Kapitel 21: Ein neuer Beginn

Romi

Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Ab und an warnte ich Liska vor tiefhängenden Ästen und rutschigen Moospolstern oder rief ihr zu, wie lange es noch dauern würde. Am Anfang hatte sie mir noch einsilbige Antworten zugebrummt, mit jeder Biegung unseres Weges war sie jedoch stummer geworden. Auch das stramme Knacken ihrer Schritte war zu einem zaghaften Fegen im Laub geworden. 

In meine rechte Hand schnitten die Kanten des Kristalls. So wenig wog die Hoffnung. Ein paar Gramm erstarrtes Leben. Es war unmöglich, was ich vorhatte. Andererseits lief ich neben einer Toten. Wenn sie ins Leben zurückkehren konnte, dann konnte Hicks das erst recht.

Ich musste daran glauben.

"Gleich sind wir da."

Liska antwortete nicht. Welche Überraschung. In meiner Handfläche sammelte sich der Schweiß. 

Was, wenn es nicht funktionieren würde? Tage und Wochen hatte ich hierauf hingearbeitet, so viel getan und erlitten. In nicht einmal einer Stunde würde sich alles auflösen - auf die eine oder andere Art. Was, wenn es nicht funktionieren würde? Die Welt würde ihre Hoffnung endgültig verlieren. Und ich mein Ziel.

Mit einem Mal wollte ich mich hinsetzen und nicht mehr wieder aufstehen. Einfach sitzenbleiben. Das Universum weiterdrehen lassen, es brauchte mich nicht. Aber ich ging weiter, einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, mein Ziel einfach ignorierend. Denn alles Andere wäre feige gewesen. 

Hicks' Leben lag in meiner Hand. Ich durfte es nicht wegwerfen.


-°-°-°-°-°-


Noch immer gähnte das Loch im Waldboden. Was hatte ich anderes erwartet? Die Anspannung tat mir nicht gut. Ich musste es hinter mich bringen. Selbst wenn es nicht funktionieren würde, nichts war schlimmer als diese Ungewissheit. Die Haut unterhalb meiner Nägel stand in Fetzen ab, so sehr hatte ich in der letzten Stunde daran geknabbert. War ich nicht vorhin noch einer völlig anderen Meinung gewesen? Egal. Egal, egal, egal, egal. Ich musste Ruhe bewahren. Durfte mich nicht ablenken lassen.

Ein Hase huschte durch das Unterholz. Die Äste der Tannen schienen sich auf mich zuzuneigen, nach mir zu schlingen, der Wind brüllte mir Verhöhnungen zu. Ich wollte rennen, rennen, rennen, alles hinter mir lassen, dieses grinsende Loch, den feindlichen Wald, die erinnerungsschwere Insel, diese unendlich grausame Welt.

"Hier ist es?"

Wie war das nochmal mit dem nicht-ablenken-lassen? Ich kniff die Augen zusammen. Konzentration, Romi. Keine Panik. Liskas Augenbraue stach in die Höhe. 

"Warum nicht hier?"

Eine Böe riss die Zweige auseinander, zwischen ihnen flutete Licht hindurch und ließ das Narbengewebe glänzen. Liska schüttelte den Kopf.

"Egal. Willst du jetzt dort runter oder nicht?"

Ich nahm zwei tiefe Atemzüge. In meiner Hand pulsierte der Kristall.

"Ja."

Liska überließ mir den Vortritt. Drei kleine Schritte, dann baumelten meine Beine in die Dunkelheit hinein. Rau lag der Strick in meiner Hand. Der Geruch von nassem Fels stieg in meine Nase. Ein letztes Mal blickte ich zu Liska zurück, fast hoffend, sie würde mich zurückhalten. Dann stieß ich mich ab. 

Die Grotte schluckte beinahe sämtliches Licht. Nur der kühle Schimmer des Eisnebels erhellte sie ein wenig, silbriges Geflimmer, das über die Wände tanzte. Wasser plätscherte gegen Stein, in der anderen Richtung klimperten Glasscherben, als eine Mäusefamilie über sie davonhastete. Jeder Schritt, jeder Atemzug hallte mir als geisterhaftes Raunen entgegen. 

Ich strich über den Eisblock. Kälte liebkoste meine Fingerspitzen, ein Nebelband umkringelte sie. 

"Hallo, Hicks."

Noch immer klaffte die Wunde in seiner Brust, noch immer verzerrte er sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Noch immer sah er so schrecklich leblos aus, so tot, so ... leer. Aber das würde ich ändern.

Das Geröll knirschte unter Liskas Stiefeln, als am Boden ankam. Der schwarze Umhang löste ihre Umrisse auf, verschmolz sie mit den Schatten. Fledermaus, Geschöpf der Nacht. Sie schnalzte mit der Zunge.

"Das ist er also?"

Die Wände schnalzten zurück, immer und immer wieder.

"Ja."

"Nimm."

Etwas flog auf mich zu. Reflexartig schnappte ich danach - ein Bündel mit Wachs getränktem Stoff.

"Was will ich damit?"

"Wenn du im Dunkeln sehen kannst ... ich kann es nicht."

Hitze wirbelte in meinen Wangen. Heute konnte ich wohl keine zwei Schritte geradeaus denken. Blind tastete ich nach einem Stock. Nichts als Steine, Kies, noch mehr Stei- au! Ich riss meine Hand zurück, steckte den Finger in den Mund. Ein metallischer Geschmack kitzelte meine Zunge, ich musste mich wohl gestochen haben. Vorsichtig fuhr ich über den Boden. Etwas kratzte über den Stein - da war es! Ein Ast - mit Dornen gespickt. Mit spitzen Finger hob ich ihn auf und wickelte die Stoffbahn um sein oberes Ende. Anschließend fingerte ich in meiner Tasche nach den Feuersteinen und klemmte den Stock zwischen zwei Steine.

Drei-, vier-, fünf Mal sprühten die Funken, ehe die Fackel aufloderte. Ein warmer Lichtschein kreiste um uns herum, ließ Liskas Haare und die Bilder an den Wänden aufleuchten. Flammendes Kupfer - sowohl hier als auch dort.

Laut hallten meine Schritte, als ich näher an die Malereien herantrat. Nachtschatten, Jäger, selbst Reiker interessierte mich dieses Mal nicht. Ich hatte nur Augen für eine Figur. Groß war sie, und dünn. Fast schon mager könnte man sie nennen. Man sah sie nur von der linken Seite, doch die bleiche Haut und der Ton der Haare ließen keine Zweifel offen.

"Du hast sie also entdeckt."

Liskas Miene war so reglos wie immer. 

"Bist - bist du das?"

"Denkst du das?"

Ich nickte zögerlich.

"Na also. Vertraue deinen Einschätzungen. Falsche Zweifel können tödlich sein."

"Und ... ?"

"Was und?"

Ihr Mund schien noch dünner zu werden.

"Willst du mir erzählen, was es damit auf sich hat?"

Sie drehte sich um. Die Dunkelheit schien Wellen zu schlagen, dabei flatterte lediglich ihr Umhang hinter ihr her.

"Und du solltest aufhören, deine Vergangenheit zu begraben! So lässt es sich auch nicht leichter damit leben!"

Ein abschätziger Blick aus dem Augenwinkel. Von rechts schien ihr gesamtes Gesicht nur aus Narben zu bestehen.

"Was meinst du, warum ich diese Bilder gemalt habe?"

"Du warst das? Das heißt - du warst schonmal hier? Aber ... wann?"

"Es ist lange her."

Leise klang ihre Stimme. Doch selbst mit ihrem Rücken mir zugewandt bemerkte ich, dass ihre Stimme noch rauer als gewöhnlich war.

"Und du hast wirklich Nachtschatten gesehen?"

Vielleicht würde sie eher reden, wenn ich mit einem harmloseren Aspekt anfing.

"Ich habe unter ihnen gelebt."

Die abgebildeten Nachtschatten waren simpel und dennoch vibrierten sie von der selben eleganten Stärke, die ich auch bei Ohnezahn wahrgenommen hatte. Ich strich mit den Fingern entlang der Wand. Auf den nächsten Bildern wichen sie Pfeilhageln so dicht wie Insektenschwärme aus, wurden von Speeren durchbohrt und von Äxten verstümmelt, rissen sie die Mäuler zu gequälten Schreien auf. Weiter hinten krümmten sie sich mit zerrissenen Flügeln und verdrehten Gliedmaßen am Boden, eine einzige leblose Masse aus gebrochenen Körpern. 

Das war keine Jagd. Es war ein Gemetzel.

Zwischen den Drachenleibern eine vertraute Gestalt, höhnend hackte er auf sie ein. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er dahingeschlachtet worden, so wie er unzählige Nachtschatten dahingeschlachtet hatte. 

"War Reiker wirklich dabei?"

"Du siehst es doch."

"Was wollte er?"

Liska schnaubte.

"Er war bei ihm in Lehre."

Sie deutete auf den bleichen Mann, eine vage Handbewegung.

"Grimmel der Grizzly. Ein Nachtschattentöter. Der Nachtschattentöter."

Das Licht der Fackel huschte durch die Grotte, suchte nach etwas, an dem es sich festklammern konnte.

"Und das Ei?"

"Welches Ei?"

Liskas Umhang wallte um ihren Körper, als sie die Arme verschränkte.

"Du hast ein Ei gerettet. Was ist damit passiert?"

"Es ist kaputtgegangen."

Mein Blick schnellte zu den Bildern im hinteren Teil der Höhle, dort wo die junge Liska das Ei schleppte, verfolgt von einem kleineren Nachtschatten.

"Als du geflohen bist?"

"Nein. Hier auf der Insel. Ich habe es in diese Höhle gebracht. Dann bin ich gegangen, um Essen zu finden. Als ich zurückgekommen bin, waren da nur noch Splitter und ein unfertiger Embryo."

Die unablässig gegen meine Hüfte tippenden Finger froren ein. Halbausgestreckt hingen sie in der Luft als wüssten sie nicht, was sie entgegnen sollten. 

"Genug mit deprimierenden Vergangenheiten. Hattest du nicht etwas vor?"

Ich nickte, dankbar für den Themenwechsel. Beinahe hätte ich vergessen, wofür ich eigentlich hier war. Zeit, es endlich zu tun. Was brauchte ich alles? Kristall: da. Drittes Feuer: da. Spritze, Trichter und Skalpell: da, zum Glück hatte ich bei der Flucht von den Marktinseln meine Tasche mitnehmen können. Spritze aufschrauben, Sachen bereitlegen. Goldener Nebel zum Auftauen des Eisblockes - verdammt, ich hatte vergessen, weiteren zu besorgen! Wie konnte man so gedankenlos sein?!

"Brauchst du das?"

Liska fädelte ein weiteres Tongefäß von ihrem Gürtel und streckte es mir hin. Es sah bauchig aus und schwer in ihren dürren Fingern. Doch als ich es ergriff, wog es fast nichts. Der Korken ließ sich nur schwer herauspulen, Liska musste ihn wohl in den Flaschenhals gehämmert haben.  Das letzte Stück brach ab und sackte in das Gefäß hinein, wo es in einer Pfütze goldenen Nebels verdampfte.

"Woher wusstest du ... ?"

"Viggo hat mir erzählt, was du vorhast."

"Ja, aber wie? Sternenwind schläft do-"

"Berühre die goldenen Punkte, dann speit sie automatisch Feuer. Es ist wie ein Würgereiz." 

"Und wie kannst du das wissen? Phönixe sind extrem selten!"

Sie verschränkte die Arme.

"Ich war Drachenjägerin. Ich weiß so einiges, was du nicht weißt."

"Hmpf. Na ja, danke."

Ihre Hand wedelte in Richtung Hicks.

"Worauf wartest du?"

Ohne etwas zu erwidern, kniete ich mich neben ihn. Ein letztes Mal strich ich über das Eis, das ihn so lange vor der Welt beschützt hatte. Dann goss ich den Nebel darüber. 

Zunächst geschah nichts, eine goldene Wolke waberte über silbrigem Eis. Dann begann es, zu zischen und zu fauchen, Gold und Silber schlangen sich umeinander, schnappten nach dem Anderen, wichen zurück und prallten wieder aufeinander. Funken sprühten, Dampf stieg von dem Eisblock auf, der schrumpfte und schrumpfte. Eine Hand riss mich zurück, ich stolperte und landete auf dem Hintern, doch ich konnte die Augen nicht abwenden von dem Spektakel. Tag und Nacht bäumten sich gegeneinander auf und wurden so hell, dass schlussendlich doch den Kopf zu Seite drehen musste.

Es wurde still.

Ich blinzelte, spürte meine aufgeschlagenen Hände und die Steinchen, die sich in meinen Hintern bohrten. Liska hatte den Kopf schiefgelegt, winzige Eissplitter hingen in ihren Haaren. Die Fackel glomm nur noch, gelöscht von den Unmengen an Dampf, die durch die Grotte zogen. Ein Stöhnen entfuhr mir, als ich mich hochstemmte. Ich hoffte, dass Liska es nicht gehört hatte und gleichzeitig schämte ich mich für diesen banalen Gedanken. Nichts konnte unwichtiger sein in diesem Moment.

Der Eisblock war restlos geschmolzen - oder eher in Dampf aufgegangen. Mit zusammengekniffenen Augen wedelte ich die weißen Schwaden beiseite, heiß bissen sie in meine Hände und kochten jeden möglichen Gedanken zu Brei. 

So bleich lag Hicks auf dem schieferschwarzen Boden; so schlaff, so weich gegen den harten Fels. Gebrochener Körper, gefangene Seele. Violette Lichter sprangen gegen die Wände, versuchten aus der Höhle zu entkommen, zurück in die Welt der Lebenden zu gelangen. Der neu entzündete Fackelschein lockte es aus dem Kristall hervor und für einen Moment schien es, als könnte tote Erstarrung wieder lebendig werden. Doch nichts entkam aus der Grotte der Toten. 

Denn waren wir das nicht alle drei? Tot, jeder auf seine eigene Weise. Hicks' Körper war gestorben, auch wenn seine Seele weiterlebte. Liskas Seele war gestorben, auch wenn ihr Körper weiterlebte. Und ich, ich war tot in den Augen der Welt. Ein einzelnes Mädchen, das es geschafft hatte, beide Seiten dieses endlosen Krieges gegeneinander aufzubringen. 

Nur dass ich jetzt ein Ziel hatte. 

Der Dampf hatte Hicks' Haut erwärmt, beinahe lebendig fühlte er sich an. Wie lange war es her, dass seine Stimme mich aus dem Sumpf des Verrates und der Verbitterung gezogen hatte, in einer finsteren Zelle meines ehemaligen Zuhauses? Wie lange hatte ich seine warmen Worte nicht mehr gehört, seine wohltuende Präsenz nicht mehr gespürt? Wie lange war es her, dass die Welt ihren Glanz verloren hatte, ihre Zuversicht, ihr Leben? Hicks hatte ihr als Einziger eine Zukunft gegeben und jetzt lag sein Körper zerschlagen im Bauch der Erde, drängte sich seine Seele gegen die unnachgiebigen Wände seines kristallenen Gefängnisses. Mehr als vier Monate war es her, dass ein Schwert alles Glück der Welt ausgelöscht hatte.

Doch erst jetzt, als ich seine feuchten Haare streichelte, spürte ich, wie sehr ich ihn vermisste. 

Die Höhle zog sich zusammen, presste sämtliche Luft aus ihr heraus. Die Felsen knirschten oder vielleicht knirschte nur mein Kopf. Eine dunkle, ölige Flüssigkeit donnerte von innen gegen meinen Schädel, quetschte seine Wände auseinander, bis sie zu bersten schienen. Sie rann die Kehle herunter, spülte die Luft aus ihr heraus, brauste durch meinen Brustkorb und sog das Wasser aus meinem Herz, sodass es zu Pflaumengröße verdorrte. Ich schluchzte auf. 

Hatte ich jemals richtig um ihn getrauert? Vier Monate, vier verdammte Monate und kein einziges Mal hatte ich über Hicks geweint, abgesehen von dem einen Mal auf der Hintertreppe von Heidruns und Dagurs Haus. Ich hatte um mein Überleben kämpfen müssen, ja, aber wie oft hatte ich versucht, jeden Gedanken an ihn zu verdrängen? Hatte versucht, ihn zu vergessen, als ob man ihn jemals vergessen könnte. 

Fingernägel bohrten sich in meine Oberschenkel, tiefer und tiefer krallte ich sie herein. Es würde Druckstellen geben, aber vielleicht würden sie die Druckstellen in meinem Herzen ausgleichen. 

"Heulen hilft ihm auch nicht weiter."

Wie Liska von meinem Blick nicht niedergeschmettert wurde, würde ich wohl nie verstehen. Die Fluten zurrten sich zu einem Knoten zusammen und gefroren zu einem Klumpen trübem Eis. An ihre Stelle trat wohlbekannte Leere. 

Skalpell. Richtig. 

Ein Schnitt und Leder klatschte auf den Stein. Ein weiterer und der Stoff segelte hinterher. Es musste schnell gehen, nun da Hicks' Körper nicht mehr von Eis bewahrt wurde. Das Schwert hatte ihn komplett durchstoßen, eine drei Finger breite Spalte in halb gefrorenem, blutigen Fleisch. Blieb nur zu hoffen, dass der Nebel nicht durchsickerte. Ich drückte den Edelstein in die Wunde hinein, Eiskristalle schmolzen unter der Wärme meiner Finger. Liska reichte mir das Gefäß mit dem dritten Feuer. Meine von Blut und Schleim bedeckten Finger glitschten an dem Stöpsel ab. Ich fluchte.

"Gib her."

Sie rupfte mir die Tonflasche aus der Hand, zog ein Messer aus Odin-weiß-woher hervor und bohrte es in den Korken. Kurz zerrte sie daran, dann glitt es mitsamt Stöpsel in die Höhe.

"Hier."

Ich stopfte den Hals des Trichters in die Spritze, nahm sie in die linke Hand und streckte die rechte ohne hinzusehen nach der Flasche aus. Hicks' Leiche schien ... matschig zu werden, anders konnte ich es nicht bezeichnen. Schnell jetzt. 

Das dritte Feuer rann durch den Trichter, verschwand im metallenen Körper. Kaum war der letzte Tropfen herausgeronnen, haschte ich nach dem Deckel und schraubte ihn zu. Meine Hände zitterten nicht, als ich in das Fleisch stach, zu oft hatte ich die Bewegung schon vollzogen. Doch nie hatte ich dabei versucht, einen Toten zurückzuholen.

Rotgoldenes Leuchten pulsierte um die Ränder der Wunde, jagte entlang der Adern. Unter der Haut konnte man es kaum sehen, doch der Nebel verteilte sich. Die Nägel meiner Daumen verloren ihre Farbe, so fest presste ich sie gegen die geballten Fäuste. Unablässig murmelte ich Worte ohne Klang und ohne Sinn, ein endloses bittebittebittebittebitte. Das Plätschern des Wassers schien verstummt zu sein, auch Liska gab keinen Laut von sich. Nasse Wände flimmerten im Fackellicht, im gleichen Rotgold wie der Nebel.

Ich meinte, Sternenwinds Gesang zu hören, oder ich summte selbst ihr Lied. Doch je länger es dauerte, je länger der Glanz unter Hicks' Haut flitzte und eilte und schritt und trottete, desto öfter glitten die Töne der Hoffnung zwischen meinen suchenden Fingern hindurch.

Im Sekundentakt schloss und öffnete ich die Augen, fieberte nach einer Veränderung, einem Zeichen, irgendetwas. Ein Fitzelchen Wange riss unter meinen zusammengebissenen Zähnen auf, anstelle von Gesang donnerte und trampelte es in meinen Ohren.

Die Lichter kamen zum Stillstand.

Das musste nichts heißen, vor der Fusion hatten die Sterne ebenfalls innegehalten. Bestimmt war es ebenso. Kein Ende, ein neuer Beginn. 

Mit einem Mal setzte sich das Glühen in seinem gesamten Körper in Bewegung. Zuerst langsam, dann immer schneller strömte es auf seinen Kopf zu - wie bei Sternenwind, ich wusste es! Es klappte, es klappte, es klappte! Strahlender und strahlender wurde sein Gesicht, man hätte ihn für Baldur, den Gott des Lichtes halten können. Es funktionierte tatsächlich, ich hatte es geschafft!

Rötliche Schwaden quollen aus seinem Mund. 

Innerhalb weniger Sekunden war das Leuchten in seinem Körper abgeklungen. Stattdessen füllte der Sonnenuntergang die Höhle. Die Schrammen auf meinen Händen kribbelten und zogen sich zurück, die offene Nagelhaut wuchs zu, selbst Liskas Narbe schien sich aufzuhellen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich wohl darüber gestaunt.

Doch Hicks' Leiche hatte sich kein Stückchen verändert.

Ich hatte versagt.

Schlaff lag seine Hand in meiner, seine Haut matschig. Und immer noch dieses gequälte Gesicht.  Wie hatte ich glauben können, etwas zu verändern? So viel hatte ich aufs Spiel gesetzt, für nichts.  Reiker war gestorben und Krogan an der Spitze der Jäger. Sternenwind hatte ich ebenfalls beinahe umgebracht, Berk machte sicher schon Jagd auf mich und Hicks' Mörder saß ein paar Kilometer weiter in dem Haus, das er erschaffen hatte. 

Auch Baldurs Geschichte hatte tragisch geendet.

Windböen pfiffen über das Loch, die Wände fingen die Klänge auf und gaben sie hundertmal lauter weiter. Hohles Pfeifen schnitt in meine Ohren, wirbelte um mich herum und umzingelte mich. Kein Weg heraus aus dieser Grotte voller Vorwürfe. Die Menschen an der Wand schienen anklagend die Hände zu erheben. Sie hat versagt, ihre Fehler wiedergutzumachen und der letzte aller Nachtschatten ist ganz allein.

Die Augen zusammengekniffen, rutschte ich weg von ihnen. Doch weg von ihnen hieß hin zum Wind, der mich packte, mir unter die Kleider fuhr und mit seinen kalten Lippen das letzte bisschen Wärme aus mir aussaugte. Ich schlang die Arme um die Knie und krümmte mich vornüber, aber ich konnte mich nicht vor ihm abschirmen. Genauso wenig wie ich mich von den Stimmen in meinem Kopf abschirmen konnte.

Du hast versagt.

Er ist tot.

Umsonst, umsonst, umsonst.

Es war sinnlos, die Hände auf die Ohren zu pressen, das wusste ich. Und dennoch tat ich es, in der naiven Hoffnung, es würde etwas nützen. Tat es nicht. Nur das Heulen des Windes verstummte, aber in der Leere höhnten die Stimmen noch lauter.

War ja klar, dass du es nicht schaffst.

Und jetzt, was willst du jetzt tun?

Du kriegst es eh nicht hin.

"Aufhören!"

Nicht mehr als ein Quieken brachte ich zustande - nicht dass es mir helfen würde. Sie würden immer da sein, wo ich auch hinging. Und hatte ich es nicht verdient? Hicks' Tod hatte ich verursacht, da sollte auch ich die Konsequenzen tragen. 

Tot, tot, tot, sangen die Stimmen, tanzten meine Kehle herunter. Eissplitter wuchsen überall, wo sie hintraten. Wie ironisch. Angekommen in meinem Bauch schienen sie miteinander zu rangeln, ich spürte sie knuffen und treten und mir wurde schlecht. Ab und an streckte einer von ihnen den Kopf aus dem Gewimmel und grölte mir Beleidigungen zu. Jede von ihnen piekste ein Loch in meinen Schutzwall. Bis er schlussendlich barst.

Ich heulte und keuchte und schluchzte, wiegte mich vor und zurück und ballte die Fäuste, bis meine rauen Nägel abermals die Handinnenflächen aufrissen. Die Grotte zog sich zusammen, bis sie mich zu zerquetschen schien, und dehnte sich aus, bis ich schutzlos auf einer kahlen Ebene hockte. 

Ich weinte um die verlorenen Menschen, um uns alle, denn wie sollten wir uns ohne Hicks vor Drago Blutfaust beschützen sollen?

Ich weinte um die verlorenen Bindungen, denn wie sollte ich den Reitern, den Berkianern, selbst Heidrun und Dagur je wieder vor die Augen treten sollen?

Ich weinte um die verlorene Zukunft, denn wie sollte ein Leben in einer Welt ohne Hicks Sinn ergeben?

Und ich weinte um ihn, der so viel gegeben hatte und nur Leid im Gegenzug empfing.

"Hör auf mit dem Schwachsinn."

Selbst in der kaum erleuchteten Grotte und selbst mit ihrer knappen Mimik konnte ich Liskas Abscheu deutlich erkennen.

"Es ist entweder dumm oder selbstsüchtig."

Die Stimmen johlten ihr Beifall, doch ich stopfte sie gedanklich in das tiefste Loch, das ich mir vorstellen konnte. Dickflüssige Lava hielt mich fest im Griff und befeuerte zugleich den Drang, mich auf diesen Eindringling zu stürzen.

"Wenn du um ihn weinst, bist du dumm. Es hilft ihm nichts."

Meine Lippen verzerrten sich, gaben den Blick auf meine Zähne frei. Finger zitterten vor Spannung, Flammen schlugen aus meinen Eingeweiden hoch.

"Wenn du aber um dich weinst, dann bist du selbstsüchtig und schwach. Steh auf, na los. Wir können nicht den ganzen Tag -"

"Raus! RAUS! VERSCHWINDE HIER!"

Die Wände warfen den Schrei zurück und meine Stimme überschlug sich nicht nur einmal, sondern gleich hundertfach. Ich sprang auf und stieß Liska vor die Brust. Sie fing sich, das Gesicht regungslos wie immer.

"HAU ENDLICH VON HIER AB, DU UND DEIN MÖRDERLIEBLING! ICH WILL EUCH NICHT MEHR SEHEN AUF DIESER INSEL, HAU AB!"

Das Schrillen tat selbst mir in den Ohren weh. Liska warf mir noch einen undefinierbaren Blick zu, dann kletterte sie ab Seil hoch.

Ich ließ mich auf den Boden fallen und vergrub das Gesicht in meinen Händen.

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