Kapitel 26: Hicks

Astrid

Der Weg war lang. Ewig. Vielleicht hatten die Götter einen extra langen Weg ausgesucht, damit ich mich vorbereiten konnte.

Ich würde ihn sehen.

Seinen Körper sehen. Seine –

Würgereiz erdrosselte den Gedanken.

Der Wald triefte immer noch vom Regen – wann war das gewesen? Ich verlor den Überblick. Das durfte nicht passieren, eine Kriegerin musste immer den Überblick behalten.

Aber ich war schließlich keine Kriegerin mehr.

Mittlerweile hatte der schlammige Boden meine Schuhspitzen durchnässt. Na ja, erkältet war ich schon. Die laufende Nase hatte sich mittlerweile verstopft, ich schnaufte wie Grobian nach einem Drei-Stunden-Lauf. Dazu dröhnte mein Kopf und meine Beine hätten einen Preis für den interessantesten Wackelpudding bekommen. Hoffentlich würden wir bald ankommen.

Ankommen. Bei Hicks.

Und wenn ich das nicht schaffte? Ihn nicht ansehen konnte, mich ihm nicht nähern konnte?

Doch. Ich wollte es. Wollte es so sehr.

„Wir sind da."

Links kräuselte sich die Oberfläche eines Tümpels. Matt erschien er, schlammig und stumpf. Lag Hicks da drinnen?

„Hier?"

Auch Dagur schien es nicht recht glauben zu können. Seine Augen sprangen umher, auf der Suche nach einem schöneren, einem würdigeren Ort.

„Nein, ich ... da rechts ist ein Pfad, zwanzig Schritte und dann kommt ein ... kommt ein Loch. Er liegt in der Höhle. Geht ihr dahin, ich ... ich muss nicht mit."

Dagur schaute mich an.

„Geh du."

Ich blieb stehen, festgefroren, konnte keinen Schritt machen.

„Du willst sicher alleine mit ihm sein."

Alleine mit ihm sein. Mit Hicks. Wollte ich das?

Ja.


-°-°-°-°-°-


Ein Loch. Ein Loch im Boden. Hatte sie ihn in einer Höhle verfrachtet? Aber es war ja ihr Drache gewesen. Hatte seine Leiche eingefroren, um ihn zurückzuholen. Was für eine absurde Idee.

So komisch das Licht. Silbrig. Grau. Die Baumstämme neigten sich im Wind, die vermoderten Blätter schlingerten, wogten, gaben unter mir nach. Oder war mir bloß schwindelig? Der Weg dehnte sich in die Länge, während ich darauf zutaumelte. Kämpf dich durch, durch die zähe Luft, durch den klebrigen Boden –

Ein Hase. Am Rand des Lochs. Presste sich mit angelegten Ohren auf den Boden. Ich kniete mich vor ihn hin und betrachtete sein feines Fell, den Schwung des Kopfes, seine aufgerissenen Augen. Und je länger ich ihn betrachtete, desto mehr Schwindel sickerte aus mir heraus. So ein Hase, das war etwas Greifbares. Er war hier und wenn ich zurückkam, würde er immer noch da sein.

Also keine Angst.

Ein Tau hing in die Höhle hinein, aber der Regen der letzten Tage hatte es glitschig gemacht. Ich rutschte mehr als dass ich kletterte, schürfte mir dabei die Handflächen auf. Das Loch schluckte beinahe sämtliches Licht, ich hätte eine Fackel mitnehmen sollen. Romi hätte eine Fackel mitnehmen sollen.

Höhlen ... ich mochte keine Höhlen. Nicht seitdem Hicks in die Höhlen der Flüsternden Tode gestürzt war. Sie waren Orte des Todes, nicht des Lebens.

Es roch nach nassem Fels, nach Grottenwasser und Moos. Modrig. Dazu diese Dunkelheit, die jede Bewegung, jeden Umriss schluckte, nach mir grabschte und mich in die Tiefe zerren wollte.

Ort des Todes. Keiner, an dem ich Hicks' Körper wiederfinden wollte. Andererseits – passte es nicht? Wir beide, abgeschnitten vom Rest der Welt. Zwei leere Hüllen, von der Erde umschlungen, von der Finsternis versteckt.

Finsternis. So viel Finsternis. Hauchte mir ins Gesicht, kribbelte auf meinen Armen. Das hier war nicht die wohltuende Nacht. Ich befand mich in der Leere. Nur das rostrote Glimmen dort vorne gab mir einen Anhaltspunkt. Wie ein Tier krabbelte ich darauf zu, schrammte mir die Fingerknöchel an Felsbrocken auf.

Komm schon. Ins Licht, selbst wenn es kaum mehr als ein Schwelen war. Denn es war etwas.

Je weiter ich mich näherte, desto mehr Details konnte ich erkennen. Wie sich das Licht an manchen Stellen zu rötlichen Schwaden verdickte, Funken mir von den schroffen Wänden entgegenblinkten. Die offenen Stellen an meinen Händen prickelten, dann verschwand das Brennen. Auch das Dröhnen in meinem Kopf verstummte, durch meinen verätzten Hals rann Honig. Leben schoss in meine Glieder, zuvor noch kraftlos und matt.

So fühlte sich also das dritte Feuer an.

Die Überreste des dritten Feuers ... dann musste Hicks ganz in der Nähe sein.

Das Glimmen war fast vollständig erloschen, ich musste mich also wieder vorantasten. Alleine. Andererseits – ich würde Dagur und Romi gerade auf keinen Fall hier haben wollen. Das hier konnte ich nur alleine tun. Und war es nicht so viel einfacher, Hicks' Körper in der Dunkelheit wiederanzutreffen, geschützt vor den Lichtstrahlen, die alle Zeichen des Verfalls zur Schau stellen würden?

Solange ich seinen Körper nicht sah, konnte ich ihn selbst vielleicht erspüren.

Da. Etwas Weiches, Geschwungenes zwischen all dem Gestein. Sofort zuckte meine Hand zurück, kippte ich nach hinten.

Ich hatte ihn berührt.

Er lag vor mir.

Hicks lag vor mir.

Ich musste mir den Kopf angeschlagen haben, etwas Feuchtes verklebte meine Haare. Augenblicklich stürzten sich die letzten Funken darauf, knisterten an meinem Hinterkopf. Die Blutung stoppte.

Hicks' Leiche lag vor mir.

Die Wände, sie glänzten doch. Hatte ich es übersehen, weil ich kein Licht erwartet hatte? Oder hatte ich mich an die Dunkelheit gewöhnt? Ein Rascheln, wie von Gras. Der Hase wahrscheinlich. Nahm der Höhlengeruch zu? Schwankte der Boden?

Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Ich schmeckte Blut, aber mein Mund war trocken. Halluzinierte ich? Was war noch real, was Einbildung? Lag da wirklich Hicks' Leiche vor mir? Er konnte nicht gestorben sein.

Doch. Er war.

Er war gestorben und ich saß in einer Höhle vor seiner Leiche und umklammerte sein Bein.

Falsch, das war ein Arm.

Nicht einmal dabei konnte man sich noch sicher sein.

Meine Finger wanderten hinunter, ertasteten die Schulter, wechselten dann die Richtung. Wie leicht man auf einen falschen Pfad gelangen konnte, wenn man blind war.

Seine Hand. Seine linke, seine starke Hand. Ich fuhr über den Handrücken, die Gelenke, die Nägel. Befühlte die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, die feinen Rillen der Fingerkuppen, die Furchen der Handfläche.

Die Gänsehaut wurde stärker.

Ich ließ die Hand wieder los, meine Finger glitten am Arm entlang zur Schulter, zum Hals. Weich war seine Haut, so weich. Diese Kuhle unter seinem Kinn, die Kurve der Lippen, seine Wangen, die Nasenflügel, die Wölbung der Augen. Die kräftigen Brauen, die Stirn, die feinen, fließenden Haare. Das war er, das war Hicks, ich hatte ihn wiedergefunden!

Meine Stirn sank gegen seine, Tränen benetzte Augenlider, die sich nicht mehr öffneten, Lippen, die nicht mehr sprachen.

Er war hier, aber eben auch nicht.

Ich schob meine Arme unter ihn, drückte seinen schlaffen Oberkörper an mich. Lauschte vergebens nach einem Herzschlag, den es nicht mehr gab, nicht mehr geben würde. Nur mein Herz donnerte gegen seinen Brustkorb, als könne es ihn dadurch wiederbeleben.

Mit einem Mal erschien mir Romis Vorhaben gar nicht mehr so absurd. Hätte ich die Möglichkeit gehabt oder auch nur eine vage Hoffnung, ich hätte es getan. Mit allen Mitteln. Egal, welche Kosten.

Aber es war unmöglich.

Wasser plätscherte gegen Stein und ich merkte, wie groß mein Durst war. Wie lange hatte ich nichts getrunken? Und wie hatte ich meine pelzige Zunge, meinen trockenen Mund ignorieren können?

Ich bettete Hicks wieder zu Boden, schnell, aber dennoch darauf bedacht, dass er sich nicht verletzte. Dann hastete ich in Richtung des Geräuschs, stolperte über einen Felsbrocken, knallte zu Boden.

Ah, ah, ah, mein Ellenbogen! Strom schoss durch meinen Arm, lähmte ihn, schwärzte meine Sicht. Ich zischte, versuchte, mich aufzusetzen, doch das Gelenk ließ sich nicht beugen. Vielleicht schrie ich auf, sicher hatte ich aufgeschrien, denn es tat so weh, so weh, so weh. Kein Strom mehr, dafür sengende Glasscherben, die bei jeder Bewegung Muskeln, Adern, Nerven zerschnitten.

Kühle. Kühle Flüssigkeit. Kühle, leichte Flüssigkeit, fast schon ein Gas. Löschte das Feuer, schliff die Scherben zu Staubkörnern.

Wie oft würde ich mich hier noch verletzen, nur um anschließend vom dritten Feuer geheilt zu werden?

Den Rest der Strecke legte ich vorsichtiger zurück, tastete mit den Füßen nach Hindernissen, vorangetrieben von dem anschwellenden Singsang nach Wasser. Oben rauschte der Wind in den Bäumen, ein Vogel trillerte sein Frühlingslied. Das Leben ging weiter, während ich in einer Höhle gefüllt mit heilendem Nebel und der Leiche meiner Liebe nach Wasser suchte. Was es noch aberwitziger machte.

Ich trat in etwas Nasses. Der Teich, endlich! Ich rumste zu Boden, wobei meine Knie den hundertsten Schlag heute erhielten. Sofort tauchte ich die zur Schale geformten Hände hinein. Liebliche Frische füllte die Wölbung und lief an meinen Armen herunter, während ich die Hände zum Mund erhob.

Und dann trank ich. Schale um Schale. Das Wasser schmeckte köstlich, diamantenklar und felsenstabil und nach L e b e n. Ich lachte, obwohl es nichts zum Lachen gab. Nur ein bisschen Wasser, die gewöhnlichste Sache der Welt.

Doch so unendlich kostbar für mich.

Noch mehr schöpfte ich in meine Hände, ließ es über meine Stirn und meine Arme laufen. Wusch alles weg, den Dreck der Kämpfe und der Stürze zusammen mit den Überresten des Erbrochenen. Sämtliche zuvor ausgewürgten Dinge rubbelte ich von mir ab, bis ich mich zum ersten Mal wieder richtig sauber fühlte.

Nach einer Weile krabbelte ich wieder zu Hicks zurück. Ich wusste nicht, weshalb ich so lange gezögert hatte – oder doch, ich wusste es. Die Wolkendecke musste aufgerissen sein, jedenfalls drang mehr Licht in die Grotte hinein. So viel Licht, dass ich die Wellen des Tümpels und die Kanten der Steine erahnen konnte. Und – allein der Gedanke durchflutete mich mit Scham, aber ich fürchtete mich. Vor dem, was ich sehen würde.

Romi hatte mich gewarnt. Matschig sollte das Eis ihn gemacht haben. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, was das zu bedeuten hatte.

Die furchtlose Astrid Hofferson hätte mich für meine Angst ausgelacht. Wie alle Ängste widersprach sie jeder Logik. Es handelte sich um eine Leiche, ein Wunder, dass sich ihr Zustand so lange gehalten hatte. Aber die Angst blieb.

Denn ich wollte mich an Hicks erinnern, so wie er gewesen war. Nicht als matschiges Etwas.

Trotzdem krabbelte ich weiter auf ihn zu. Mit jeder vorangesetzten Hand, jedem überstiegenen Geröllbrocken schälten sich seine Umrisse deutlicher heraus. Dann seine Gliedmaßen. Dann seine Kleidung. Dann sein Gesicht. Und dann hockte ich wieder neben ihm.

Sie hatte Unrecht gehabt. Seine Züge, seine Haut, alles war wie zuvor geblieben. Da war nichts matschig, da war nur Hicks. Schneller als ich realisierte, berührten meine Lippen seine Stirn.

Ein Kuss?

Ein Kuss. Der Kuss, den wir uns nie hatten geben können.

Natürlich kein richtiger Kuss, es käme mir falsch vor, ihn auf die Lippen zu küssen. Ein Kuss auf die Lippen hatte immer etwas von Gegenseitigkeit – Gegenseitigkeit, die wir nicht mehr haben konnten. Die uns genommen worden war.

Und so blieb es bei diesem einen Kuss auf die Stirn, einem Kuss des Bedauerns und des Vermissens.

Wieder raschelte es im Gras, ein Hasenköpfchen spähte über den Rand des Loches. Lichtstrahlen streichelten Hicks' Haare. Wahrscheinlich hatte das dritte Feuer ihn bewahrt, hatte den Verfall gestoppt und umgekehrt.

Aber es hatte ihn nicht zurückholen können.

Der Hase verschwand, gab den Blick auf einen blauen Himmelskreis frei. So weit weg von hier unten. Wie gerne hätte auf Sturmpfeils Rücken den Wind herausgefordert, die Wolken gejagt, zum Meer geschossen und uns wieder in die Unendlichkeit geschraubt.

Andererseits wollte ich hierbleiben, für immer von der Erde geschützt Hicks' Haare streicheln.

Entweder der Himmel oder das Erdreich. Entweder der Tag oder die Nacht. Dazwischen gehörte ich nicht.

Doch auch hier vermischten sich langsam die Welten. Sonne drang in die Höhle ein, lenkte meinen Blick auf Moos an den Felsen, Malereien an den Wänden, ein violettes Glitzern auf dem Boden.

Violett?

Ich sprang auf, hastete zu dem Glitzern hin.

Es war es. Es war der Kristall.

Zwischen zitternden Fingern hob ich ihn auf. Der Kristall. Den Kristall, den Romi aus Berk gestohlen hatte. Der Kristall mit Hicks' Seele.

Ich hielt seine Seele in der Hand.

Kiesel piksten in meinen Hintern, als ich zu Boden plumpste. Hicks' Seele.

Hier war er, nicht dort in dieser Hülle, sondern da drinnen. Gefangen, seit viereinhalb Monaten.

Gefangen. Hicks. In diesem Kristall.

Das Licht fing sich in den unzähligen Flächen, blitzte lila zurück. So schön. So grausam wunderschön.

Sah er mich? Beobachtete er mich, jetzt gerade, in diesem Moment? War er wirklich da drinnen? Es konnte nicht sein, klang viel zu absurd. Eine Seele, gefangen in einem Kristall. Andererseits, die letzten Monate waren eine Pyramide gebaut aus Blöcken an Absurdität gewesen. Dieser hier bildete lediglich die Spitze.

Ja, es konnte sein. Es konnte sein, dass er sich hier drinnen befand. Er war hier, ich spürte ihn. Spürte, wie er sich von innen gegen meine Finger drückte, hörte, wie er mir durch kristallene Wände meinen Namen zurief.

Oder bildete ich es mir nur ein?

Ich schloss die Augen. Sie würden mir nichts nützen, würden mich vom Wesentlichen ablenken. Nicht das Licht half mir hier weiter, ich benötigte die Dunkelheit.

Also. War er da?

Immer noch plätscherte das Wasser gegen Stein. Wieder raschelte der Hase im Laub. Mein Arm wurde schwer.

Dunkelheit.

Nacht.

Astrid?

Er klang überrascht, hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihn finden würde. Dass ihn jemals irgendwer finden würde.

Aber ich hatte ihn gefunden. Und ich schnellte zu ihm, seinen Namen jauchzend. Ich hatte ihn gefunden, würde ihn wiedersehen!

Da. Eine violette Wand. Sie passte nicht hinein, zerstörte das Alles. Hier sollte es keine Wände geben, hier sollte man frei sein.

Doch ohne diese Wand hätte ich ihn niemals gefunden.

Ich änderte meine Richtung, Hicks musste dahinter sein. Die Wand bekam Ecken und Kanten und verformte sich zu einer schroffen Kugel. Einem Kristall. Hicks' Kristall.

Astrid!

Auch er federte zur Wand hin, drückte mit den Händen dagegen. Ich legte meine genau gegenüber auf diese Barriere aus Licht, die verhinderte, dass wir uns endlich berühren konnten.

„Hicks!"

Keine Leiche, sondern der echte, lebendige Hicks. Wir waren wieder beieinander.

Ich schlug gegen die Barriere, wollte sie zersplittern sehen und ihn endlich in die Arme schließen.

Das bringt nichts. Ich habe es schon oft versucht.

„Heißt das, du bist wirklich eingesperrt?"

Er zuckte mit den Schultern, doch sein Gesicht glühte vor Verlangen, durch das Alles zu brausen und frei zu sein.

Wäre ich es nicht, hättest du mich wohl nicht gefunden.

„Ich würde dich überall finden!"

Sein Lachen war ein trauriges Lachen und dennoch schwang etwas Warmes mit. Brachte auch mich zum Vibrieren.

Wie viel Zeit ist da draußen vergangen?

„Das weißt du nicht?"

Hier gibt es keine Zeit. Nur Augenblicke und Unendlichkeiten.

Wie sehr hatte ich seine Stimme vermisst, diesen Honig aus Wärme, Nachdenklichkeit und Witz. Ich tauchte in ihn hinein, sog mich mit ihm voll, bis er die Leere in jedem noch so kleinen Flecken ausfüllte. Er schmeckte so gut! Besser als das Wasser, besser als die Pfannkuchen. Denn er vereinte die schönen Erinnerungen und die neue Lebenskraft, verschmolz sie zu purer Liebe.

„Hicks, ich bin so froh, bei dir zu sein!"

Er lächelte. So ein schönes Lächeln. Warm und liebevoll und Hicks.

Und ich bin so froh, dass du mich gefunden hast.

Ich verstand, was er mir hatte sagen wollen. Das hier, es war ein Augenblick. Aber dennoch eine Unendlichkeit.

„Du leuchtest! Warum leuchtest du?"

Hier gibt es keine Körper. Nur Seelen. Und meine Seele leuchtet gerade.

„Und unsere Seelen sehen aus wie unsere Körper?"

Sie können aussehen, wie wir wollen. Auf der Drachenklippe gibt es eine Höhle mit einem Spiegel, der zeigt uns ihre wahre Gestalt.

Warum ahnte ich, dass er die Höhle meinte, in der ich – mein Körper – sich befand?

„Und du hast deine Seele gesehen?"

Seine Augen glitzerten. Wie schön er war, wenn er diese Begeisterung in den Augen hatte.

Ja. Ein Nachtschatten. Überraschend, nicht?

Ich lachte. Bei ihm fiel mir das Lachen leicht, fühlte es sich natürlich an.

Du müsstest ihn ... mich gesehen haben. Zumindest kurz.

„In der Arena?"

Die Arena, die sich so fern anfühlte. Für die andere Welt war er gestorben, aber ich war hier. Und allein das zählte.

Genau. Es gab einen Trank, mit ihm konnte man sich in seine Seele verwandeln.

Diese Faszination in seinen Augen, dieses Staunen über die Geheimnisse der Welt und die Neugierde, sie alle zu ergründen! Ich konnte ihm eine Unendlichkeit lang dabei zusehen. Kein anderer lebte die Suche so sehr wie er, kein anderer konnte einen so sehr mitreißen.

„Du hast ihn aus der Höhle, nicht wahr? Gibt es noch davon?"

Wieso?

„Weil mein Körper sich dort befindet. Wenn ich ihn trinke, vielleicht können wir dann zusammenbleiben!"

Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab.

Es war nur ein Schluck. Gerade genug für mich.

Enttäuschung sickerte in mich hinein, mischte sich mit dem Honig und machte ihn bitter. Denn ich wusste, ich würde ihn nicht für immer haben können.

Wie bist du in die Höhle gekommen?

„Dein Körper liegt dort. Romi hatte ihn eingefroren, sie wollte dich mit dem dritten Feuer zurückholen."

Sie wollte was?!

Ich zuckte mit den Schultern.

„Total verrückt, ich weiß."

Manche sagen, es könne sogar Tote wieder zum Leben erwecken, das hat sie mir erzählt. Aber es hat wohl nicht funktioniert.

„Nein. Hat es nicht. Aber sie hat mich zu dir geführt – also, zu deinem Körper. Und dann habe ich den Kristall gefunden."

Meine Finger zeichneten einen Kreis auf die Barriere. Sie veränderte sich nicht.

Ihr versteht euch also, gut!

Er lachte.

Manchmal habe ich befürchtet, du würdest ihr die Schuld geben. Da hätte ich dir wohl mehr vertrauen sollen!

„Du ... du hattest Recht."

Stammelte ich jetzt auch meine Sätze zusammen, so wie sie?

„Ich habe ihr die Schuld gegeben. Die ganzen vier Monate über. Ich bin ... ich habe ihr hinterhergejagt, wollte Rache. Mit der Zeit hat es mich aufgefressen. Zum Glück sind wir uns erst jetzt begegnet, du hättest mich wahrscheinlich verabscheut."

Ich könnte dich niemals verabscheuen.

„Du ... du warst nicht da, du hast nicht mitgekriegt, wie schlimm ich war."

Weinte ich? Ich weinte. Tränen aus Licht, was wahrscheinlich ziemlich merkwürdig war, aber mein Merkwürdigkeitsmaßstab war ziemlich gewachsen.

„Alle haben mich verabscheut! Sogar ich selbst! Zwischendurch ... ich hatte so Angst vor mir! Ich bin zu einem Monster geworden, habe Dagur gewürgt, obwohl er mir nichts getan hat!"

Hicks breitete seine Arme zu einer Umarmung aus, aber er prallte an der Wand ab.

„Und als die anderen es mir gesagt haben, habe ich es nicht einsehen wollen. Dann ... dann sind sie gegangen, zurück nach Berk. Wir haben uns getrennt. Weil ich nicht von meiner Rache ablassen konnte."

Er streichelte über die Fläche, auf der meine Hand lag.

„Ich war genauso schlimm wie Viggo, w-wahrscheinlich noch schlimmer! Und j-j-jetzt weiß ich nicht, wer ich noch sein kann. Ich kann nicht einfach so weitermachen wie vorher, e-es geht nicht!"

Oh, Astrid.

„Du – du fehlst so sehr! Mir und allen anderen auch. O-ohne dich geht es einfach nicht, es geht nicht! Berk ist komplett erstarrt, niemand lacht mehr, niemand lebt mehr, alle trotten einfach nur weiter. F-fischbein sagt kein Wort mehr, Raff ist total aggressiv geworden, Taff heult die ganze Zeit und Rotzbacke ist so ernst. Ich erkenne sie nicht wieder, keinen von ihnen! Ich erkenne nicht einmal mich selbst wieder, wahr-wahrscheinlich würdest nicht einmal du mich -"

Komm her.

Ich legte meine Stirn gegen die Barriere, gegenüber von seiner. Wir berührten uns nicht, eine simple Handbreit Licht verhinderte es, aber dennoch konnte ich ihn spüren.

Stirn gegen Stirn schwebten wir im Alles und über mich strömten Zuneigung und Mitgefühl hinweg. Wir schwebten einen Augenblick oder eine Unendlichkeit, aber das war beides das gleiche, denn ich war bei Hicks.

So nah war ich ihm noch nie gekommen, trotz der Wand zwischen uns. Denn alle anderen Wände hatten wir eingerissen. Keine Schüchternheit mehr, kein Nicht-Gut-Genug, kein Zögern.

Wir waren wir.

Wir waren innig.

Und mein Herz klopfte, hüpfte, tanzte und ich fühlte mich so lebendig wie noch nie, obwohl ich vor einem Toten stand. Unsere Hände lagen aufeinander, unsere Stirne, unsere Nasen. Die Barriere weichte ein wenig auf und ich jauchzte, wir würden uns berühren! Aber sie ließ uns nicht durch.

Die Liebe konnte die Grenze zwischen Leben und Tod nicht durchbrechen. Sie konnte sie nicht überwinden. Aber sie konnte sie aufweichen.

„Danke."

Warum klagen geflüsterte Worte so viel lauter?

Astrid?

Wir beide schwebten einen halben Schritt zurück, aber unsere Hände blieben aneinander kleben. Wir würden uns nicht loslassen.

Ich liebe dich.

„Ich liebe dich auch."

Weil sie nicht gebrüllt werden mussten, um bedeutsam zu sein.

Unsere Blicke verschränkten sich, gaben einander tausend Küsse, zu denen die Lippen nicht fähig waren. Aber in Hicks' Augen lag Traurigkeit.

„Was ist los?"

Ich will dich nicht verlieren.

„Warum sollten wir uns verlieren? Wir haben uns gerade erst wiedergefunden! Ich bleibe doch bei dir, ich verlasse dich nicht – oder besser noch, ich zerbreche den Kristall, du kehrst in deinen Körper zurück und dann wird wieder alles so wie früher!"

Es geht nicht. Der Kristall hält meine Seele zusammen. Wenn er zerbricht, werde ich Teil des Alles.

„Aber ich bin doch auch nicht in einem Kristall gefangen!"

Du bist auch nicht tot.

„Schön, dann bleibe ich eben hier. Es gibt nichts, wohin ich zurückmöchte, ich bleibe bei dir, ganz einfach!"

Noch immer diese Traurigkeit. Warum diese Traurigkeit? Er sollte nicht traurig sein, wir sollten uns freuen und beieinanderbleiben und uns immer lieben. Es sollte nichts geben, worüber wir traurig sein müssten.

Astrid, du kannst nicht hierbleiben.

„Was soll das heißen, ich kann nicht hierbleiben? Natürlich kann ich hierbleiben!"

Du löst dich vielleicht nicht sofort auf so wie ich, aber es beginnt schon. Sieh dich nur an!

Tatsächlich, meine Arme – zerfaserten sich.

„Von mir aus, dann ... dann kehre ich eben in meinen Körper zurück und komme immer wieder zu dir zurück!"

Er senkte den Blick.

„Was ist?"

Ich ... ich kann das nicht mehr. Gefangen sein. Das Alles, es ruft mich, ich sollte eigentlich ein Teil davon sein. Hier in dem Kristall ... es tut mir weh, er engt mich ein. Jetzt ist er groß, aber manchmal ersticke ich darin. Und wenn du gehst, wird es für dich nur ein paar Sekunden sein, aber für mich jedes Mal eine Unendlichkeit.

Warum fiel mir erst jetzt auf, wie bleich er war? Wie stumpf seine Augen, wie ausgezehrt sein Gesicht? Er litt. Hicks litt hier drinnen. Und ich war die Einzige, die sein Leiden beenden konnte. Aber wäre ich stark genug dazu?

„Wenn wir den Kristall zerbrechen, werden wir uns dann nicht mehr sehen?"

Nichts. Keine Antwort. Nur ein Ballen der Fäuste, ein Senken des Blicks. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das ‚ja' bedeutete.

Tausend Nägel krallten sich in meine Brust, raubten mir die Luft. Das Glas vor meinen Augen färbte sich milchig, zu viel lastete darauf. Schon wieder weinte ich, warum weinte ich so viel in letzter Zeit? Und warum dachte ich nur so unnütze Gedanken anstelle von Ideen, die uns beisammenhalten könnten?

Astrid.

Seine Stirn sank gegen meine, nein, sie sank gegen das Licht. Selbst wenn wir beisammen waren, blieben wir getrennt.

„Ich ... ich habe Angst, Hicks."

Sobald diese Worte sich aus meinem Mund herausgequetscht hatten, schämte ich mich. Ich hatte Angst? Wie konnte ich Angst haben, wenn Hicks ohne zu zögern sein Leben gegeben hatte?

Ist doch normal. Wenn du keine Angst hättest, mich nie wieder zu sehen, dann müsste ich mir Gedanken machen.

Wieder lachte ich und wieder fühlte es sich so natürlich an. Als wäre ich zu nichts Anderem gemacht.

Astrid?

„Hicks?"

Unendlich oft könnte ich seinen Namen sagen, jetzt wo er bei mir war.

Weißt du, manchmal habe ich deinen Namen einfach so ins Alles gerufen und gehofft, dass du mich hörst.

„Damit ich dich finde?"

Ja. Nein. Auch. Damit du weißt, dass ich noch da bin.

Ich lächelte, schüttelte den Kopf.

„Oh Hicks, ich ... ich liebe dich. So sehr."

Es fühlte sich merkwürdig an, diese Worte zu sagen. Sie machten verletzlich und ich hatte immer darauf geachtet, so wenig verletzlich wie möglich zu sein. Aber sie fühlten sich richtig an. Genau richtig. Mit all der Verwundbarkeit.

Denn sie entstand, wenn man das Tor zu seinem Herzen weit aufstieß. Aber nur dann konnte das Schöne hinaus.

Ich bin so glücklich, dass wir uns wiedersehen konnten, Astrid.

Wieder legten wir unsere Köpfe aneinander, wieder verschränkten sich unsere Blicke und wieder tauchte ich ein in seine Augen, die Glanzstellen der Neugierde, die dunklen Gedankenflecken, die bis auf den Grund aller Dinge zu reichen schienen, in das sanfte Liebesgrün.

Und in mir drin verschmolzen Euphorie und Trauer zu einer Erinnerung, die ich nie, nie, nie vergessen würde.

Astrid?

Wieder schwebte er zurück und wieder wollte ich diese verfluchte Barriere zerschlagen, ihn in die Arme schließen und nie mehr loslassen.

Du musst gehen.

Er hatte Recht. Meine Beine konnte man nur als undeutliche Schlieren erahnen, selbst mein Oberkörper zerfloss in das Alles hinein. Und ich hörte Stimmen, sie dröhnten und flüsterten und plapperten und sangen und mein Kopf fühlte sich so schwer an. Sie riefen nach mir, ich solle ein Teil von ihnen werden. Sie zeigten mir Bilder von Orten und Dingen, die mir völlig unbekannt waren, aber dennoch wunderschön und anziehend. Sie sendeten mir Glücksräusche, Geborgenheit, Stolz, Abenteuerkribbeln.

Das Alles war groß und fremd und wunderbar, aber noch gehörte ich nicht hinein. Hicks jedoch presste sich so fest gegen die Wand, dass sich seine Gesichtszüge auflösten. Er verwandelte sich zum Nachtschatten, dann zu einer Kugel aus purer Energie. Schlieren leckten aus ihr hervor, sie explodierte in Sprühnebel, aber immer noch blieb alles im Kristall gefangen.

Jetzt verstand ich, weshalb er mich gebeten hatte, den Kristall zu zerstören.

„Hicks?"

Geflüsterte Worte. So viel schwerer.

Augenblicklich zog er sich wieder zu seiner normalen Gestalt zusammen.

Ich könnte noch tausend Mal ‚Ich liebe dich' sagen, aber ich fürchte, das reicht nicht aus.

Wir lachten. Traten wieder aneinander. Ein letztes Mal legten wir die Köpfe aneinander, wenn auch nur kurz. Ein Abschiedskuss.

Wenn du den Kristall zerstört hast ...

Wie konnte ihm der Satz so leicht fallen? Allerdings war er schon immer derjenige gewesen, der Unangenehmes am besten aussprechen konnte.

In der Höhle befinden sich Bilder. Von einem Nachtschattendorf, das ausgelöscht wurde. Sie wurden alle niedergemetzelt, bis auf einen jungen Drachen. Ich vermute, dass er Ohnezahn war. Und da war noch ein Ei, eine Frau hat es mitgenommen. Wenn es diesen Drachen gibt, dann finde ihn. Bitte. Ohnezahn soll nicht länger alleine sein.

„Natürlich mache ich das. Ich könnte jetzt tausend Mal ‚Ich liebe dich' sagen, aber ..."

Er lachte. Ich hatte ihn zum Lachen gebracht. Bei ihm fiel mir es leicht.

Geh jetzt.

„Hicks ..."

Mir wird es gut gehen. Ich werde frei sein. Es gibt eine ganz neue Welt zu entdecken, eine wunderbare Welt.

Er hob den Blick, sah mir wieder in die Augen.

Und ich habe dich gesehen.

Das war der letzte Satz, den ich hörte, bevor es mich in die Höhle zurückriss. Ich würde ihn für immer im Herzen behalten.

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