Kapitel 2: Betörende Gesänge
Astrid
Eng an Sturmpfeil gepresst brauste ich durch einen dichten Wald. Alles neben mir verschwamm zu einem grünen Streifen. Ruckartig wichen wir im Weg stehenden Bäumen aus, beinahe riss mich die Geschwindigkeit aus dem Sattel. Aus dem Nichts schoss ein Netz hervor, dem Sturmpfeil gekonnt mit einer Fassrolle auswich, gefolgt von einem Hagel aus Pfeilen. Drei gingen ins Leere, zwei weitere konnte ich abwehren, einer jedoch entging mir und streifte meinen linken Oberarm, was ein höllisches Brennen verursachte. Egal, weiter! Ich musste ihn finden, ich musste...
Da! Knapp hundert Meter vor mir blitzte die Silhouette einer Person zwischen den Bäumen auf. Erneut beschleunigte Sturmpfeil, jetzt kam es auf Gleichgewicht, Präzision und den richtigen Zeitpunkt an. Die Lippen zusammengepresst stand ich auf, jede Kurve konnte mich nun zum Herunterfallen bringen. In meiner rechten Hand lag meine Axt zum Wurf bereit.
Jetzt!
Mit höchster Präzision surrte sie durch die Luft und spaltete den Kopf meines Zieles. Sofort setzte ich mich wieder hin, im gleichen Augenblick vollführte Sturmpfeil eine scharfe Wende und schoss einen Feuerstrahl hinterher, der nichts als Asche übrig ließ. Ja! Ich hatte es geschafft, ich hatte Viggo erle-
Etwas prallte von hinten gegen mich und riss mich von Sturmpfeils Rücken herunter, drei Meter über dem rasend schnell auf mich zukommenden Boden. Noch in letzter Sekunde versuchte ich, mich abzurollen, doch das Netz hielt mich fest umschlungen. Glücklicherweise war der Boden meterdick mit Schnee bedeckt, der meinen Sturz abfederte. Super. Viggo erledigt, dafür aber von Drachenjägern gefangen. Zum Glück war das hier nur Training, sonst hätte ich jetzt ein ernstes Problem.
Frustriert befreite ich mich aus dem Netz. Zwei Wochen waren wohl nicht genug, um dreieinhalb Monate Im-Bett-Liegen wieder aufzuholen. Zwar hatte ich meine Aufgabe erfüllt, aber ich war verwundet worden und der Netzwerfer hatte mich auch erwischt. Ich musste noch härter trainieren, wenn ich jemals Hicks' Tod rächen wollte.
Wobei ich dieses Ziel im Grunde ja erreicht hatte. Von der Viggo-Puppe war nur noch ein vor sich hin schwelender Aschehaufen übrig, zumal ihn schon mein Axtwurf erledigt hätte. So gefährlich sein Gehirn auch sein konnte, mit zwei Kilo Gronckeleisen dazwischen nützte es ihm nichts mehr. Nur ich selbst wäre wahrscheinlich auch tot, wäre das hier eine echte Mission gewesen. Na ja, wenigstens wäre ich in dem Wissen gestorben, meine Rache gekriegt zu haben.
Problematisch waren lediglich die Wunde an meinem Arm. Im schlimmsten Fall kam jemand dahinter, was ich tat. Bisher ahnte niemand von meinem Vorhaben, sie alle dachten, ich würde immer noch den ganzen Tag in meinem Zimmer verbringen. Dafür, dass es auch so blieb, sorgte ich mit aller Macht. Eines war nämlich klar: wenn sie davon erfahren würden, würden sie versuchen, mich davon abzubringen. Deswegen schlich ich mich durchs Fenster raus oder mitten in der Nacht, wenn alle schliefen. Einen Vorteil hatte der Winter, es war so gut wie niemand draußen unterwegs. Selbst die Drachen blieben drinnen, wobei das eher an -
Ein melodisches Trillern tanzte durch die Luft. Verdammt, das war nicht gut. Das war alles andere als gut. Das war genau das, wovor alle die ganze Zeit über gewarnt hatten und ich war blindlings in die Gefahr gelaufen. Und nicht nur das, ich hatte Sturmpfeil mit hineingezogen.
"Sturmpfeil!", brüllte ich, so laut, dass sich meine Stimme überschlug. Vergebens.
Wie ein schwarzer Schlitz teilten die Pupillen ihre Augen in zwei Hälften, ihr Blick war leer. Auch sie hatte ihn gehört, diesen lockenden Gesang, so wunderschön, so hinreißend, so unwiderstehlich, so -
Nein, nein, nein! Ich musste mich zusammenreißen, durfte ihr nicht auch noch verfallen, dieser perlenden, unglaublich raffinierten Melodie. Gleichzeitig lieblich und dramatisch schwang sie sich zu schwindelerregenden Höhen auf, nur um sich gleich darauf rasant fallen zu lassen, vollführte spektakuläre Wendemanöver, fegte durch meinen Verstand wie ein Wirbelsturm aus purer Glückseligkeit. Immer mächtiger schwoll sie an, breitete sich aus und verdrängte jeden anderen Gedanken in meinem Kopf. Nur einer blieb noch übrig, jener, den diese verzückende Musik mir mitteilen wollte:
Komm zu mir!
Ja! Ja, das würde ich! Mein ganzer Wille, meine gesamte Existenz war darauf ausgerichtet, die Quelle dieses Flusses aus harmonisch ineinandergreifenden Klängen ausfindig zu machen. Nichts hatte mich je so sehr begeistert, jede vergangene, gegenwärtige und zukünftige Empfindung verblasste im Vergleich zu diesem puren Glück zu einem schalen Grauton. Ich hörte nicht bloß Musik, nein, ich wurde Musik! Und das war schöner als alles andere auf der Welt, so schön und intensiv, dass sich jede mögliche Art von Kummer in mir vor Neid zu Luft auflöste - nein, nicht auflöste, er reihte sich in den Reigen der strahlenden Tonabfolgen ein, die sich als eine leuchtende Spur durch die Bäume schlängelte. Was war mein Training für eine mögliche Rache dagegen? Sinnloses Verbrauchen von Energie. Wozu weiter daran festhalten, wenn es doch so viel einfacher und befreiender war, dieser Spur zu folgen? Selbst Hicks' Tod war bloß nebensächlich, etwas, was man guten Gewissens genau wie alle anderen Erlebnisse vergessen konnte. Wozu an meinen Erinnerungen festhalten, wenn ich mich mit all meinem Wesen diesen überirdischen Melodien hingeben konnte? Ja, ich würde ihn vergessen und nur noch -
Was dachte ich da? Nein, ich würde Hicks nicht vergessen, niemals! Er würde immer ein Teil von mir sein und ich würde nicht der Musik folgen!
Noch immer tanzte sie um mich herum, drang von allen Seiten auf mich ein und flüsterte mir ihre verlockenden Versprechungen ins Ohr, diesmal jedoch mit einem härteren Unterton. "Wie kannst du das alles ablehnen?", schien sie mir zuzurufen, "Du kannst glücklich sein, warum tust du das nicht?" Ja, warum tat ich das nicht? Warum klammerte ich mich an meiner Trauer fest? Warum ließ ich mich nicht einfach treiben, die Musik würde schon dafür sorgen, dass ich glücklich wurde.
"Nein!"
Wie ein Peitschenknall schallte meine Stimme durch die Luft, zerriss das tückische Band des Gesanges. Denn das war er: tückisch und hinterhältig, ein Mittel, um andere ins Verderben zu locken. Mit einem Mal erschienen mir die einzelnen Töne spitz und giftig, die aus ihnen bestehenden Klangreihen wie Tentakel, die mich zu packen versuchten. Zwar lag in ihnen immer noch eine mächtige Verführungskraft, doch dahinter verbarg sich pure Bosheit. Verzweifelt bäumten sie sich ein letztes Mal auf und versuchten, diesmal mit roher Gewalt, meine Schutzmauer zu durchbrechen.
"NEIN!"
Schlagartig verstummten die Klänge, als hätten sie entschieden, dass ich die Mühe nicht wert sei und zögen sich blitzartig zurück. Schwer atmend beugte ich mich vornüber, in meinem Kopf ein dumpfer Nachhall des soeben Gehörten.
Ich hatte es überstanden. Nicht nur das, ich hatte mich erfolgreich zur Wehr gesetzt.
Wie hatte ich das geschafft? Schon seit über einem Monat strich dieser Todsinger - zumindest vermuteten alle, dass es einer war, denn gesehen hatte ihn keiner - durch Berks Wälder und alle, die seinen Gesang vernommen hatten, waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sicher, es hatte Suchtrupps gegeben, aber alles, was sie gefunden hatten, war Pütz' Eimer gewesen. Und selbst von ihnen waren nicht alle zurückgekehrt. Deswegen herrschte zur Zeit strikte Ausgangssperre, sowohl für Drachen als auch für Menschen. Eine Ausgangssperre, die ich nicht nur missachtet, sondern auch für mein heimliches Training ausgenutzt hatte. Da geschah es mir wohl recht, was passiert war. Sogar Sturmpfeil hatte ich Tag für Tag in den Wald geschmuggelt, obwohl Drachen für den tödlichen Gesang anfälliger waren als Menschen.
Oh nein.
"Sturmpfeil!"
Keine Antwort. Verdammte Axt.
"STURMPFEIL!"
Hektisch wandte ich mich in alle Richtungen. Sie war nirgends zu sehen, wer weiß, wie lange ich dem Todsinger gelauscht hatte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, ein pochender Kopfschmerz erinnerte mich unablässig an meine Dummheit. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, alleine im Wald zu trainieren? Hatte ich geglaubt, wir würden auf irgendeine wundersame Art und Weise vom Todsinger verschont bleiben? Nein, ich hatte gar nichts gedacht, nur an mein Training und an meine Rache. Das hatte ich davon. Doch nicht ich, sondern Sturmpfeil musste meine Torheit jetzt ausbaden.
"Konzentrier dich!", ermahnte ich mich selber, "Bist du nun eine Kriegerin oder nicht?"
Mit aller Macht zwang ich die aufsteigende Panik zurück und fokussierte mich auf Sturmpfeils Rettung. In dem dichten Wald konnte ich sie nicht sehen, dafür hatte sie in dem frischen Schnee eine Fährte aus unübersehbaren Fußstapfen hinterlassen. Na also. So schnell ich konnte, rannte ich an ihr entlang. Hämisch ragten überall um mich herum kahle Baumskelette auf, an ihren Ästen hingen ellenlange Eiszapfen, die mich gleichgültig anglitzerten. Hatte zuvor der Gesang des Todsingers den Wald erfüllt, so war jetzt abgesehen von dem Geräusch meines Atems und meines Schritte kein Laut zu hören. Dafür, dass ich diesen Wald schon mein Leben lang kannte, erschien er mir nun geradezu abweisend.
Im Ernst? Es ging hier um Sturmpfeils Leben, womöglich auch um das der verschwundenen Dorfbewohner und ich machte mir Gedanken über "einen abweisenden Wald"? Ich war wirklich nicht mehr auf der Höhe. Vor allem meine Lunge ließ mich das deutlich spüren, schon nach vergleichsweise kurzer Zeit fing sie an, mir bei jedem Schritt einen schmerzhaften Stich zu versetzen. Aber ich musste weiter, weiter, weiter, ich musste Sturmpfeil finden, brennende Lunge hin oder her.
Ich war so sehr darauf konzentriert, in Sachen Geschwindigkeit nicht nachzulassen, dass ich beinahe die steil abfallende Klippe vor mir nicht gesehen hätte. Im letzten Augenblick kam ich zum Stehen, einen Meter vor dem Abgrund. Tief war die Schlucht nicht, gerade mal an die sechs Meter, dafür aber umso breiter. Zwischen den beiden Ufern brauste ein mächtiger Strom vor sich hin, in seinen Fluten trieben ganze Baumstämme, die er mit sich gerissen hatte. Den würde ich nie überqueren können, die einzige Möglichkeit wäre, zu fliegen und Sturmpfeil hatte sich schließlich davongemacht. Und selbst wenn - wie sollte ich ihre Spur auf der anderen Seite wiederfinden? Sie konnte überall sein. Es war aussichtslos.
Ich hatte sie verloren.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top