Kapitel 25: Heilung

Huhu! Falls ihr euch über die Änderung wundert: ich habe am Ende des Kapitels eine kleine Szene hinzugefügt, damit das Nächste nicht so lang wird. Um es zu verstehen, wäre es ganz praktisch, wenn ihr diese lest. Viel Spaß damit!

Astrid

Wir setzten uns in Bewegung, Sternenwind neben Romi neben Dagur. Ich ging abseits. So brauchte ich nicht sehen, wie Dagur sie anhimmelte und wie sie über das Gefieder ihrer Freundin strich. Brauchte mich nicht an Sturmpfeil und Hicks erinnert fühlen.

Aber ich sah sie doch.

Der Blutfleck auf dem Verband war weiter gewuchert, Schnüffler noch schwächer als zuvor. Er war zu Boden gesackt, sein Kopf baumelte in der Luft. Ein paar Mal versuchte er, ihn anzuheben, dann gab er auf. War ich schuld, wenn er starb? Ich hatte die Abwehranlagen gebaut. Sie hatten schützen sollen, nicht verletzen.

Aber sie waren Waffen. Durch Waffen konnte man nicht schützen.

Sie brachten nur Leid.

Romi kniete sich hin, auch sie trug keine Waffen mehr. Ihre Augenringe schienen sich zu verdunkeln, wahrscheinlich wurde sie einfach nur blasser. War sie das Leid satt? Das Kämpfen?

War ich es satt?

Vor einer Handvoll Minuten hatte ich eine Antwort besessen – hatte die Antwort mich besessen. Doch jetzt wusste ich es nicht mehr. Hass und Leere, Hass und Leere. Würde ich für immer im Stundentakt dazwischen pendeln?

„Ihr hättet die Schulter nicht abbinden dürfen. Das Bein stirbt ab."

Sie fixierte mich, als wüsste sie, dass es meine Tat gewesen war.

„Hätten wir ihn verbluten lassen sollen?"

Meiner Stimme fehlte die Schärfe und so klangen die Worte merkwürdig teilnahmslos.

„Nein, natürlich nicht. Aber ein Druckverband wäre wahrscheinlich angebrachter gewesen."

Sie zog die Schultern hoch. Ließ sie nach viel zu langer Zeit wieder fallen.

„Egal. Jetzt bin ich hier. Dann ist das dritte Feuer immerhin zu etwas nutze."

„Drittes Feuer?"

Immerhin, auch Dagur schien den Begriff nicht zu kennen. Die Besonderheiten der Drachen, das war nie mein Gebiet gewesen. Hicks hatte sich damit so viel besser ausgekannt.

„Eine Art Nebel. Heilnebel."

Weshalb redete sie so leise? Das Rauschen der Wellen verschluckte ihre Stimme fast vollständig. Dass sie zum Boden sprach, verbesserte es nicht.

„Es heißt ... na ja, stimmt eh nicht. Aber hierfür reicht es aus."

Ruckartig richtete sie sich auf, alles Zaghafte fiel von ihr ab.

„Halt das mal."

Sie stopfte Dagur ein Tongefäß in die Hand.

„Messer."

Natürlich starrte er mich an. Genauso ruppig wie sie vorhin stopfte ich ihr das Messer in die Hand. Mit dem Griff voran. Vorerst.

War ich nicht noch vor einigen Sekunden der Meinung gewesen, Waffen brächten nichts Gutes? Ich wusste es nicht mehr.

In Sekundenschnelle trennte sie den Verband auf, zog den Stab aus der Schlinge, wickelte den Rest ab. Zuerst zögerlich, dann immer schneller sickerte das Blut heraus.

„Mach auf."

Erst als ich Dagur meinen Ellenbogen in die Rippen rammte, begriff er, dass er gemeint war. Mit Hündchenblick rupfte er an dem Korken. Sofort ploppte dieser aus dem Hals, ein rötlicher Nebel kroch hinterher.

„Flasche."

Natürlich lächelte er, als sich ihre Finger berührten. Sie schien es nicht einmal zu bemerken, goss Nebel in die Wunde.

Rotgoldenes Licht strahlte aus dem blutigen Loch heraus, spiegelte sich in Romis Gesicht, fing sich in ihren Tränen. Die Blutung stockte, schlief ein. Beinahe lebendig schien dieser Nebel, beinahe magisch. Magisch – seit wann benutzte ich solche Worte? Doch es gab keine besseren.

Das hier war magisch, etwas Außergewöhnliches. Wie der Nebel funkelte, die schwarzen Punkte darin umgekehrte Sterne. Wie die Wunde flacher und flacher wurde, wochenlange Heilung innerhalb weniger Minuten vonstatten ging.

Fast war ich Romi dankbar für diesen Anblick.

Je flacher die Wunde wurde, desto mehr Nebel verschwand. Als würde er sich in Fleisch, in Leben verwandeln. Irgendwann war nichts mehr übrig. Meine Augen brannten von so viel Licht, auch die anderen blinzelten manisch. Dagur umklammerte Schnüffler mit seinem gesunden Arm. Romi beugte sich vor, streifte die Schlinge.

„Ah!"

„Oh nein, tut mir leid!"

Sie rutschte näher zu ihm hin, legte die Hand auf seine Schulter.

„Keine Sorge, ich habe noch von dem Nebel."

„Das macht ..."

„Was haben wir vorhin gesagt? Du hast dich wegen mir verletzt, also bringe ich das auch wieder in Ordnung."

Seit wann hatte sie so etwas wie ein Gewissen? Das alles hier, es war so unwirklich. Ein Traum, verstörend merkwürdig. Es passte einfach nicht. Wie sie sich verhielt, wie ich mich verhielt. Sollten wir uns nicht die Schädel einschlagen, anstatt hier nebeneinander zu sitzen? Ich schüttelte den Kopf, als könne ich dadurch diese klebrige Unnatürlichkeit verscheuchen. Sie blieb und die Sonne verhöhnte mich mit ihren Strahlen, genauso unpassend wie alles hier.

„Komm her."

Romi knotete das Tragetuch auf, woraufhin Dagur zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte. Sein Arm sah ganz normal aus, doch ich hatte gesehen, wie Kotzbacke ihn mit einem Stuhl niedergeschlagen hatte. Rausgekrochen war er aus der großen Halle, von Dutzenden angetrunkenen Wikingern gleichzeitig verprügelt, während ich Romi hinterhergejagt hatte.

„Sternenwind!"

Am Boden war nichts von der Eleganz zu sehen, die die Drachin bei ihren Flugattacken gezeigt hatte. Wenn man ein Wesen mit Federn statt Schuppen als Drachen betrachtete und nicht als überdimensionalen Vogel, der zufällig Feuer speien konnte.

Merkwürdiges Wesen. Widersprach sämtlicher Logik, sämtlichem Wissen. Wie ihre Genossin.

Dagur schmunzelte. Warum schmunzelte er? Da war doch nichts, abgesehen von Romi, die ihre Satteltasche holte. Auch ihr Ausdruck hatte sich auf einmal geändert, verlegen irgendwie. Hatte ich etwas verpasst?

„Danke noch. Für ... du weißt schon."

„Kein Ding. He, wir schrägen Vögel müssen zusammenhalten!"

„Hast du mich gerade als schrägen Vogel bezeichnet?"

„Äh ..."

Dagur schrumpelte zusammen, lief rot an. Sie kniff die Lippen zusammen, wieder diese Falte zwischen ihren Augenbrauen. Dann lachte sie, boxte gegen seinen rechten Arm.

„Find ich gut."

Auch er begann zu lachen – bis sie eine Spritze aus der Satteltasche zog und sich vor ihn setzte.

„Was ist los?"

Anstelle einer Antwort wich er zurück, offensichtlich war seine Angst. Auch Romi ließ auf einmal die Spritze sinken, das Lächeln in ihren Augen verdüsterte sich. Erinnerungen. Nichts sonst hatte eine solche Wirkung.

„Romi?"

Sie schüttelte den Kopf, biss sich auf die Unterlippe.

„Lass es raus."

„Hicks ... ge-genauso hat er reagiert, als ich ihn ... als ich ihn verarztet habe."

Noch näher rutschte Dagur zu ihr hin, kaum eine Oberarmlänge trennte sie noch. Tätschelte ihren Rücken, vorsichtig zunächst, als würde sie bei einer Berührung nach ihm schlagen. Als sie es geschehen ließ, legte er den Arm um sie. Auch hierauf reagierte sie nicht, schlug nicht nach ihm, rannte nicht davon, lehnte sich auch nicht an ihn an.

Ich mochte sie nicht ansehen, keinen von ihnen. Aber ich konnte die Sehnsucht nach einer solchen Umarmung nicht niederschlagen.

Warum bekam sie Trost, sie, die für diese Situation verantwortlich war? Während ich den größeren Verlust erlitten hatte. Während ich mich hatte alleine durchkämpfen müssen und auch jetzt außen vor gelassen wurde. 

Alleine.

Viel zu lange alleine.

Sie zitterte, schnappte nach Luft, schüttelte den Kopf. Verzerrte den Mund, keuchte.

„Und jetzt ist er tot und ... und es hat nicht geklappt. Es hat nicht geklappt!"

Wieder krallten sich ihre Finger in den Oberarm, weitere rote Monde würden entstehen. Aber Dagur löste sie, einen nach dem anderen. Hielt sie fest.

„Was hat nicht geklappt?"

Wieder schüttelte sie den Kopf. Ihr Atem raste, überschlug sich, brandete in Schluchzern, trockene, abgehackte Schluchzer.

„Romi. Wir sind da."

Als könne meine Gegenwart ein Trost sein.

„Du kannst es uns ruhig erzählen. Wir tun dir nichts."

Würde ich das? Ich hätte die Chance, beide wären zu überrascht und aufgewühlt, um sich rechtzeitig zu wehren. Aber so wie sie weinte und keuchte und vornüber klappte – so konnte ich sie nicht angreifen. Dagur zog sie näher zu sich heran, sie blieb auf seiner Schulter liegen. Keine Kraft mehr, um sich aufrecht zu halten. So bekannt, dieser Zustand.

Hatte ich Mitleid mit ihr? Mitgefühl? Sie war meine Feindin, eine Grimborn. Monatelang hatte ich sie leiden sehen wollen. Aber jetzt geschah es und es verschaffte mir keine Genugtuung. Zu sehr erinnerte es mich an mein eigenes Leiden.

„Ich ... ich dachte ... es hieß, das dritte Feuer könne einen ins Leben zurückholen."

Ich brauchte, bis ich die Bedeutung ihrer Worte begriff. Vielleicht, weil sie in Dagurs Schulter genuschelt hatte. Vielleicht, weil sie sie ohne Zusammenhang in den Raum geworfen hatte. Vielleicht, weil es so absurd war. Vielleicht, weil ich es nicht glauben konnte, nicht glauben wollte.

Wir beide hoben den Kopf, Dagur und ich, suchten nach Halt in all dem Wahnsinn. Nach Bestätigung, dass wir das Gleiche ahnten. Denn das hier, das war ...

Nein. Das konnte sie nicht gemeint haben. Sie konnte nicht versucht haben – ich konnte es nicht einmal denken, so verrückt war diese Idee.

Dagur sprach es aus, er war mutiger als ich.

„Romi? Hast du ... hast du versucht, Hicks zurückzuholen?"

Ihr Schweigen reichte mir als Antwort.

Ich sprang auf, wollte rennen, ohne zu wissen, wohin. Rennen, rennen, rennen, bis all das einen Sinn ergab.

Hicks zurückholen.

Nein.

Warum sollte sie das tun? Sie hatte für seinen Tod gesorgt. Wahrscheinlich machte sie uns nur etwas vor, wollte unser Vertrauen gewinnen, um den finalen Stoß zu führen. Uns endgültig zu vernichten.

Aber da gab es nichts mehr zu zerstören.

Ich hatte es so satt. Das ganze Chaos, das ganze Hin und Her, die Hoffnungsbruchstückchen und die anschließenden Enttäuschungen. Nichts blieb von Bestand. Geliebte ging verloren, Freunde ließen einen zurück, Feinde zerbrachen an dem Versuch, die Person, die sie ins Grab gebracht hatten, wiederzubeleben.

Nichts würde einen Sinn machen, selbst wenn ich bis ans Ende der Welt rann.

„Astrid?"

Sie musterten mich besorgt, alle beide. So unwirklich, diese Situation.

„Was?"

„Du ... du weinst."

Tat ich das? Ich fasste mir an die Wangen. Nass. Dagur hatte Recht. Was bedeutete das?

Bedeutete es irgendetwas?

Gab es noch so etwas wie eine Bedeutung?

Schnüffler trottete auf mich zu, legte den Kopf auf meine Schulter. Meine Tränen sammelten sich zwischen seinen Schuppen, er knabberte an meinem Zopf. Ich schloss die Augen und er verwandelte sich in Sturmpfeil. Mein Mädchen, wie fehlte sie mir! Ein wenig Halt, ein wenig Wärme. Dieses ganz besondere Band, freudig und vertrauensvoll und unerschütterlich.

Aber sie war weg. Das Band war zerrissen. Ich machte mir nur etwas vor.

Dagur legte eine Hand auf Schnüfflers Flügel und ich stellte fest, dass wir eine Kette bildeten. Von mir zu Schnüffler zu Dagur zu Romi. Eine Kette, die durch nichts außer flüchtige Berührungen zusammengehalten wurde. Zerreißen würde, zerreißen musste.

Doch ich ließ sie bestehen.


-°-°-°-°-°-


„Astrid?"

Nein. Wollte weitertreiben. Mich von Dunkelheitsschleiern liebkosen lassen, Gedanken in Rauch vergehen sehen. Einfach sein und treiben und vergessen.

„Astrid?"

Sie zerrten an mir, grabschten Löcher in meinen Nachtkokon, durch die sofort die Speere der Sonne preschten und mich durchbohrten. Meine Hände reichten nicht aus, um sie abzuschirmen, mein Kopf viel zu schwer, um ihn in der Armbeuge zu vergraben. Und das Klanggemetzel! Der Sand knirschte, das Meer grollte, Tiere kreischten und ich sehnte mich nach der süßen Stille.

„Astrid."

War das mein Name? War das ich? Wer war ich?

Spielte keine Rolle. Ein Name, das schränkte nur ein. Fesselte einen an Erinnerungen, Erwartungen. In der Nacht, da war man frei. Frei, frei, frei, einfach vergessen und treiben und sein.

Stille und Frieden.

Nachtwogen, die mich umsäumten, die mich bargen.

Geborgenheit.

„Sie schläft wieder ein."

„Lassen wir sie. Sie braucht den Schlaf."

Stimmen. Wessen? Egal.

„Aber hier ist alles nass und windig, sie erfriert."

Über wen redeten sie?

Auch dieser Gedanke löste sich auf, wirbelte davon.

Schwärze streichelte meine Augen.

Stille. Gut.

„Dann tragen wir sie eben hoch."

„Ins Haupthaus? Das schaffen wir nie!"

Diese Stimmen, konnten sie nicht ruhig sein? Sie störten die Stille, den Frieden, störten, störten, störten!

„Nein. Aber es gibt noch andere Häuser."


-°-°-°-°-°-


Daheim. Warm umwebten mich die vertrauten Gerüche, vertrauten Farben, das Knacken der Wände. Holzbretter stützen mich, so stabil und geborgen zugleich. Traumfedern segelten davon, Schlafwolken lösten sich auf, offenbarten Wände, Umrisse, Möbel, die Schilde an den Wänden.

Daheim.

Alles genauso wie früher, jeder Hocker, jede Kiste, selbst die Anordnung der Schilde war die Gleiche geblieben. Wir hatten nichts mitgenommen, wieso auch? Damals hatten wir alles liebend gerne hinter uns gelassen – doch wie gut tat es jetzt, vertraute Dinge zu sehen.

Oder nicht zu sehen, ganz wie ich wollte.

Schließlich konnte ich einfach die Augen schließen, alles ausblenden und trotzdem blieb meine Umgebung das gleiche schützende Nest. Hier war ich geborgen. Egal was draußen passierte, ich war hier in Sicherheit davor.

Eine Illusion, ja, aber eine wohltuende.

Aber ich öffnete die Augen, ich konnte ja entscheiden. Und ich wollte sehen, wollte nicht länger liegenbleiben. Noch einmal würde ich den Fehler nicht machen. Man konnte dreieinhalb Monate vergeuden. Daraus aber nicht seine Schlüsse zu ziehen, wäre dumm.

Ich setzte mich auf, entknotete meine Beine aus der Decke. Waren sie im Schlaf gerannt, hatten sie im Schlaf gekämpft? Unmöglich schien es mir in dieser friedlichen Umgebung. Friedlich? Die Äxte und Schwerter und Speere an den Wänden posaunten etwas anderes. Dumm war ich gewesen, dass ich mich so mit ihnen beschäftigt hatte, so viel Zeit meines Tages in etwas gesteckt hatte, das nur Schmerz und Kummer und Hass erschuf.

Dieser Raum, alles in ihm stammte von mir. Ich hatte ihn entworfen, gebaut, eingerichtet, darin gelebt. Meine Persönlichkeit steckte hier drin. Doch mit einem Mal kam er mir so fremd vor.

Es klopfte.

Augenblicklich sprang ich auf, stellte fest, dass ich neue Kleidung trug. Ein Oberteil, früher offenbar grün, mittlerweile war von der Farbe kaum mehr als ein Todesseufzer übriggeblieben. Es schlackerte mir über die Handknöchel, viel zu groß also, und wieso hätte er es hierhin mitnehmen sollen, wenn er längst andere Kleidung trug? Außerdem war die Farbe falsch, ganz abgesehen davon, dass es doppelt so groß wie das Alte war.

Trotzdem sah es in meinen Augen wie Hicks' altes Hemd aus.

Sollte mich dieser Gedanke trösten? Mich zum Weinen bringen? Ich wusste es nicht.

Die Hose hatte ich behalten, nur der Rock fehlte. Wahrscheinlich hatten sie ihn zum Trocknen aufgehängt, zusammen mit meinen anderen Sachen. Ihre Nässe hatte mir das Leben aus dem Körper gesogen, hatte mich schwerfällig gemacht und taub. Ich vermisste sie nicht.

Um meinen Hals hatte jemand ein Tuch geknotet. Rotes Leinen johlte in den Raum hinein, Stickereien prahlten von längst sinnlosem Geld. Trug Romi nicht so ein Tuch? Ich zerrte an dem Knoten, fummelte die Stränge auseinander und ließ es auf das Brett segeln. Dann öffnete ich die Tür.

Dagur setzte zu einem weiteren Klopfen an, bremste kurz vor meiner Stirn ab. Grinste. Wo nahm er immer dieses Grinsen her? Bei ihm schien es so leicht, so selbstverständlich.

„Du bist wach?"

Was sollte man darauf antworten? Er sah es doch.

„Schön, dass es dir besser geht."

Er schien es ernst zu meinen. Meinte er es ernst? Und – hatte er Recht?

Gut ging es mir nicht. Das würde sich wahrscheinlich nie einstellen. Aber besser ... das schon.

„Habt ihr mich hierhin gebracht?"

„Also die Nachtschrecken waren es nicht!"

Er zwinkerte. Ein Lächeln hauchte an mir vorbei, erfasste mich für einen Wimpernschlag. In dem Moment, als ich es bemerkte, zerrann es wieder. Ich blinzelte, biss mir auf die Lippen.

Ich hatte gelächelt.

„Danke."

„Immer doch! Hast du Hunger? Du hast sicher Hunger! Ich habe Pfannkuchen gemacht – Ber-serker-pfann-kuchen"

Sein Flöten entfachte ein weiteres Lächeln. Hauchlächeln, Funkenlächeln.

„Die kann ich wohl nicht verpassen."

Konnte man scherzen, obwohl das Lachen verdorrt war? Offenbar schon.

Dagurs Augenbrauen hüpften in die Höhe, wer rechnete schließlich mit einem Witz von mir? So oft hatte ich dieses Hüpfen in den letzten Tagen gesehen. Ein Anker. Irgendwie. Auch wenn sein Auftauchen dafür gesorgt hatte, dass meine Freunde mich verlassen hatten, auch wenn er ein Berserker war und in Romi verliebt, auch wenn ich nur gezwungenermaßen mit ihm mitgekommen war – Dagur sollte nicht gehen. Ich brauchte ihn, seine lockere Art, mit der er Minenfeld um Minenfeld entschärfte, mich zum Lächeln brachte.

„Na, dann komm!"

Er hakte sich bei mir unter, zog mich mit. Und ich folgte.


-°-°-°-°-°-


Die Berserkerpfannkuchen waren toll. Sie schmeckten nach Lachen, nach Freundschaft und Vertrauen, nach Taffs Schwärmereien über Heidruns Kochkünste, Raffs verrückten Gesprächsthemen, Rotzbackes Prahlereien, den leisen Diskussionen zwischen Fischbein und Hicks. Der Stapel schrumpfte und schrumpfte, ich wusste, wie Dagur und Romi mich beäugten, aber das war mir egal. Ich aß weiter. Aß und aß und aß und aß. Immer zwei Pfannkuchen packte ich auf meinen Teller, nach einer Handvoll Bissen nahm ich mir neue.

Sie würden nichts zurückbringen. Das meiste Glück verdampfte, wenn man es in Pfannkuchenteig briet. Aber selbst wenn es nur ein schaler Nachhall war, ich würde mir nicht den winzigsten Krümel davon entgehen lassen.

„Da mag jemand mein Essen noch lieber als du."

Romi verschränkte die Arme.

„Wie kommst du drauf, dass ich dein Essen mag?" 

„Jeder mag mein Essen!"

Sie schnaubte, lehnte sich zurück. Die Pfannkuchen drückten schon gegen meinen Magen, quetschten sich aneinander vorbei, tummelten und boxten und ich fragte mich, ob ich nicht doch zu viel gegessen hatte.

„Und außerdem hast du ebenfalls jeden einzelnen verputzt. So schnell habe ich noch nie jemanden essen sehen. Außer natürlich Astrid. Den Rekord hat sie eindeutig geknackt! Oder die Leute beim Yakkeulen-Wettessen, die stopfen die Dinger vielleicht in sich hinein."

„Yakkeulen-Wettessen. Eine weitere Berserkerspezialität?"

Romis Stimme schwankte zwischen Belustigung und Genervtsein.

„Ne, ne, ist eine internationale Sportart. Den letzten Wettkampf hat Taffnuss gewonnen, ich war Schiedsrichter. Seine Schwester hat mich damals fast verprügelt – aber ehrlich, er hat sogar die Knochen gegessen, da muss er den Pokal kriegen!"

Gleichzeitig verdrehten wir die Augen, blickten dann hastig zu Boden.

Dieses verdammte Spiegeln.

Es sollte aufhören, mit ihr wollte ich keine Gemeinsamkeit haben! Wir konnten uns nicht ähnlich sein, durften uns nicht ähnlich sein. Vielleicht war Rache keine Lösung, aber mich mit ihr unterhalten, im gleichen Raum sitzen, das konnte ich nicht.

Ich schaffte es nicht.

Der Stuhl kippte nach hinten, unter meinen Füßen schmolz der Boden und die Pfannkuchen rebellierten immer heftiger. Ich hastete nach draußen, weg von dieser viel zu drückenden Wärme, diesem viel zu hellem Licht. Gerade rechtzeitig schaffte ich es auf die Plattform, bevor die halbverdauten Pfannkuchen auf das Holz platschten.

Jeden schien ich einzeln hochwürgen zu müssen, die einzelnen Schwalle verbeulten meine Speiseröhre und verätzten meinen Mund. Ich knallte auf die Knie, stützte mich mit einem Arm ab. Er zitterte so sehr, dass ich befürchtete, er würde unter mir nachgeben und ich in das Erbrochene stürzen.

Noch immer nahm und nahm und nahm es kein Ende, jemand griff unter meinen Arm und zog mich hoch. Die Flüssigkeit blieb im Magen, wahrscheinlich war einfach keine mehr übrig, aber ich würgte weiter und weiter. Würgte Luft, würgte Hass, würgte Schmerz und Verbitterung und Einsamkeit und Frustration. Jemand flüsterte mir zu, Dagur. Sätze, die wohl beruhigend sein sollten, aber sein „Ich hab dich" verwandelte das Würgen lediglich in Schluchzer.

Ich hustete mehr als dass ich weinte, keuchte die Schluchzer genauso trocken hervor wie Romi gestern. Und immer noch wollte ich würgen, würgen, würgen, aber da gab es nichts mehr. Alles, was mich noch ausmachte, hatte ich schon auf die Balken erbrochen. Ein Haufen Kotze, mehr war ich nicht. Kotze, Kotze, Kotze.

Dagur strich mir über die Schulter, aber ich schob seine Hand weg, schob ihn weg. Brach abermals zusammen, den Kopf auf den Knien. Mein Zopf rutschte von meinem Rücken herunter, in das Erbrochene hinein. Jemand kniete sich neben mich, er wahrscheinlich, denn Romi presste sich immer noch an die Wand und ekelte sich dort vor mir. Hatte auch allen Grund dazu: meine Kotze, mein Heulkrampf, mich.

„Astrid."

Ich schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten. Unfähig. Wann war ich in den letzten Monaten zu etwas fähig gewesen, abgesehen von Rachegelüsten? Rachegelüsten, als hätte Hicks mir nicht längst einen besseren Weg gezeigt gehabt.

Hicks. Hickshickshickshickshickshickshicks.

Verriet ich ihn mit dem, was ich tat; würde er mich hassen, wenn er mich sah; wo war er; warum war er mir genommen worden? Er fehlte mir, ohne ihn kam ich nicht zurecht. Ohne ihn war ich genau die Sorte Person geworden, die ich immer hatte bekämpfen wollen: verbittert und grausam. Ich hatte Dagur gewürgt! Einen Unschuldigen, hatte ihn aus Zorn angegriffen und später noch einmal, weil er mir im Weg stand. Selbst mit einer Auftragsmörderin hatte ich mich eingelassen. So wollte ich nicht sein, ich wollte es nicht!

Diese Astrid, niemals hätte Hicks sie geliebt. Nicht einmal ich liebte sie. Ich hasste sie, dieses Zornmonster, diese Hassmaschine. Die anderen waren zu Recht gegangen.

Die anderen. Sie waren meine Freunde gewesen. Freunde. Und ich hatte sie davongetrieben.

„Astrid."

Arme. Umarmung. Wärme. Halt.

Dagur umarmte mich, mein Kopf pendelte auf seiner Schulter, benetzte sie mit Tränen, so vielen Tränen. Und ich schluchzte und keuchte und hustete und wimmerte.

Aber da waren Arme. Umarmung. Wärme. Halt.

Und ich merkte, wie etwas schon längst Verdorrtes langsam aufweichte, wie der Drang zu würgen zu einer Sehnsucht nach Luft wurde, nach Zukunft, nach Heilung.

Heilung.

Konnte es so etwas geben? Manche Wunden heilen nie, dessen war ich mir sicher gewesen.

Aber ich hatte den Wunsch nach Rache zurückgedrängt. Hatte gelächelt und jetzt weinte ich.

Vielleicht hatte ich nur einen falschen Pfad eingeschlagen.


-°-°-°-°-°-


Dagur stütze mich auf dem Weg zu meinem Haus. Früher hätte ich das nie zugelassen, wäre um jeden Preis selbst gelaufen. Aber ich schaffte es nicht. Schaffte es nicht alleine.

Grauer Dunst hing über uns, eine eintönige Masse, die den Himmel von der Erde trennte. Wie gerne wäre ich jetzt geflogen, hätte die Brühe durchstochen und die Sonne, das endlose Blau gesehen! Hätte mich daran erinnert, dass es noch Licht gab, noch Leben, noch Schönes. Doch Sturmpfeil war weg und ohne sie waren mir die Flügel gestutzt. Ich musste unten bleiben, dort wo alles grau war und trist und leer.

Nicht einmal erahnen konnte man die Sonne hinter all dem Dunst. Sie war weg, genauso wie Hicks, genauso wie Sturmpfeil. Ich hätte nicht einmal sagen können, welche Tageszeit wir hatten – geschweige denn, wie viele Tage bereits vergangen waren. Die Zeit löste sich auf hier. Ein schlammiger Fluss ohne Anhaltspunkte am Ufer, riss einen mit, bis man komplett die Orientierung verlor. Lediglich einige Felsen konnten einem Halt geben konnten – oder einen zerschmettern.

Ich wollte nicht mehr.

Mein Hals kratzte von der Kotze und meine Nase tränte, wahrscheinlich hatte ich mich bei dem Sturz ins Meer erkältet. In dieses blöde Meer vor dieser blöden Insel mit diesen blöden Leuten. Ja, ich benahm mich albern, aber ich. Wollte. Nicht. Mehr. Es reichte mir mit dem Hass, dem Weinen, der Leere, den Zusammenbrüchen. Mit den verkrampften Gesprächen, den Kämpfen, den mitleidigen Blicken –

Warum weinte ich schon wieder? So viel wie in den letzten Tagen hatte ich allerhöchstens in meinem ganzen vorherigen Leben geweint. Es sollte aufhören, aufhören, aufhören!

Dagur blieb stehen, legte auch seinen anderen Arm um mich. Ich blieb steif. Er versuchte, mich zu trösten, und das war mehr, als irgendeine andere Person in letzter Zeit für mich getan hatte.

Aber es war nicht seine Umarmung, nach der ich mich sehnte.

„Gehen wir weiter."

Wo kamen die Worte her? Mein Mund musste sie eigenständig erschaffen haben, denn in meinem Geist herrschte Dürre.

„Leute? Wenn ihr wollt ... also, ich kann euch zu ihm bringen."

Zu ihm. Zu Hicks.

Zu Hicks!

Zuhickszuhickszuhickszuhicks!

Mein Burstkorb schnürte sich zusammen, in meinem Magen brodelte es. Der fast schon versiegte Strom der Tränen begann wieder zu tropfen, zu rinnen, zu fluten.

Zu Hicks.

„Romi, sie ist noch nicht so wei-"

„Doch. Bin ich. Bring mich zu ihm."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top