Kapitel 24: Spiegelbilder
Astrid
Grimborn.
Augenblicklich sprang ich auf. Die Tränen schnellten in meinen Körper zurück, ein Panzer aus Eisen umschlang mich innerhalb von Sekundenbruchteilen, alles Verletzliche verdorrte zu Stein. Ich griff nach meiner Axt, doch sie war nicht mehr da. Versunken auf dem Grund des Meeres, jetzt, wo ich sie am dringendsten brauchte. Dann musste ich mich eben mit Worten begnügen, Worte, die sie qualvoll in kleine Fetzen reißen würden.
„Du!", fauchte ich.
Nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte, aber der Hass hatte alles Andere aufgefressen. Grimborn starrte aus Kaninchenaugen zu mir hoch, rührte keinen Muskel. Dies war der Moment, wir wussten es beide. Der Moment, in dem ich sie vernichten und einen kleinen Teil der Ordnung wiederherstellen würde. Doch nichts passierte.
Jahrhunderte standen wir uns gegenüber, schauten uns an. Und die ganze Zeit sah ich sie als mein Spiegelbild. Der gleiche Hocker, die gleiche zusammengesunkene Haltung, die gleichen Tränen. Die gleiche trotzige Verzweiflung, die gleiche Abscheu vor der Welt und vor sich selbst. Das Bild lähmte mich, fesselte mich, schmolz meinen Panzer zusammen.
Dann schniefte sie und brach den Bann.
„Was hast du hier zu suchen? Das war unser Ort! Wir haben ihn errichtet, gemeinsam mit Hicks! Du hast nicht das geringste Recht, hierher zu kommen!"
Mein Zischen bohrte ein Loch in ihre Starre. Ihr Mundwinkel zuckte, bebend zog sich ihre Unterlippe in die Breite. Sie krallte ihre Nägel in den von Dutzenden sichelförmigen Druckstellen übersäten Unterarm, kniff die Augen zusammen. Als sie sie öffnete, strömten stumme Tränen heraus. Spiegeltränen.
Ich stampfte den Gedanken zu Boden, pulverisierte ihn und fackelte die Überreste zu Asche. Hart musste ich sein, hart und scharf und grausam und ich verfluchte mich dafür, dass ich die Axt hatte versinken lassen.
„Sag schon!"
Diese Stille, sie war schlimmer als alles. Konnte man es noch als Stille bezeichnen, wenn sie so dröhnte? Doch das Schlimmste waren die Erwartungen, die sie mir zuraunte. Erwartungen nach etwas, wonach ich mich monatelang gesehnt hatte, es aber nicht tat. Warum?
Die Verräterin antwortete nicht, hechelte bloß doppelt so schnell wie zuvor und ich hasste sie dafür. Hörte sie nicht, wie uns die Stille Forderungen zubrüllte? Meinte sie, es wäre einfacher, wenn wir sie ignorierten?
Ein Windstoß fegte die Tür zu. Die zweite Schale schepperte, kippte vom Tisch und zersprang. Eintopf platschte auf den Boden.
Warum musste ich ihr ausgerechnet hier begegnen, wo sich die Erinnerungen genauso aufdrangen wie der widerlich saure Geruch der Matsche? Warum hier, wo ich Hicks über Frieden reden hörte und Dagur darüber, dass er das nicht gewollt hätte? Warum hier, wo die bittersüße Melancholie den Hass in den Schlaf wiegte, bis er nur noch schlurfte, anstatt sie anzufallen; gähnte, anstatt sie zu zerreißen; sich einmummelte und verstummte?
Ich ballte die Faust, vielleicht würde ihn das aufwecken. Aber er regte sich nicht und auch ich war auf einmal nur noch müde. Finger lockerten sich, der Kopf kippte vornüber. Und dann setzte ich mich hin, als wäre es nicht das exakte Gegenteil von dem Drang, dem ich monatelang nachgehetzt war. Setzte mich neben den Hocker, faltete die Arme und bettete den Kopf darauf. Spiegelhaltung.
Doch ich war zu erschöpft, um etwas daran zu ändern.
-°-°-°-°-°-
Irgendwann blickte ich sie doch an. Es ließ sich einfach nicht vermeiden, wie sehr ich es auch versuchte.
Ihre Lider flackerten auf, als sie meinen Blick auf sich ruhen spürte, aber sie blieb sitzen. Keine Kraft mehr. Mit aller Macht verbannte ich die Erkenntnis, wie ähnlich es uns beiden in diesem Moment ging. Sie war eine Verräterin, hatte Hicks' Ermordung herbeigeführt. Zwischen uns gab es keine Gemeinsamkeit.
Ihr Gesicht war noch schmaler geworden, noch kantiger. Die Augen versanken fast vollständig in den überschatteten Höhlen. So deutlich war die Ähnlichkeit zu ihren Brüdern nie gewesen.
Sie musste sie ja auch nicht mehr verbergen. Niemanden mehr täuschen, sie hatte ihr Ziel schließlich erreicht. Aber dennoch, ihr Gesicht war nicht das einer Person, der es blendend ging. Vielmehr das von jemandem, der sich hatte durchkämpfen müssen, der das verloren hatte, was ihn am Leben hielt.
Am meisten irritierten mich jedoch die Haare. Sie streiften gerade mal ihr Kinn, ein ungewohnter Anblick nach den bis zur Taille baumelnden Bauernzöpfen. Vielleicht, weil sie sie so anders wirken ließen. Älter. Nicht länger das ach so unschuldige Mädchen, das uns alle an der Nase herumgeführt hatte. Nicht länger das Bild, das der Hass in mein Gedächtnis gebrannt hatte.
Nach einer Weile stand sie auf, wischte tonlos die verschüttete Pampe weg und sammelte die Scherben auf, als wäre das hier ihr Zuhause. Selbst als definitiv nichts mehr auf dem Boden lag, kreiste ihr Arm weiter. In der Ecke lag ein Strohsack, erst jetzt bemerkte ich ihn.
„Wie lange bist du schon hier?"
Sie zuckte mit den Schultern, senkte den Kopf.
„Keine Ahnung. Ein paar Wochen?"
Schweigen senkte sich wieder über uns. Was sollte man auch sagen in so einer Situation? Noch immer forschte ich nach dem Hass, doch er war wohl mit der Axt versunken. Nie, nie, niemals hätte ich herkommen dürfen! Anderthalb Meter und einen Messerstich entfernt stand ich vor der Erfüllung meines Ziels, aber dieser Ort saugte meine Entschlossenheit auf.
„Warum bist du hierhergekommen?"
Ich zuckte mit den Schultern, senkte den Kopf.
„Keine Ahnung. Keine andere Wahl?"
Spiegelbilder. Verfluchte Spiegelbilder. Und doch konnte ich nichts dagegen tun.
„Und du?"
Weshalb ich fragte? Ich wusste es nicht. Um die Stille fernzuhalten. Die Stille und die Erinnerungen und die Gedanken.
Ein merkwürdiges Geräusch entfuhr ihr, teils Prusten, teils Schluchzer. Was Dagur wohl machte? Wenn er erfahren würde, dass seine Angebetete hier oben saß, käme er bestimmt sofort heraufgestürzt.
Sie schmunzelte, doch die Schwere in den Augenwinkeln blieb.
„Keine andere Wahl. Sternenwind hat mich hergebracht. Nicht ganz freiwillig. Ich meine, ich hätte wieder gehen können, aber ..."
„Ach, die gibt's auch noch? Ich dachte ..."
„Was? Dass ich nur so getan habe, als wäre sie mir wichtig, um mich bei euch einzuschleimen? Natürlich gibt es sie noch, sie ist meine beste Freundin. Wir würden uns nie voneinander trennen."
Erinnerte sie mich mit Absicht an Sturmpfeil? Auch sie war meine beste Freundin, auch von ihr hatte ich mal gedacht, wir würden uns nicht trennen.
„Aber ich habe sie nirgendwo gesehen."
Es klang rechtfertigender, als ich wollte. Warum verteidigte ich mich, sie war die Anzuklagende!
„Ist Fischen geflogen. Später kommt sie aber zurück."
Sie machte eine entschuldigende Kopfhaltung. Wenigstens rechtfertigte ich mich nicht als Einzige.
„Da wird Dagur aber überrascht sein."
Ihre Haare hüpften nach oben, als sie sich aufrichtete.
„Dagur? Was macht er denn hier?"
„Er hat mich hergebracht. Nicht ganz freiwillig."
Warum machte ich das, warum spiegelte ich sie? So vieles, was ich an mir nicht verstand, so viele irrationale Handlungen. Es musste der Ort sein.
„Und er ist ...?"
Ihre Hand fuchtelte herum, eine kleine Falte hatte sich auf ihrer Stirn gebildet.
„Unten am Strand. Die Abwehranlagen haben Schnüffler in die Schulter geschossen. Ich habe den Pfeil versorgt, aber ich bin keine Medizinerin."
Nun sprang sie endgültig auf. Leben funkelte in ihren Augen, die zuvor noch dasselbe stumpfe Blau wie die meinen gehabt hatten. Und genau dieses Leben rief einen Bruchteil des Hasses zurück. Denn mir würde es für immer verwehrt bleiben.
„Aber ich! Aber ich bin Medizinerin! Und ... ja, das würde gehen!" Sie schnalzte mit der Zunge, verzog den Mund. „Dann wäre es wenigstens nicht umsonst gewesen."
Sie federte auf mich zu, in ihren Zügen jubelte das Mädchen von früher.
„Geh schon mal zu Dagur, sag ihm, dass ich komme. Es dauert aber eine Weile, ich muss noch ein paar Sachen besorgen."
Mit diesen Worten fegte sie aus dem Clubhaus, ließ mich alleine zurück mit den Erinnerungen, die mich umzirkelten, mich anfauchten, verhöhnten, nach mir schnappten, mir trügerisch die Wangen streichelten und dabei ihr Gift einflößten.
Denn auch Glück konnte zum Gift werden, wenn es einem geraubt wurde.
-°-°-°-°-°-
Dagur war nicht am Strand. Nichts als grauer Sand, graue Felsen und graue Wellen, Schlick und ein paar zur Hälfte verfaulte Stöcke. Und Schnüffler, der sich von einer Seite auf die andere warf, ächzte und sein linkes Vorderbein merkwürdig angewinkelt hielt. Aber wenn er hier war – wo war dann Dagur? Er würde ihn nicht zurücklassen, schon gar nicht mit solch einer Verletzung.
Meine Schritte beschleunigten sich, auf dem glitschigen Sand schlitterte ich nur so umher. Ein ums andere Mal bellte ich seinen Namen. Keine Antwort. Was, wenn jemand ihn angegriffen hatte, ihn entführt oder umgebracht? Die Drachenjäger waren schließlich nicht verschwunden, auch wenn es in der letzten Zeit keine Attacken gegeben hatte. Jetzt wo das zukünftige Oberhaupt Berks tot war und die Drachenreiter keine Angriffe mehr flogen, stellte Dagur die einzig wirkliche Gefahr für sie dar – also warum nicht ihn entführen oder Schlimmeres? Dass sie davor nicht zurückschreckten, hatten sie ja schon bewiesen.
Und Romi – was, wenn sie mir eine Falle gestellt hatte, mich nur von ihm hatte fernhalten wollen? Es passte, alles passte!
Abgesehen davon, dass es keine Zeichen eines Kampfes gab. Kein aufgewühlter Sand, keine hingeworfenen Waffen, keine Blutspuren. Selbst Schnüffler verhielt sich abgesehen von seinen Schmerzen normal.
Japsend kam ich neben ihm zum Stehen, er wälzte sich zu mir und rieb seinen Kopf an meinem Oberschenkel. Ich kniete nieder, tätschelte seine Stirn.
„Sag mal, kannst du mir sagen, wo Dagur ist?"
Er wackelte mit dem Kopf in Richtung seiner anderen Seite. Sollte er dahinter sein? Aber selbst wenn er schlief und mich deshalb nicht gehört hatte – weshalb hatte ich ihn dann nicht von den Klippen aus gesehen?
Ich ging um Schnüffler herum. Nichts. War sein Zeichen nur ein Zucken vor Schmerz gewesen? Die Satteltasche lag auf dem Boden, daneben sickerte Wasser aus einem Trinkschlauch. Dort vorne hatte jemand ein Loch gegraben, ungefähr handtellergroß. Und hier – hatte der Sand nicht eine merkwürdige Farbe? Dunkler irgendwie und gröber. Ich ging in die Hocke. Ja, der Sand fühlte sich lockerer an. Machte noch einen Schritt.
Der Boden sackte unter mir zusammen, mein Knöchel verbog sich und etwas schlug gegen meine Stirn. Schreie mischten sich mit einem Klingeln, von dem ich ganz genau wusste, dass es nichts Gutes bedeutete. Jede Sekunde veränderte sich der Untergrund, eine Art Stöcke wackelten unter mir, etwas trat mich in die Seite. Jemand keuchte meinen Namen und etwas, das sich nach „runter da" anhörte, ein roter Haarschopf tauchte auf und erst jetzt realisierte ich, worauf ich da gelandet war.
„Warum bei Thor gräbst du dich in den Sand?"
„Ich war nass, mir war kalt und – könntest du bitte von mir runter gehen?", quietschte Dagur, „Mein ... autsch ... Arm – ah!"
Gebrochener Arm, stimmt. So schnell wie möglich stemmte ich mich hoch, wobei Dagur noch mehr aufschrie. Fast wäre ich noch einmal gestürzt, so sehr wie sein Knie unter mir schwankte. Gerade noch rechtzeitig klammerte ich mich am Rand der Grube fest und hievte mich hoch. Anschließend kraxelte Dagur heraus, mit ein wenig Hilfe von mir. Wir setzten uns hin, er verknotete die Beine zu einer Art Schneidersitz, ich schlug sie einfach unter. Dagur betastete seinen Arm, zog Grimassen. Dann wandte er sich mir zu.
„Also, warum kommst du mich besuchen? Langweilig da oben?"
„Nicht so ganz."
Ich biss mir auf die Lippen, rutschte hin und her.
„Was ist es dann? Vermisst du mich schon? Wolltest du nach Schnüffler sehen? Oder ..."
Dieses Grinsen, dieses verrückte Grinsen, das mich fast zum Schmunzeln brachte.
„Wurdest du da oben von einer blaugrün gestreiften Horde von Schrecklichen Schrecken überfallen?"
„Es gibt keine – oh."
„Ha! Ich hab dich abgelenkt! Brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen."
Das Grinsen wurde noch breiter, sein halbes Gesicht verschwand darin und ich senkte den Kopf in meine Hände, raufte mir die Haare, warf ihn in den Nacken zurück.
„Kannst du nicht eine Sekunde lang ernst sein?"
„Ich wollte dich doch nur zum Lachen bringen! Dich von dem ganzen Kram ablenken."
Das war ... nett, glaubte ich. Doch es machte mir nichts einfacher. Im Gegenteil, es lenkte mich von dem ab, weswegen ich hier war. Schlechte Nachrichten ließen sich so viel schwerer überbringen, wenn der Empfänger sich freundlich verhielt.
„Dagur. Ich bin Romi begegnet. Sie kommt gleich."
Sein Grinsen schmolz zu einem Löchlein, gegenläufig dazu krochen die Augenbrauen in die Höhe.
„Wie – was – Romi? Bist du dir sicher?"
„Ja, bin ich."
Mit ruderndem rechtem Arm sprang er in die Höhe, sein Kopf zuckte in alle Richtungen.
„Sie kommt – aber wieso? Jetzt?"
„Nicht jetzt. Sagte, sie muss noch etwas holen. Wollte sich Schnüffler ansehen, sie ist ja ‚Ärztin'."
Die Gänsefüßchen nahm Dagur mir übel, die Falte auf seiner Stirn zeigte es deutlich an. Wie einfach man ihm jede seiner Stimmungen ablesen konnte! Mein Gesicht zeigte nicht viel mehr als eine blanke Wand, dessen war ich mir sicher.
„Schnüffler ansehen? Aber ... aber ... vielleicht heilt sie ihn ja! Sie kommt und heilt Schnüffler, ist das nicht ..."
Jetzt rannte er auch noch den Strand zu Gräben. Aufgescheuchter Gockel. Dass jemand wie sie ihn so beleben konnte! Wenn er jetzt auch noch anfing, ihren Namen zu singen ...
„Sie kommt, sie kommt, sie kommt, sie kommt ..."
Nicht viel besser.
Das würde lustig werden, am selben Strand mit einem verletzten Drachen, Platz zwei meiner Hassliste und einem liebesverrückten Berserker.
-°-°-°-°-°-
Grimborn ließ auf sich warten. Natürlich. Mittlerweile musste die Sonne den Höchststand überschritten haben, immer häufiger blitzte sie zwischen den Wolken hervor. Das Licht stach mir in die Augen, ich war es nicht mehr gewohnt. Beinahe wünschte ich mir den Sturm zurück, sein Tosen hätte wenigstens Dagurs Summen übertönt. Summen, wie ein überdrehtes Kleinkind. Es klang falsch an diesem Ort, genauso falsch wie die sengenden Sonnenstrahlen, die mildere Luft.
Nein, die Drachenklippe war ein Ort des Friedens und des Lachens gewesen. Ich passte nicht herein mit meiner Kälte und meinem Hass.
Der Hass, der vorhin zu einem ekelhaft weichen Etwas zerflossen war. Noch einmal durfte das nicht passieren. Noch einmal würde ich mich nicht von meinem Ziel abbringen lassen. Sie würde wiederkommen und ich würde handeln. Und mir würde niemand im Weg stehen, weder irgendwelche Erinnerungen, noch dieser Säuselnarr.
„Dagur."
Verklärt starrte er mich an.
„Dagur."
Erst, als ich an seiner Schulter rüttelte, schärfte sich sein Blick – doch dieser treudämliche Gesichtsausdruck blieb. Meinetwegen. Das würde mir die Sache leichter machen.
„Was?"
„Schnüfflers Verband ist blutdurchtränkt."
Keine Lüge. Schließlich musste er mir bis zum letzten Moment vertrauen. Wie erwartet, federte er sofort in die Richtung des Drachen. Ich hinterher.
Er kraulte ihn unterm Kinn. So vertraut dieses Ritual, so fremd.
Beugte sich über die Schulter, betastete den Verband.
Jetzt.
Meine Hand schoss zur Halsschlagader vor, drückte drauf.
Eins.
Dagur sträubte sich nach vorne, ich verstärkte den Griff und schlang meinen anderen Arm um seinen Bauch.
Vier. Fünf.
Etwas knallte gegen meine Stirn, ich taumelte nach hinten. Mein Sichtfeld bekam Löcher, zwischen ihnen sah ich Dagur mich anfallen. Ich streckte die Beine aus, nutzte seinen Schwung und katapultierte ihn nach hinten. Sprang auf, wie in hunderten Kämpfen davor. Ließ ihm keine Zeit zum Aufstehen, presste ihn zu Boden, doch er schleuderte sich herum und nagelte mich fest.
„Was tust du da?"
„Es ist ... zu deinem Besten."
Knie in den Magen und er krümmte sich zur Seite, meine Chance. Aber er blockte, blockte, blockte meine Schläge, zog mir die Beine weg. Rolle und hoch, keine Verletzung, aber auch er hatte die Zeit zum Aufstehen genutzt.
„Zu meinem Besten?!"
Sand in den Augen, ah, dieser Mistkerl! Er packte mich an den Schultern, dummer Fehler. Bein vor, Hebel und er knallte zu Boden.
„Du hättest dich nicht wehren sollen! Das hätte es für alle am Einfachsten gemacht!"
Jetzt hatte ich den Punkt, drückte drauf. Er merkte es, kämpfte, doch ich fixierte seine Gliedmaßen.
„Du wirst ... sie nicht ... angreifen!"
Gleich. Gleich hatte ich ihn. Fünf Sekunden noch, sonst würde es gefährlich. Er sollte bewusstlos werden, nicht sterben. Sein Zappeln schwächte schon ab, die Augen flackerten hin und her. Rissen plötzlich auf.
„LASS IHN IN RUHE!"
Romi trat in meine Seite, ich schlitterte über den Sand. Zu spät. Ich hatte versagt, musste es mit zwei Gegnern aufnehmen.
„DU WIRST IHN NICHT VERLETZEN!"
Hinter ihr baute sich ihr Drache auf. Silberner Nebel waberte um das Maul, fressende Kälte, wenn ich mich richtig erinnerte. Sie würde sich mit jener in mir vereinen und gemeinsam würden sie mich vernichten.
Also fegte ich nach vorne, wenigstens Grimborn würde ich mitnehmen. Auch sie donnerte auf mich zu, die gegenüberliegende Hand erhoben. Wir beide wussten um die Todespunkte, die ein Leben mit einem Schlag beenden konnten.
Keine von uns würde einen Zusammenstoß überleben.
Sie hob den Blick und ich auch und für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Ihr Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, blauer Stahl sprühte Funken und ich erkannte, dass wir selbst in unserem Zorn Spiegelbilder blieben. Ich erkannte es und sie erkannte es auch.
Vielleicht blieben wir deswegen stehen, als Dagur zwischen uns sprang.
„Halt! Was ist denn in euch gefahren? Ich erkenne euch nicht wieder, keine von euch!"
Schon wieder drohten die Tränen, aus seinen Augen überzulaufen. Romi öffnete die Fäuste, strich sich eine Haarsträhne aus dem geröteten Gesicht. Blickte zu Boden, wie ein gescholtenes Kind.
Ich hingegen reckte das Kinn in die Höhe.
„Geht es dir gut?"
Er drehte mir den Rücken zu. Unsichtbar, das war ich für ihn.
„Verletzt bin ich nicht, falls du das meinst."
Grimborn tapste ein Schrittchen nach vorne, zu ihm hin. Wenn er nicht zwischen uns gestanden wäre, ich hätte sie in Stücke gerissen. Aber er war unschuldig, kein Krieger mit einem letzten Pfützchen Ehre griff einen Unschuldigen an. Und niemals hätte Hicks mir so etwas verziehen.
„Was machst du hier?"
Die Frage richtete sich an Romi, natürlich, dennoch fühlte ich mich angesprochen. Was machte ich hier?Weswegen stand ich hier rum, weswegen tat ich nichts?
„A-astrid hat gemeint, Schnüffler hätte eine Pfeilwunde. Aber was machst du hier? Dein Arm ist gebrochen, du solltest dich auf der Berserkerinsel ausruhen!"
Er zuckte mit den Schultern. Wie konnten sie sich so ruhig unterhalten, wenn neben ihnen eine Person stand, die sie vor einer Minute noch attackiert hatte?
„Ich kann dich doch nicht alleine durch die Gegend fliegen lassen! Alle suchen nach dir, du gerätst noch in Schwierigkeiten!"
„Ich? Du wärst doch beinahe erwürgt worden!"
„So leicht kriegt man mich nicht aus dem Weg. Ich bin nämlich unkaputtbar!"
Spinner. Auch Romi rollte mit den Augen.
„Dagur der Unkaputtbare. Ne, das klingt zu sehr nach Spaten. Sollte ich einfach bei ‚der Tolle' bleiben? Oder -"
„Halt die Klappe!", würgten ihn zwei Stimmen ab.
Schon wieder diese Spiegelei. Es fühlte sich so komisch an, es sollte aufhören. Auch Romi drang die Verwirrung aus allen Ritzen.
„Ha, seht ihr! Kaum fängt Dagur der Tolle an zu reden, haut ihr euch nicht mehr die Köpfe ein! Bin ich gut oder bin ich gut?"
Ein Schmunzeln pochte gegen meine Lippen, wollte nach außen dringen. Aber ich presste sie zusammen, sperrte das Schmunzeln ein.
„Was ist jetzt mit Schnüffler?"
„Pfeilwunde. Sieht übel aus, der Verband ist schon blutdurchtränkt. Aber du kriegst das sicher hin. Du kriegst das hin, oder?"
Und wieder war ich unsichtbar. Mittlerweile wusste ich nicht mehr, was mir lieber war.
„Ja. Ich habe das dritte Feuer geholt, das heilt alles – so gut wie alles." Sie scharrte im Sand. „Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich hier war. Zum Glück habe ich alles aufgesammelt, dein Arm sieht nämlich übel aus."
„Ach, nur der übliche Bruch."
„Hör auf, so zu tun, als wäre es nicht schlimm! Wer ist hier die Heilerin?"
Niemand. Niemand hier konnte heilen.
Hier gab es nur einen einen kindischen Berserker, eine Verräterschlange und eine Hassmaschine, der wieder einmal der Hass auszugehen drohte.
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