Kapitel 14: Romi?
Viggo
"Romi?"
"Hm."
"Wohin fliegen wir?"
Schweigen. Unter uns rauschte das Meer dahin. Mittlerweile hatte ich aufgehört zu zittern, selbst die kleinste Bewegung zündete einen schmerzhaften Blitz, so steif waren alle meine Glieder. Nicht einmal Romis Nähe lockerte den eisernen Griff der Kälte.
Denn um uns herum tosten ein Meer und ein Himmel aus unausgesprochenen Dingen.
"Wir fliegen zur Drachenklippe."
Zur Drachenklippe. Das war es also mit der Freiheit. Immerhin, einige letzte kostbare Stunden mit Romi lagen noch zwischen uns und der Zelle, in der ich den Rest meines Lebens vor mich hin vegetieren würde. Nicht dass ich das nicht erwartet hatte.
"Du bringst mich also zu den Reitern?"
Sie schnaubte.
"Die Drachenklippe ist verlassen."
"Und die Reiter?"
"Die sind nach Berk zurückgekehrt. Wenn man einen Freund verliert, ist man nicht mehr so wild auf Abenteuer."
Der stumme Vorwurf legte sich um mich wie eine zweite Decke und schnürte meinen Hals zu. Ich wusste, das war der Moment für eine Entschuldigung. Zwei-, drei-, viermal öffnete ich den Mund, doch kein noch so kleines Wort wollte hervorkommen. Mein Kopf war wie leergefegt. Alles was ich ihr seit Monaten hatte sagen wollen - weg. Nichts mehr da, bis auf einen Damm aus Sprachlosigkeit. Mein Körper verkrampfte sich, meine Hand begann, fahrige Kreise zu ziehen. Die Stirn in tiefe Furchen gezogen, drehte Romi sich zur Hälfte um. Hilflos starrte ich sie an.
In ihre Augen. Zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal seit drei Monaten sahen wir uns in die Augen.
"Ich ... Romi ... du ... weißt du ..."
Weißt du was? Was wollte ich ihr sagen? Was konnte man in so einer Situation sagen?
"Ich ... ach ... das alles ... ich wollte dir sagen ..."
Noch immer entgegnete sie nichts, sah mich einfach nur weiterhin an aus ihren stahlblauen Augen. Den Augen meiner Schwester. Augen, die ich so sehr vermisst hatte.
"Es tut mir leid."
Da waren sie, die vier magischen Worte, die ich so verzweifelt gesucht hatte. Und nicht nur sie, noch so viele weitere warteten hinter dem Damm, in dem nun eine Lücke klaffte und drängelten sich nach vorne.
"Es tut mir so leid, ich wünschte ... Ich wünschte, ich könnte das alles rückgängig machen und ... ich hab dich so vermisst, du hast mir so gefehlt, dass ... Jeden einzelnen Tag hatte ich Angst um dich, dass dir etwas passiert und ich ... ich kriege nichts davon mit, kann dir nicht helfen, weil du ... weil du fort bist, weil ich so ein schlechter Bruder war und ... ich kann verstehen, warum du fort bist, ich wäre das auch an deiner Stelle, nur ... Kannst du mir überhaupt glauben? Das alles? Wahrscheinlich nicht, immerhin ... immerhin habe ich ..."
"Viggo."
"Ich habe dich angelogen und es ... es tut mir leid, es tut mir so verdammt leid und ..."
"Viggo."
"Wenn ich ... ich würde alles anders machen, hörst du? Ich hab so vieles falsch gemacht, das weiß ich jetzt und es ..."
"Sei einfach still. Sei einfach still, okay?"
Ihre Stimme brach. So plötzlich hatten mich all diese Worte, all diese Reue überwältigt, dass ich ihr glänzendes Gesicht, ihre krampfartig verzogenen Lippen, ihr angestrengtes Schlucken völlig übersehen hatte.
"Weißt du überhaupt wie das für mich war? Sehen zu müssen, was die Person ... was du alles getan hast? Weißt du das?! Hast du auch nur eine Sekunde vorher darüber nachgedacht, was du alles anrichtest? Du ... du hast Hicks umgebracht, einfach so! Und nebenbei auch noch ein Dutzend andere Leben zerstört! Nur aus deiner dummen Eifersucht! Wegen mir! Hast du eine Ahnung, wie sich das für mich angefühlt hat?"
Zitternd holte sie Luft.
"Und jetzt ... jetzt kommst du angerannt mit deinem Schwert und willst mich verteidigen und ... und sagst auf einmal, dass es dir leid tut? Nach VIER VERDAMMTEN MONATEN?"
Urplötzlich wandte sie sich wieder ab und sackte in sich zusammen.
"Ich versteh's nicht. Ich versteh dich einfach nicht. Und ich wünschte, du wärst nie gekommen."
Zwei Menschen. Zwei Menschen, die einander eine Familie gewesen waren, sich durch die Dummheit und Arroganz des einen jedoch Welten voneinander entfernt hatten. Zwei Menschen auf einem Drachen im endlosen Wintergrau und meine Hand auf Romis Schulter.
Denn manchmal reichten Worte eben nicht aus.
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Was?"
"Ich bin froh, dass es heute so passiert ist."
"Aber Reiker ist tot. Und du hast dein ganzes tolles Drachen-Imperium verloren."
"Mag sein. Aber ich habe dich nicht verloren."
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Hm?"
"Warum bist du eigentlich auf unsere Insel gekommen?"
"Es ist nicht mehr meine Insel. Und deine übrigens auch nicht."
"Du weichst mir aus."
"Mach ich nicht."
"Doch, das machst du."
"Und wenn ich das mache?"
"Warum?"
"Warum ich ausweiche?"
"Ja. Nein. Warum du gekommen bist."
Stille.
Lange Stille.
Lange, unangenehme Stille.
Lange, unangenehme, bitte-sag-doch-etwas Stille.
"Ich habe etwas gesucht."
"Etwas, das so wichtig ist, dass man dafür sein Leben riskiert?"
"Ja. Stell dir vor, solche Dinge gibt es."
"Und ... was hast du gesucht?"
"Etwas."
"Etwas aus dem Medizinlager?"
"Kannst du nicht einfach deine Klappe halten?"
"Romi. Nicht solche Ausdrücke."
"Verdammt noch mal, ich bin nicht mehr fünf!"
"In meinen Augen wirst du immer ein kleines Mädchen bleiben."
Mein kleines Mädchen. Doch ich sprach es nicht aus.
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Was ist denn jetzt schon wieder, verfluchter Drachendreck?"
"Wozu brauchst du das dritte Feuer?"
"Wie kommst du darauf, dass ich das dritte Feuer brauche?"
"Weil du das hier verloren hast."
Ich streckte ihr den Anhänger entgegen.
"Wenn du es schon weißt, warum hast du dann überhaupt gefragt, was ich gesucht habe?"
"Weil ich es von dir hören wollte."
"Hmpf."
"Und wozu brauchst du es?"
"Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?!"
"Nein, das kann ich nicht."
"Argh, warum habe ich dich überhaupt mitgenommen? Du nervst."
"Ich bin dein Bruder. Das gehört zu meinen Aufgaben."
Diesmal schwang in ihrem Schnauben ein kopfschüttelndes Lächeln mit. Auch ich lächelte.
"Also?"
"Viggo! Hör auf damit, du ..."
Sie prustete.
"Ich bringe dich noch zum Lachen?"
"Ich ... Hör auf, das ist nicht witzig!"
"Doch, das ist es."
"Nein, ist es nicht."
"Gib es zu, du lachst."
"Ich lache gar nicht."
"Doch, tust du."
"Wie alt bist du, dreißig oder drei?"
"Darauf antworte ich lieber nichts."
"Mach das."
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Hast du nicht schon genug genervt?"
"Du hast mir immer noch nicht geantwortet."
"Es ist egal. Die Fläschchen sind zerbrochen."
"Dann kannst du es mir ja sagen."
"Ich ... Ach, es ist nur ... Sternenwind hat Hicks kurz nach seinem Tod eingefroren und ich habe ihn vorgestern entdeckt."
"Du ... Sag bitte nicht, dass du vorhattest ... dass du vorhattest, die Legende wahr werden zu lassen."
"Und wenn schon? Was ist denn so schlimm daran, einmal etwas Gutes zu tun?!"
"Erstens: Du hast sehr viel mehr Gutes getan. Und zweitens: Wir sind Menschen, keine Götter."
"Dafür führst du dich aber bemerkenswert oft wie einer auf."
"Das war nicht nett."
"Aber wahr."
"Und nun?"
"Was geht dich das an?"
"Ich bin dein Bruder."
"Und ich bin erwachsen."
"Nicht in meinen Augen."
"Du bist fürchterlich, weißt du das?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ein winziger Tropfen Blut quoll hervor.
"Ja. Das weiß ich."
-°-°-°-°-°-
"Viggo?"
"Ja?"
"Wie stellen Dämmerungsphönixe das dritte Feuer her?"
"Warum willst du das wissen?"
"Sagst du es mir jetzt oder nicht?"
Kleine schlaue Romi. Niemals könnte ich ihr einen Wunsch abschlagen.
"Sie dürfen lange Zeit kein Feuer speien. Weder das goldene, noch das silberne. Irgendwann hat sich so viel angestaut, dass die beiden Arten zu einem werden."
"Wie lange?"
"Das hängt davon ab. Eine Woche, vielleicht zwei. Man erkennt es an ihren Punkten. Wenn sie aufeinander zu wandern und miteinander verschmelzen, dann ist es soweit. Aber man muss sich beeilen. Die Fusion geht nicht lange und wenn man zu spät reagiert, dann verbrennt es den Drachen von innen."
"Warum reagieren? Der Drache muss doch nur Feuer speien."
"Das schon, aber von alleine stauen sie niemals ihren Nebel so lange auf. Man muss ihnen einen Maulkorb mit Auffanggefäß aufsetzen und im richtigen Moment den Hebel umlegen."
"Wie lange dauert es, bis es soweit ist?"
"Nicht lange. Maximal zwei Minuten. Zu früh und alles war umsonst. Zu spät und ... Es ist kein schöner Tod."
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Ja?"
"Was hast du jetzt vor?"
"Ich weiß es nicht."
"Es gibt einen Grund, warum Menschen sterben."
"Sagt der, der ihn umgebracht hat."
"Ich ... Du weißt, ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte."
"Nun, hier ist die Chance dazu."
"Aber es gibt Risiken! Große Risiken! Du weißt gar nicht, was alles geschehen könnte! Mit deinem Drachen und -"
"Sternenwind. Sie heißt Sternenwind."
"Richtig. Sternenwind. Jedenfalls, du hast ja nur den Körper! Menschen benötigen auch eine Seele."
"Die ist im Kristall eingeschlossen."
"Und der Kristall ...?"
"Ist in Berk."
"Und sie werden ihn dir einfach so geben?"
Abermals schnaubte sie.
"Ganz bestimmt nicht."
"Also willst du ihn stehlen."
"Und wenn ich das tue? Komm du mir nicht mit Moral!"
"Was ich sagen will ... Selbst wenn du an alles kommst, was du brauchst, du weißt nicht, wie das Ganze ausgeht. Als er gestorben ist, da war er ein Drache. Er könnte als Drache zurückkommen, als Drachenseele in einem Menschenkörper oder als ein Mischwesen oder ... Er könnte alles vergessen haben, sogar wie man geht und isst. Was wirst du tun, wenn das passiert? Wirst du die Verantwortung dafür übernehmen ... für das, was dabei herauskommt?"
"Hicks ist kein das."
"Es kann aber sein, dass du nicht Hicks zurückholen wirst, sondern etwas Anderes. Willst du das?"
"Dir kann das doch egal sein."
"Kann. Ist es mir aber nicht."
"Vielleicht sollte es das."
"Romi."
"Hör auf mit deinem ewigen 'Romi'!"
"Schön, das mache ich. Dann hör du aber auf, dich grundlos zu versteifen und blindlings ins Unbekannte zu rennen. Manchmal muss man nachdenken, bevor man etwas tut."
"Du hast mir nichts mehr zu sagen!"
"Ich verstehe, dass du wütend bist und verletzt und du hast auch jedes Recht der Welt dazu. Aber ... lass dich nicht zu etwas hinreißen, das du später bereust. Ich spreche aus Erfahrung."
"Schön! Ich werde nachdenken. Bist du jetzt zufrieden?"
"Weniger besorgt."
-°-°-°-°-°-
"Romi?"
"Sag mal -"
"Eine Frage nur noch."
"Hm."
"Was geschieht mit mir?"
"Du ... kommst mit mir, nehme ich an."
"Heißt das, du -"
"Bilde dir bloß nichts darauf ein. Auf deine Gesellschaft kann ich verzichten. Ich will dich nur nicht erfrieren lassen."
"Also ... zur Drachenklippe."
"Zur Drachenklippe."
"Und dann?"
"Dann sehen wir weiter."
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