
Wieder schmunzelte ich und irgendwo zwischen den gelupften Mundwinkeln fand ich die Worte.
„Ich war bei Hicks. Und es hat mir gutgetan."
Wir setzten uns in Bewegung und mit einem Mal fiel mir auf, wie schön der Wald eigentlich war. Erste Krokusse sprossen durch die Reste der Schneedecke, die der Schatten der Bäume bewahrt hatte. Der Schnee glitzerte im Sonnenlicht, bald würde nichts mehr vom Winter vorhanden sein. Vögel schwirrten an uns vorbei, Insekten brummten um uns herum. Und es roch gut, nach Frühling, nach Neubeginn.
„Da seid ihr ja!"
Romi sprang von einem Baumstumpf auf, musste ihre Hose nicht komplett durchnässt sein?
„Warst du ...?"
„Ja."
Warum konnte dieses Mädchen nicht einen Satz vollständig formulieren? Vielleicht hatte die Stille auch sie verschluckt, aber im Gegensatz zu Fischbein kämpfte sie dagegen an. Oder sie fürchtete sich vor unseren Reaktionen und stellte sich deshalb als schwach dar. Damit wir sie nicht angreifen würden. Ich sie nicht angreifen würde. Von Dagur ging keine Gefahr aus – gewandelte Rollen. Aber wollte ich das sein, eine Gefahr? Nein.
„Dagur, willst du auch zu ihm?"
Er nickte, sein Gesicht ungewöhnlich ernst. Kaum vorstellbar, dass er mal ein blindwütiger Berserker gewesen sein soll.
„Dann ... warten wir hier."
Dagur trottete davon und ich legte mich auf den Rücken. Vermodertes Laub und halb gefrorene Schneereste durchnässten meinen Rücken, aber das kümmerte mich nicht. Wolkenbälle blinzelten mir entgegen. Sie würden schlechtes Wetter bringen. Neuer Regen, neues Eingeschlossensein mit Romi und Dagur. Mittlerweile konnte ich sie einigermaßen ertragen, aber ich brauchte Ruhe. Zu viel, worüber ich nachdenken musste.
Ein Drache flog über mein Blickfeld, das von Tannenspitzen eingerahmt wurde. Nadder. Wie schön es gewesen war, mit Sturmpfeil, Hicks und Ohnezahn den Wind herauszufordern, sich in die aberwitzigsten Manöver zu stürzen und einander zu jagen, bis uns die Puste ausging.
„Was – was hast du jetzt vor?"
Und deswegen zog ich es vor, alleine zu bleiben.
„In der Grotte waren Bilder von einem Nachtschattendorf. Du hast sie sicher auch gesehen. Ich werde das Ei finden. Also, den Drachen, der aus dem Ei geschlüpft ist."
Sie wandte den Kopf ab, zwirbelte einen Tannenzweig zwischen ihren Fingern.
„Das geht leider nicht."
„Wieso sollte das nicht gehen? Ich muss nur die Frau mit den roten Haaren finden."
„Sie wird dir nicht helfen können."
„Und wieso?"
„Ich ... ich bin ihr schon begegnet."
„Du bist ihr begegnet? Sie wollte dich umbringen, wie hast du überlebt?"
„Offenbar habe ich ein gewisses Talent dafür, die Leute in diesem Punkt umzustimmen."
Ihr schiefes Grinsen zeigte genau, an wen der Seitenhieb gerichtet war. Dann lachte sie schwach, blickte wieder zu Boden.
„Sie ... wir waren Bekannte. Von vor einer Ewigkeit."
Bekannte. Dann hatte sie mich in Berk mit Absicht zur Seite gestoßen, damit ich Romi nicht verletzte. Ich sollte wohl wütend sein. Oder dankbar, dass sie mich davor bewahrt hatte, zur Mörderin zu werden. Allerdings hatten sich schon so viele „Fakten" als falsch entpuppt, dass ich es nur schulterzuckend zur Kenntnis nahm.
„Und was ist jetzt mit dem Ei?"
„Beim Schlüpfen gestorben, meint Liska."
Beim Schlüpfen gestorben.
„Warum ... warum wolltest du es denn finden?"
„Hicks hätte es so gewollt."
Er hätte es nicht nur so gewollt, er hatte mich eindeutig gebeten. Und ich hatte schon versagt, bevor ich mit dem Suchen überhaupt hatte anfangen können. Ich konnte Hicks' letzten Willen nicht erfüllen.
„Es ist nicht deine Schuld."
Halbherzig hob ich den Kopf.
„Mag sein. Aber trotzdem muss ich jetzt laufen."
-°-°-°-°-°-
Einatmen. Ausatmen. Zwischen den Tannen. Über den umgekippten Baumstamm. An dem Felsen vorbei.
Einatmen. Ausatmen. Rennen. Bloß nicht nachdenken.
Nicht nachdenken darüber, dass ich Hicks schon wieder enttäuscht hatte.
Verdammtes, zerbrochenes Ei.
Es sei nicht meine Schuld, hatte Romi gesagt. Vielleicht hatte sie Recht. Ich hatte es nicht wissen können. Hicks hatte es nicht wissen können. Aber ein gebrochenes Versprechen war ein gebrochenes Versprechen.
Auf einmal erschien mir die Schönheit des Waldes eher bedrückend. Was nützte es, wenn so viele Pflanzen, Insekten, Tiere lebten, wenn der eine Drache gestorben war?
Wenn ich mich anstrengen würde, könnte ich herausfinden, wohin ich lief. Schließlich hatte ich jeden einzelnen Flecken schon einmal durchlaufen. Doch ich wollte es nicht wissen.
Laufen, ohne Ziel. Einatmen, ausatmen und die Gedanken abschütteln.
Dort vorne knackten Äste. Große Äste. Ein Drache wahrscheinlich, damit konnte ich umgehen. Ich stoppte, es bloß nicht wirken lassen, als wolle ich ihn angreifen.
Sofort krampfte sich mein Magen zusammen, Übelkeit riss mich mit sich und tauchte mich unter. Zwar kotzte ich nicht, allerdings wohl nur, weil sich nichts mehr in meinem Magen befand. Schlechte Idee, schlechte Idee, schlechte Idee!
Sobald ich mich wieder aufgerichtet hatte, tastete ich automatisch nach meiner Axt. Nicht mehr da. Natürlich nicht mehr da und dieses eine Mal fluchte ich darüber. Wenn mich etwas angriff, wäre ich wehrlos.
Also auf den Boden. Keine Bewegung. Was auch immer da war, vielleicht übersah es mich.
Äste wurden zerrissen, etwas Großes preschte auf mich zu. Dann eben nicht. Ich rollte mich zur Seite, sprang auf, die Hände in Kampfhaltung erhoben. Der Drache wendete, schleuderte mich zu Boden und baute sich über mir auf. Verdammt, das war nicht gut, das war ...
„Ohnezahn?"
Mit weit aufgerissenen Augen schlabberte er mir über das Gesicht.
„Ih, Ohnezahn, lass das!"
Kaum versuchte ich, mich aufzusetzen, sprang er von mir herunter und rannte in Kreisen um mich herum. Er hatte sich deutlich erholt, zuletzt hatte ich ihn als halb verhungerten Haufen Knochen im Wald von Berk gesehen. So wie er um mich herumtanzte, musste er eine lange Zeit niemanden gesehen haben.
Gar kein so großer Unterschied zwischen uns beiden.
„Ohnezahn, wie bist du hierhergekommen?"
Er duckte sich zu Boden, fixierte eine Tanne, drückte sich ab und verbiss sich in einen drei Meter hohen Ast. Ein witziges Bild, wie er so ausgestreckt hing, aber mein Blick verfing sich schnell an der Schwanzflosse. Da war nicht mehr die rote Ersatzflosse aus Stoff. Diese hier sah genauso aus wie die andere, die normale Hälfte. Und wenn Ohnezahn es ganz alleine auf die Drachenklippe geschafft hatte, dann musste es sich um eine automatische Flosse handeln.
Hatte Hicks eine neue gebaut gehabt? So wie ich ihn kannte, ja. Was mich verwunderte, war, dass Ohnezahn sie akzeptiert hatte. Die erste hatte er zerstört, weil er nur mit Hicks hatte fliegen wollen. Aber Hicks war tot und kein Drache ertrug es, an den Boden gefesselt zu bleiben.
Wer sie ihm wohl umgeschnallt hatte? Haudrauf wahrscheinlich. Oder Grobian oder einer von meinen Freunden, aber eigentlich spielte es keine Rolle.
Ohnezahn ließ sich wieder fallen, hüpfte um mich herum, rieb seinen Kopf an meiner Seite. Ich streichelte über die feinen Schuppen, kraulte ihn unterm Kinn – einen großen Bogen um die empfindliche Stelle machend. Sofort begann er, zu schnurren. Dann stupste er mich in den Bauch, woraufhin ich einen Schritt nach hinten taumelte.
„Ohnezahn, was soll das?"
Er wackelte mit den Flügeln, blickte mich auffordernd an.
„Soll ich mit dir fliegen?"
Ich wartete nicht, sondern schwang mich gleich auf seinen Rücken. Denn ich wollte auf jeden Fall fliegen.
-°-°-°-°-°-°-
Müsste ich überglücklich sein, jetzt, wo ich mich endlich wieder über den Wolken befand, wie ich es mir so oft in den letzten Tagen gewünscht hatte? Zwar fühlte ich mich leichter, aber dennoch ...
Ich flog mit Ohnezahn. Hicks' bestem Freund. Dem Drachen, dem ich endlich einen Gefährten hatte finden sollen, womit ich aber gescheitert war, bevor die Suche überhaupt angefangen hatte.
Bezeichneten wir die Situation mal als merkwürdig. Andererseits, wie viele nicht merkwürdige Situationen hatte ich in letzter Zeit schon erlebt?
Wolkenfestungen beobachteten mich. Sie wirkten viel mehr wie aus knubbeligem Stein zusammengesetzt anstatt von weichen Wolken geformt. Ein Stück entfernt durchschmetterte ein Riesenhafter Albtraum die Wand zwischen unten und uns, nur um gleich wieder abzutauchen.
Was tun? Was tun, jetzt da ich sämtliche Ziele entweder abgelegt hatte oder sie mir entrissen worden waren?
Es tat nicht gut, ziellos zu sein. Man fing an, sich im Kreis zu drehen, die Orientierung zu verlieren, unsinnige Dinge zu machen. Irgendwann wurde man immer passiver, ließ nur noch die anderen handeln, zog sich zurück und verbrachte den Rest seines Lebens in demselben kleinen Kämmerlein.
Nur zu nah war ich in den ersten Monaten nach Hicks' Tod daran vorbeigeschlittert. Noch einmal durfte ich dem Abgrund nicht so nahe kommen.
Ich kam mir vor wie ein Schiff, das zwischen zwei tödlichen Strudeln hindurchsegeln musste, dem Hass und der Teilnahmslosigkeit, und sich von keinem mitreißen lassen durfte. Ohne Kompass, ohne Karte und alle paar Stunden von einem neuen Sturm in eine andere Richtung geworfen.
Ohnezahn trug keinen Sattel, schon scheuerten die Schuppen mir die Innenseite meiner Beine auf. Morgen würde ich Probleme beim Laufen haben.
Wir hatten uns immer für die Guten gehalten. Für die, die anderen Freiheit schenkten. Doch nun? Zu wem waren wir geworden? Einzelkämpfern, die sich irgendwie durchschlugen im besten Fall. Zerstörer, wenn man nicht so gnädig beurteilte.
Die Sonne stach in meine Augen. Hier über der Wolkendecke sengte das Licht, ich konnte kaum etwas erkennen.
Was konnte ich denn noch tun? Alle meine Unternehmungen hatten Leid gebracht. Gab es überhaupt noch etwas Gutes?
Ich könnte die anderen suchen. Mich bei ihnen entschuldigen, zugeben, dass ich falsch gelegen hatte. Ich könnte wieder Drachen befreien, sie vor den Jägern retten. Ich könnte, nein, ich musste Hicks' Leiche zurück nach Berk bringen. Er sollte eine anständige Bestattung kriegen, nicht in einer Höhle verwesen.
Ja, das würde ich machen. Ich klopfte Ohnezahn gegen die Flanke.
„Hey, kehren wir zurück?"
Er blickte mich an und grummelte. Dann ging er in den Sturzflug.
Zunächst kreischte ich, ruderte mit den Armen. Nach einer Sekunde erinnerte sich mein Körper wieder daran, wie man flog, ich schloss den Mund, lehnte mich vornüber und betete, dass niemand mein unastridhaftes Kreischen gehört hatte. Rotzbacke würde mich gnadenlos damit aufziehen.
Doch er war nicht hier und der neue Rotzbacke würde es sowieso nicht tun.
-°-°-°-°-°-
Ohnezahn setzte in dem Moment auf der Plattform auf, als Romi und Dagur die letzte Krümmung hochstiegen. So kriegte man auch seinen dramatischen Auftritt zusammen.
„Was – Ohnezahn? Wie kommt der denn her?" Dagur drehte sich zu Romi um. „Du hast gesagt, sie wolle laufen!"
„Wollte sie ja auch!"
Romi verschränkte die Arme. Beide schienen vom Boden angesogen, blieben auf demselben Fleckchen stehen. Seufzend sprang ich von Ohnezahn herunter, ich musste wohl alles erklären. Was es kompliziert machen würde. Alles wurde kompliziert, wenn Worte ins Spiel kamen. Und wenn es nicht kompliziert wurde, fehlte das Wesentliche.
„Jemand hat ihm die automatische Flosse angeschnallt, dann muss er hergeflogen sein. Wir haben uns im Wald getroffen."
Ohnezahn tapste ein paar Schritte nach vorne, als wäre er sich nicht sicher, ob es sich noch um den Ort handelte, den er vor ein paar Monaten verlassen hatte. Ich hätte ihm sagen können, dass es nicht so war. Er schnupperte an Romi und Dagur, legte den Kopf schief und gurrte. Das klassische Grinsen zwischen den Ohren, streichelte Dagur ihn und lachte.
„Hey, Ohni! Schön, dich wiederzusehen!"
Daraufhin schnaubte Ohnezahn und pochte mit dem Kopf gegen Dagurs Bauch.
„Ich dich auch, Kumpel! Sind wir Kumpel? Bestimmt sind wir Kumpel!"
Ein weiteres Schnauben; ich könnte schwören, dass Ohnezahn lachte. Romi hatte sich in Richtung Haupthaus verzogen, drückte sich – mal wieder – gegen die Wand. Hatte sie Angst? Schämte sie sich? Was auch immer, Ohnezahn zerrte sie aus ihrem Statuespiel, indem er seine Flanke an ihr rieb. Sie lächelte, ließ ihn an ihrer Hand schnuppern und kraulte ihn über den Augen. Er schnurrte, wälzte sich auf dem Boden. Wie lange hatte er keine Zuneigung mehr bekommen?
Eines musste ich Romi lassen, sie konnte mit Drachen umgehen. Nun, sie war mit ihnen aufgewachsen. Wenn auch durch Käfige getrennt.
Mittlerweile explodierte nicht mehr der Hass in mir, wenn ich sie anschaute. Nicht mal eine sonderliche Abneigung, nur Müdigkeit. Wie wenn man monatelang an einer bestimmten Sache gearbeitet hatte und einfach eine möglichst große Distanz dazu gewinnen wollte. Aber stattdessen gingen wir alle in das Haupthaus, wo wir noch enger aneinandergedrängt sein würden.
„Was machen wir jetzt?"
Es war Dagur, der das Wort ergriff. Keine große Überraschung.
„Wir müssen seine Leiche zurück nach Berk bringen."
Es war Romi, die antwortete. Was eine Überraschung darstellte.
Und es war ich, die beide anblickten. Überraschend und erwartet zugleich.
„Sie hat Recht."
Dass ich diese Worte in Bezug auf Romi Grimborn über die Lippen brachte ... egal. Zeiten änderten sich und Haltungen mit ihnen. Hicks hatte mich auch überzeugt, nicht mehr gegen die Drachen zu kämpfen und nun war dasselbe mit Romi geschehen. Es brachte nichts. Nur Leid, für alle.
Zwei so ähnliche Situationen. Und beide Male hatte es Hicks gebraucht, um den Hass aufzulösen.
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