Kapitel 17: Nach all den Jahren

Romi 

Der verlockende Geruch von warmem Essen empfing mich, als ich das Haupthaus der Drachenklippe betrat. In der Feuerkuhle prasselten Flammen, heizten die Luft auf eine wohlige Temperatur und ließen goldene Flecken über die Wände tanzen. Auf dem Tisch dampfte eine Schale Eintopf selig vor sich hin. Ein leichter Schwindel erfasste mich und mein Magen begann zu grummeln. In meine tauben Finger kehrte das Gefühl zurück, prickelnd und stechend, aber letztendlich doch ganz angenehm. Doch erst als ich mich auf einen Stuhl plumpsen ließ, löste sich die Anspannung in meinen Gliedern vollständig.

"Ich dachte mir, dass du hungrig bist."

Der Hocker quietschte, als Viggo sich neben mich setzte. Beinahe berührten sich unsere Beine, gerade mal ein Fingerbreit lag zwischen ihnen. Ich schlug meine Füße übereinander, presste die Arme an den Körper. Ich wollte ihn nicht berühren.

"Sie haben ihre Vorratskammer nicht geleert, daher ..."

Anstelle einer Antwort schaufelte ich den Eintopf in mich hinein. Er schmeckte köstlich - Rüben und eingesalzener Fisch, gewürzt mit Lauch - und vor allem war er warm. 

"Es sieht so aus, als hatten sie Essen für den Winter eingelagert, wir kommen also auf jeden Fall durch - falls wir bleiben, natürlich."

"Wohin sollen wir sonst? Sie werden nach uns suchen. Hier ist kein schlechteres Versteck als irgendwo anders."

Er musterte mich, doch ich hielt meinen Blick fest auf die Schüssel gerichtet. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich wollte nicht sehen, wie sich in seinem Gesicht mein Bruder und Hicks' Mörder mischten. Und ich wollte nicht wissen, ob ich Zuneigung oder Abscheu verspüren würde.

"Warst du erfolgreich?"

Ein knappes Nicken. Er brauchte nicht wissen, dass sie mich beinahe geschnappt hätten. Er brauchte gar nichts wissen, verdammt! Er sollte nicht einmal hier sein! 

Der Löffel kratzte über den Boden der Schale. Trägheit erfüllte mich, erstickte die Wut. Es hatte sowieso keinen Zweck. Wir saßen hier fest, zusammen.  

"Übrigens, deine Leute sind nicht die Einzigen, die uns suchen", merkte ich mit matter Stimme an.

Alarmiert richtete er sich auf.

"Wer?"

"Astrid. Sie will Rache. Und da war noch so eine Frau. Sie hat mit einem Messer nach mir geworfen."

Er sprang auf, die Hände in der Luft erstarrt. 

"Du bist verletzt?!"

"Nein, sie hat mich verfehlt", erklärte ich rasch, "Es ist nur ..."

"Was?"

"Ich kenne sie nicht. Warum wollte sie mich umbringen?"

Langsam schüttelte er den Kopf, den Blick in weite Ferne gerichtet, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Die feinen Runzeln auf seiner Stirn vertieften sich zu schattigen Gräben.

"Ich weiß es nicht. Es sei denn ..." Er schnalzte mit der Zunge. "Romi, hast du dir in den letzten Monaten Feinde gemacht?"

"Neeeeiiin, überhaupt nicht. Abgesehen von Reiker, den Jägern, Astrid, den Drachenreitern, Berk, den Händlern der Marktinsel und vielleicht auch noch den Berserkern. Sag mir, worauf du hinauswillst, anstatt bescheuerte Fragen zu stellen!"

"Ich will dich nicht beunruhigen, aber nach deinen Erzählungen deutet alles darauf hin, dass jemand einen Auftragsmörder auf dich angesetzt hat."

Der Löffel kam zum Stehen. Das Quietschen schmerzte in meinen Ohren. 

"Das meinst du nicht ernst."

"Leider doch. Wenn eine andere Möglichkeit wahrscheinlicher wäre, hätte ich sie dir mitgeteilt. Die Frage ist, wie beschützen wir dich am besten vor ihr?"

"Es gibt kein 'wir'."

Er drehte sich weg, doch ich hatte den Schmerz in seinen Augen schon gesehen. 

"Wie du meinst."

"Viggo ..."

"Es ist gut, Romi, ehrlich."

Doch das war es nicht. Ich wusste es und er wusste es auch und trotzdem drehten wir uns umeinander, folgten den komplizierten Tanzschritten des Vortäuschens, balancierten auf einem Geflecht aus höflichen Phrasen und entfremdeten Erinnerungen. 

Auf einmal spürte ich einen leichten Druck auf meiner Schulter. Er hatte seine Hand dorthin gelegt, eine Brücke zwischen zwei Menschen auf unterschiedlichen Seiten des Flusses. Doch es fühlte sich falsch an, völlig falsch. Ich hatte nicht vergessen, was er getan hatte, dass er der Grund war, warum ich mich hier vor aller Welt verstecken musste, mit nichts als einem Kristall, einer Legende und einem Pfützchen Hoffnung, dass diese beiden Dinge ausreichen würden, um die Geschehnisse zurückzudrehen. Diese Nähe, das war zu viel. Den Blick nach unten gerichtet, schüttelte ich seine Hand ab.

"Ich gehe schlafen."

"Du hast Recht, es ist spät."

Musste er jede meiner Äußerungen, egal wie sehr sie auf Distanz zwischen uns abzielten, so gelassen hinnehmen? Merkte er nicht, wieviel schwerer er alles dadurch machte? Wahrscheinlich war das genau seine Absicht: mir ein schlechtes Gewissen zu machen und mich so dazu zu bringen, meine Taktik aufzugeben. Ja, das würde zu ihm passen. Wer sagte denn, dass er sich geändert hatte, nur weil er nun nicht mehr der Anführer der Drachenjäger war? 

Mit einem Mal erschien mir alles, was mich zuvor so beruhigt hatte, abstoßend. Die Wärme: unangenehm und erdrückend. Das tanzende Licht: grell und blendend. Der Duft nach Essen: aufdringlich und penetrant. Selbst die Sättigung verwandelte sich in ein Völlegefühl, das meinen Magen auseinander drückte.

"Ich habe Decken gefunden, übrigens."

"Die brauche ich nicht. Ich schlafe bei Sternenwind. Allein."

Er nickte, das Gesicht die übliche gelassene Maske. Was auch sonst. Mit einem Schnauben stand ich auf, drehte mich ruckartig um. Meine Hand schlug gegen etwas, fegte es vom Tisch. Gerade noch rechtzeitig blickte ich über meine Schulter und sah die Schüssel zu Boden fallen. Reflexartig griff ich nach ihr, doch zu spät. Scheppernd zersprang die leere Schale, über den Boden rutschten die Scherben.


-°-°-°-°-°-


Ich hätte nicht sagen können, was mich weckte. Keinen Laut hatte ich vernommen, Sternenwind hatte sich kein Stückchen gerührt und auch kein Lichtstrahl hatte mich aus dem Schlaf geholt. Vielleicht war es Instinkt gewesen, eine unbewusste Ahnung von Gefahr, vielleicht hatte es meinen Körper auch nur irritiert, dass das Mondlicht verschwunden war. Egal wie, ich war wach, streckte mich gründlich und blinzelte zum Himmel hoch.

Eine schwarze Silhouette ragte vor mir auf, verdeckte die blasse Mondscheibe, schluckte sämtliches Licht. 

Wie aus einem Traum erschien dieser Anblick, einem grauenvollen Alptraum. Ein Nichts in der Mitte der Nacht, so dunkel, dass selbst der die Leere zwischen den Sternen erleuchtet dagegen wirkte. Kurz dachte ich an eine optische Täuschung, einen Überrest meines Traums, doch was ich dann erblickte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Inmitten all der Dunkelheit blinkte das Weiß eines Augenpaares auf.

Feuchtigkeit sammelte sich in meinen Handflächen, mein Mund wurde staubtrocken. In meinem Kopf rasten die Gedanken, so schnell, dass ich keinen von ihnen zu fassen bekam. Ich wollte nach meinen Messern greifen, Sternenwind aufwecken, unter ihren Flügel kriechen, davonrennen und nicht stehenbleiben, bis die Morgendämmerung diese Schattengestalt auflöste. 

Kein Muskel rührte sich. Gelähmt bleib ich sitzen, starrte dieses Ungeheuer an wie das Kaninchen die Schlange.

Langsam rührte sich das Wesen, wenn es denn ein Wesen war und nicht die pure Schwärze, die sich zusammengezogen hatte, um mich zu vernichten. Zu ihren Füßen schlug die Finsternis Wellen, ihre Umrisse schimmerten silbrig im Licht des Mondes, beinahe wie ein Mensch, der einen Umhang trug, nein, es war ein Mensch mit Umhang. Beinahe wollte ich aufatmen, meine Furcht als lächerlich und kindisch abtun, da blitzte etwas Metallenes auf.

Die Person trug ein Messer in der Hand.

Und sie bewegte sich auf mich zu.

Mit einem Mal löste sich meine Starre, ich rutschte rückwärts, weg, einfach nur weg, doch da war Sternenwind und ich kam nicht mehr weiter, ich war eingekesselt. Meine Schreie gellten durch die Nacht, nutzlos, niemand würde mich hören, niemand würde kommen und doch schrie ich weiter, schrie und kreischte und presste mich so fest an Sternenwind, dass sie eigentlich längst hätte aufwachen müssen.

"Ganz ruhig, Kleine."

Ich verstummte. Schlagartig brachen die Schreie ab, als hätte mir jemand die Luftzufuhr abgeschnitten. In der darauffolgenden Stille klang mein Atem nur noch lauter, noch schneller. 

Knapp einen Meter vor mir stand die Person, nahe genug, dass ich ihr Gesicht erkennen konnte. Oder das, was von ihrem Gesicht übrig war, denn über die rechte Hälfte zog sich ein Wulst aus Narbengeflecht. Es war eine Frau, zumindest glaubte ich das, groß und hager und mit einer Miene, als handele es sich hierbei lediglich um das Schlachten eines Tieres, unangenehm, aber nicht weiter bedeutsam. 

"Wenn du weiter so hechelst, fällst du noch in Ohnmacht."

"Dann geht es doch sicher leichter für dich." 

Ohne mein Zutun waren die Worte aus meinem Mund geschlüpft. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass ich überhaupt noch reden konnte, doch das war gut, sehr gut. Solange ich redete, ließ sie mich vielleicht noch am Leben, konnte ich mir etwas einfallen lassen oder Sternenwind aufwachen. Bald müsste es ohnehin dämmern, so tief wie der Mond stand und dann ...

"Leicht ist gar nichts im Leben."

Sie machte einen Schritt zur Seite. Nicht länger von ihr verdeckt, beleuchtete der Mond die andere Seite ihres Gesichts. Scharfe Gesichtszüge, eine hakenförmige Nase, der Mund gleich einem Strich. Sie kam mir bekannt vor, auf seltsam vertraute Art und Weise. Trotzdem rutschte ich ein Stück in die andere Richtung. 

"Du hast Angst. Warum?"

"Was soll das heißen, warum?"

"Ich tue dir nichts."

Ein ungläubiges Schnauben entfuhr mir.

"Klar. Und deswegen hast du auch ein Messer in der Hand."

"Man weiß nie, welche Viecher einem hier begegnen. Aber wenn es dich beruhigt ..."

Sie steckte es unter ihren Umhang, wo es von der Finsternis verschluckt wurde. 

"Was willst du von mir?"

"Du bist doch Romi, oder? Romi Grimborn."

"Und wenn ich sie wäre?"

"Dann würde ich dir sagen, dass man mich beauftragt hat, dich umzubringen."

Mechanisch tastete ich an meine Brust, doch mein Messergürtel war leer, den letzten Dolch hatte Reiker mir entwendet. Ich war verloren. Doch dieses Mal würde ich nicht in Panik verfallen. Wenn ich sterben musste, dann nicht wie ein Feigling.

"Und warum tust du es dann nicht?"

Sie zog eine Augenbraue hoch.

"Du erkennst mich nicht?"

Ich runzelte die Stirn. Sie erkennen? An eine Frau mit einer solchen Narbe würde ich mich bestimmt erinnern, hätte ich sie schon einmal gesehen. Die Frau seufzte, ein Geräusch wie ein über Stein schrappendes Messer. Dann hob sie den Arm, zog die Kapuze herunter. Eine Flut kupferner Haare wallte heraus, ihr Gesicht trat aus dem Schatten.

Erinnerungen blitzten auf,  zusammenhanglose Bilderfetzen. Wie ich die Nase rümpfte über angebrannten Getreidebrei, immer angebrannter Getreidebrei. Mein erstes Messer, aus Holz geschnitzt, mir gereicht von einer knochigen Hand. Wettrennen über die Wiese, meine kurzen Beinchen stolperten über einen Stein und mein Knie war blutig, doch jemand hob mich auf und trug mich nach Hause. Viggo, viel jünger als jetzt, Arm in Arm mit einem rothaarigen Mädchen und kurze Zeit später rußüberzogen und weinend auf mich zu humpelnd.

Das konnte nicht sein. Unmöglich, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber dennoch ...

"Liska?"

Meine zaghafte Frage verhallte in der Nacht. Sie nickte, kaum mehr als ein abgehacktes Rucken mit dem Kopf. Und auch an dieses Nicken erinnerte ich mich auf einmal, an ihren trockenen Humor, ihre tiefe Stimme, ihren Geruch nach Tannennadeln und Erde und Metallstaub. Doch Liska, die Liska, die ich gekannt hatte ...

"Du bist tot."

"Offensichtlich nicht."

"Das sehe ich selbst, aber ... du müsstest tot sein! Du ... wir ... du bist umgekommen! Du bist umgekommen bei der Versammlung der Oberhäupter, du bist zurückgerannt in die Flammen, um Viggo zu retten, und da war der Drache, wie ...?"

"Das Dach ist eingestürzt, kaum dass ich Viggo beiseite gezogen hatte. Es hat alle, die noch lebten, unter sich begraben. Mich hat auch ein Teil getroffen." 

Sie strich über ihre Narbe, geisterbleiche Skelettfinger.

"Aber ich habe überlebt. Ich bin über die Trümmer geklettert, durch ein Loch in der Decke. Ein weiterer Drache hat mich gepackt, mich aber kurze Zeit später über dem Meer fallen lassen. Ich bin geschwommen, solange ich konnte. Und als ich nicht mehr konnte, hat ein Fischerboot mich gefunden."

Obwohl es für ihre Verhältnisse ein langer Monolog war, war es wohl eher das, wovon sie nicht erzählte, was mich schaudern ließ. Die Todesschreie der Begrabenen, die Schmerzen, die Panik, die Hoffnungslosigkeit, der gesamte Schrecken dieser verfluchten Nacht. Die Erinnerung daran, die sie seither plagen musste. Die Geister und Dämonen, die sich in jener Nacht in ihr eingenistet haben mussten und sie nun von innen zerrissen. Kein Wunder, dass sie nun wie aus Stein wirkte. Ich wollte das nicht hören, wollte nicht mit hineingezogen werden, doch etwas drängte mich dazu. Denn da war etwas an der Geschichte, was ich nicht ganz verstand, ein blinder Fleck ...

"Und dann?"

"Sie haben mich zu ihrer Heimatinsel mitgenommen. Bis der nächste Händler kam. Irgendwann bin ich auf dem Kontinent gelandet."

Allmählich hellte sich der Himmel auf, gleich Tinte, der man immer mehr Wasser hinzufügte. Nachtschwarz wurde zu Indigo wurde zu einem zwielichtigen Blaugrau. Bald würde es dämmern.

"Aber ... warum bist du nicht zurückgekommen?"

"Warum hätte ich? Du warst gut aufgehoben, für dich war gesorgt. Es gab nichts, was mich noch dort gehalten hätte."

"Und Viggo? War er dir vollkommen egal?"

Aus ihren Lippen wich sämtliche Farbe, so fest presste sie sie aufeinander. Ein gefährliches Feuer glomm in ihren Augen auf. 

"Viggo ist tot. Ich rate dir, nicht in alten Wunden herumzustochern."

"Was? Nein, er ist nicht tot! Er hat überlebt, er ... er ist gleich da oben!"

Mechanisch schüttelte sie den Kopf.

"Hör auf damit, Kleine."

"Aber ..." 

Sie glaubte mir nicht. Sie glaubte mir nicht und würde mir auch nicht glauben. Nicht, solange sie ihn nicht mit eigenen Augen sah.

"Dann komm wenigstens mit. Was hast du zu verlieren?"

Ich ergriff ihre Hand, wollte sie in Richtung Haupthaus ziehen. Sie rührte sich nicht.

Über den Horizont wanderte ein erster Lichtstrahl. Peitschend rot entflammte er ihre Haare, offenbarte die volle Schrecklichkeit ihrer Narbe. Blasen hatte ihre Haut geschlagen, wo das brennende Holzstück sie verglüht hatte, Blasen, die zu tiefen Kratern zusammengefallen waren. Wulstiges Narbengewebe zog sich zwischen ihnen hindurch, vom Kinn bis zum Haaransatz. Und noch etwas offenbarte die Morgensonne.

Liska hatte Angst.

Diese gnadenlose, beinahe unmenschlich wirkende Frau war von einem namenlosen Entsetzen befallen worden. Kein Stück rührte sie sich, selbst ihre geweiteten Augen starrten auf einen fixen Punkt. Nur ihr Daumen tippte immer wieder gegen ihren Oberschenkel, in einem raschen, rastlosen Rhythmus. 

Erst als ich meine Finger in ihre Schulter bohrte und leicht rüttelte, kam Bewegung in sie. Schweigend erklommen wir die Wendeltreppe zum Haupthaus, am Himmel glühten die Wolken in allen erdenklichen Rottönen auf. Unter unseren Füßen knirschte der Schnee, gefährlich rutschig so nahe am Abgrund. Ein falscher Schritt und wir würden hinabstürzen in die Tiefe. Doch es schneite nicht, die Sicht war gut. An meinen Haaren zerrte ein scharfer Wind, drang durch meine Kleider und pikste mir in die Haut, wehte den Geruch des Meeres heran, den salzigen Duft der Weite, der so gar nicht zu der sich immer enger zusammenziehenden Situation zu passen schien. Und noch ein Geruch mischte sich darunter, ein fauliger, bedrückender Gestank. Unten am Strand musste ein Tier verendet sein und nun verwesen oder vielleicht handelte es sich auch um eine Warnung, eine Warnung der Götter. 

Da war es, das Versammlungshaus. Noch nie war mir dieser behagliche Ort so unheilvoll erschienen. Bloß ein wenig Holz, Balken und Bretter und doch gähnten die Vordächer wie Mäuler. Unsicher klopfte ich an der Tür. Dann nochmal. Beim dritten Mal öffnete sie sich.

Ein verschlafener Viggo blinzelte mir entgegen, kniff die Augen zusammen angesichts des Himmelsspektakels. Im Vergleich damit erschien der schummrige Raum hinter ihm noch tiefer, ein bodenloses Loch, das nur darauf wartete, uns alle zu verschlingen.

"Was ist los?"

Götter, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wie sollte ich ihm das beibringen? Wie hatte ich annehmen können, zwölf Jahre Gram und Verlust mit ein paar Worten wegwischen zu können? Vor allem, wenn ich diese Worte nicht einmal fand, wenn mir nur ein hilfloses Starren blieb?

"Wollen wir reingehen?"

Da waren sie, diese Worte, und sagten doch nichts. 

Viggo öffnete die anderen Tore, ließ das Morgenlicht hinein, setzte sich auf einen der Hocker. Sah mich erwartungsvoll an und ich öffnete den Mund, doch ich fand sie nicht, die richtigen Worte, möglicherweise gab es sie nicht einmal. Ich machte einen Schritt, trat auf die Scherben der Schale und in diesem Moment verstand ich, dass manches sich einfach nicht richtig überbringen ließ. Keine noch so schönen Worte hätten die Keule der Erkenntnis gedämpft, keine noch so gewählten Sätze würden das Bedauern über so viele verlorene Jahre dämpfen. Man konnte es nur versuchen.

"Viggo, ich ... ich hab sie gefunden. Oder eher hat sie mich gefunden und ... oh, Viggo sie lebt, sie hat die ganze Zeit gelebt, sie war nur ..."

"Langsam, Romi, langsam." 

Sanft klang seine Stimme, keine Spur von dem wahnsinnigen Mörder, den ich in der Arena angefunden hatte. Wie viel lieber wäre es mir gewesen, hätte er gesprochen! Bei ihm wäre es mir nicht so schwer gefallen, hätte ich keine Angst davor gehabt, ihn zu verletzen. Aber Viggo, mein Bruder ... Sein beruhigender Unterton machte alles nur noch viel schwerer, denn ich wusste, bald würde nur noch Panik zu hören sein und es wäre allein meine Schuld.

"Erzähl bitte von Anfang an, so versteht doch kein Me-"

Seine Augen weiteten sich. Ich brauchte mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Liska hinter mich getreten war. 

Noch immer sagte niemand etwas, bewegte sich niemand. Noch immer stand Liska im Türrahmen, saß Viggo auf seinem Hocker und ich zwischen den beiden, mit einem Mal unsichtbar. In Zeitlupe öffnete sich Viggos Mund, seine Unterlippe zitterte. Doch auch ihm versagte die Stimme und er ließ die Hand sinken, die er auf Brusthöhe erhoben hatte, die Finger gespreizt als wolle er Liska ergreifen oder abwehren. Dann stand er auf, die Beine des Hockers schrabbten durchdringend über den Boden in dieser Stille. Immer noch mit diesem fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht stakste er zu ihr hin, drei Schritte noch, zwei, und dann standen sie voreinander.

Unendlich langsam hob Viggo die linke Hand und die Zeit dehnte sich in die Unendlichkeit, als gäbe es nichts auf diesem Planeten als diese fünf bebenden Finger, die sich ihren Weg durch die Luft bahnten und in dem Moment, als sie endlich die vernarbte Haut berührten, kam die rot glühende Sonne hinter einer Wolke hervor. Alles erblickte ich gestochen scharf in diesem Moment, die glitzernde Tränenspur auf Viggos Wange, die Atemwolken der beiden, Liskas energische, verzweifelte Schönheit unter ihrem Panzer aus Narben und Kanten. Und das Lächeln, das sich auf ihre Lippen stahl, fassungslos und überwältigt, das ja, und doch hätte ich nie erwartet, einen der beiden noch einmal so lächeln zu sehen.

So glücklich, so überglücklich, so strahlend im Schein der Morgensonne.

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