Kapitel 10: Ins Ungewisse
Romi
Davonlaufen, das war alles, was ich konnte. Wieder und wieder davonlaufen und die Leute, die mir Gutes taten, im Stich lassen.
Sie hatten mich aufgenommen, mir Essen, Kleidung und, am kostbarsten, Freundschaft geschenkt, trotz allem, was passiert war. Und worin bestand mein Dank? Ich ließ sie im Stich, inmitten einer Massenprügelei, die ich losgetreten hatte, während sie mich verteidigten. Eine miserable Freundin und ein erbärmlicher Feigling, genau das war ich. Nun, lag ja in der Familie. Wann hatte ich das letzte Mal jemandem etwas wirklich Gutes getan? Als ich Sternenwind befreit hatte? Meine Tätigkeiten als Spionin für die Drachenreiter hatten letztendlich nur noch mehr Elend verursacht. Selbst der Versuch, Hicks zu heilen, hatte für ihn zu einer Vergiftung geführt. Doch was sollte ich tun? Zurück nach Berk zu fliegen, würde nur noch mehr Chaos auslösen, das wäre Heidrun und Dagur keine Hilfe. Am besten konnte ich ihnen helfen, indem ich mich von ihnen fernhielt, denn denen, die mir wichtig waren, brachte ich nichts als Leid. Mir blieb wieder einmal nur die Flucht ins Ungewisse.
Davon, davon, nie zu etwas hin. Was für ein Ziel hatte ich denn noch, wofür kämpfte ich, wofür lebte ich? Was für einen Sinn hatte das denn, immer nur davon? Wenn ein verirrter Pfeil mich hier und jetzt von Sternenwind herunterschießen würde, kein Mensch würde es bemerken.
Betrübt legte ich den Kopf in den Nacken und beobachtete die über uns dahinjagenden bleigrauen Wolken. Bald würden sich erste Schneeflocken im Meer auflösen. Klang nach keinem schlechten Wandel: von einem starren, kalten Dasein zum Umfangensein im Meer, zum Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein. Ich hörte sie schon beinahe, nein, nicht nur beinahe, ich hörte wie kleine Kristalle aus gefrorenem Schmerz zu einer auf und ab wogenden, auf melancholische Art wunderschönen Melodie zerschmolzen.
Dann ging mir auf, dass die Musik nicht von meiner Umgebung kam, sondern von Sternenwind.
So sachte und allmählich, dass es mir gar nicht aufgefallen war, hatte sie angefangen, zu - pfeifen war ein irreführender Begriff, auch zu flöten traf es nicht. Das, was aus ihrem Mund drang, konnte nichts Geringeres als der Gesang der Götter sein. Alles, was ich empfand, jede meiner Qualen, aber auch all die versteckten Träume und Hoffnungen tönten aus ihm heraus. Und ich summte mit ihr, durch ein geheimes Wissen oder eine geheime Verbindung genau die gleiche Melodie und mein stolperndes Herz passte sich dem stetigen, kraftvollen Rhythmus des Liedes an. Wie ein Wesen sangen wir, aus der gleichen Seele.
Als unser Lied schlussendlich abebbte, war meine Kehle rau und mein Kiefer schmerzte, doch ich fühlte mich unendlich gelöst, frei und gleichzeitig geborgen. Ergriffen streichelte ich die Federn meiner Freundin.
"Du bist unglaublich, weißt du das?", wisperte ich.
In ihrem Gurren lagen Wärme und Zutrauen.
"Wie hast du das gemacht? Ich meine, woher wusstest du so genau..."
Meine darauffolgende vage Handbewegung schloss alles mit ein, ihr Wissen um das, was in mir vorging, ihre Fähigkeit, dieses Chaos in Musik zu verwandeln, ihre Ahnung, dass ich genau das gebraucht hatte und nicht zuletzt, dass sich in keinem Augenblick unsere Gesänge unterschieden hatten.
Eines stand fest, sie war ein außergewöhnliches Wesen und ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, sie meine Freundin nennen zu dürfen. Erneut wurde mir klar, wie wenig ich über sie wusste. So gut wie gar nichts, abgesehen von dem Offensichtlichen. Meine engste Freundin, meine einzige Konstante und ich kannte sie kaum. So viel galt es noch herauszufinden, so viele unentdeckte Geheimnisse. Vielleicht konnte ich das nun machen, vielleicht war das meine neue Bestimmung: Wissen über Dämmerungsphönixe zu sammeln, sie richtig kennenzulernen. Problematisch war nur, dass niemand sonst irgendetwas über sie zu wissen schien. Fischbein und Hicks, die Drachenexperten schlechthin, hatten nicht einmal von ihnen gehört. Selbst mein Bru-
Ach verdammt, wie lange würde es dauern, bis ich meine ehemalige Familie endlich hinter mir gelassen hatte, sie endlich vergaß? Aber gut, ein ganzes Leben war kein Kleidungsstück, das einem nicht mehr gefiel. Es ließ sich nicht eben mal abstreifen. So gut wie achtzehn Jahre hatte ich ausschließlich mit Viggo und Reiter verbracht. Keine Erinnerung, die nicht durch ihre Lügen besudelt war, keine Zukunft, die nicht von ihnen beeinflusst wurde. Es blieb nur der gegenwärtige Moment.
Mit der Zeit fiel mir auf, dass Sternenwind immer seltener und kraftloser mit den Flügeln schlug und sich fast nur noch von aufsteigender Luft tragen ließ. Kein Wunder, seit kurz vor Sonnenaufgang befanden wir uns so gut wie dauerhaft in der Luft. Darüber hinaus stand die Sonne mitten im Süden, sie musste unglaublich müde sein. Auch ihr war ich eine klägliche Freundin, verfiel in Selbstmitleid, während sie sich seit Stunden abquälte.
"Bei der nächsten Insel machen wir eine Pause, versprochen."
Besagte Insel kam glücklicherweise recht schnell, bewaldet und relativ groß. Perfekt für eine geschützte Ruhepause. Mit letzter Kraft steuerte Sternenwind auf sie zu. Kaum hatte sie den Boden berührt, war sie auch schon eingeschlafen. Auch ich hätte gerne zumindest ein wenig gedöst, aber ich hielt Wache, um sicherzustellen, dass keine unangenehmen Überraschungen ihren Schlaf störten. Wenigstens das konnte ich für sie tun.
Nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf für Sternenwind flogen wir weiter ins Blaue hinein. Das monotone Auf und Ab in Kombination mit dem endlosen Wintergrau ließ mich immer schläfriger werden, alles verschwamm zu einem gleichmäßigen Rauschen.
Weiter, immer weiter, flüsterten die Wolken.
Immer weiter.
Immer.
Weiter.
-°-°-°-°-°-
Gegen Abend erspähte ich unter uns den unverwechselbaren Umriss der Drachenbasis. Sofort schnellte mein Kopf nach oben, ich versuchte, den Anblick aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Am besten flogen wir so schnell wie möglich weiter, allein die pure Anwesenheit der Insel verglühte gleich einem Feuerwurmnest meine Haut. Nicht beachten und verschwinden, das war die einzige Lösung.
Doch Sternenwind hatte andere Pläne.
Irgendwann bemerkte ich, dass wir stark an Höhe verloren hatten. Nicht nur das, Sternenwind war zu einem stetigen Sinkflug übergegangen und näherte sich der Drachenklippe in einer langgezogenen Spirale.
"Was machst du da? Du weißt doch, dass ich da nicht hin will! Sternenwind!"
Vergebens. Egal wie laut ich protestierte, sie ignorierte meine Rufe und mein empörtes Ziehen am Sattel. Nach ein paar Minuten gab ich nach, ließ mich von ihr zu dem Ort bringen, den ich eigentlich hatte nie wiedersehen wollen. Immer stärker und heißer vernahm ich dessen abweisende Strahlung, doch ich vertraute darauf, dass Sternenwind einen Plan hatte. Was blieb mir auch anderes übrig?
Bei der Landung kam es mir vor, als hätte ich eine Blase betreten, als hätte der Winter nicht nur sämtliches Wasser, sondern auch die Zeit auf der Drachenklippe eingefroren. Abgesehen von dem Schnee sah alles genauso aus wie bei meinem ersten Besuch. Die gleichen Häuser, die gleichen Konstruktionen zur Verteidigung, die gleichen bunten Malereien an den Wänden, ein Mahnmal an die verlorene Unschuld, unübersehbar in all dem Weiß und Grau. Beinahe erwartete ich schon, ihre Stimmen zu hören, die von Rotzbacke und Fischbein und Raff und Taff und Astrid und Hicks. In jedem noch so winzigen Winkel klebten die Erinnerungen an sie, lauerten ihre Geister.
Ich wusste genau, weshalb ich mich von diesem Ort hatte fernhalten wollen.
Je weiter ich mich dem Clubhaus näherte, desto schlimmer wurde es. Immer eindringlicher wurde das Gefühl, dass sie sich hier befanden und auf mich warteten, selbst Hicks, jetzt, da, gleich hinter dieser Tür ...
Das Clubhaus war leer.
Natürlich war es leer, was hatte ich erwartet? Sie alle waren weg, die Drachenreiter gab es nicht mehr. Es war mir bewusst gewesen von Anfang an und doch fühlte ich mich wie die Drachenbasis: verlassen.
Noch eine ganze Weile spazierte ich in Gedanken versunken zwischen den Häusern herum, bis auf einmal ein unsichtbarer Marionettenspieler die Fäden, die mich bis dahin aufrecht gehalten hatten, durchschnitt und ich vor Müdigkeit kaum noch stehen konnte. Gähnend wankte ich zu Sternenwind und kramte in der Satteltasche nach meiner Decke, diesem fadenscheinigen, zerschlissenen Ding, das kaum noch Schutz gegen Kälte bot. Aber selbst eine schlechte Decke war besser als gar keine, also hatte ich sie behalten.
Aber wo war sie denn? Verwundert wühlte ich weiter. Nichts. Hatte ich sie auf der Berserkerinsel vergessen? Nein, ich hatte Sternenwind vor dem Abflug nicht gesehen und auf Berk hatte ich meine Sachen erst recht nicht ausgepackt. Jemand musste sie durchsucht, die Decke herausgenommen und Anderes hineingelegt haben, denn ganz unten entdeckte ich ein dunkelbraunes Stoffbündel. Beim Herausholen entpuppte es sich als Wolldecke, in einem viel besseren Zustand als meine.
Ein durch die Luft flatternder bräunlicher Fleck erregte meine Aufmerksamkeit. Mein Versuch, den Gegenstand zu fangen, scheiterte kläglich, doch als ich ihn vom Boden aufhob, ging mir auf, dass es sich um einen Pergamentzettel handelte. Mit noch größerer Verblüffung las ich die in krakeliger Handschrift verfasste Notiz.
Falls du wieder fort musst. D.
Dagur hatte mir die Decke ausgetauscht? Und das war nicht alles. In der anderen Tasche fand ich einen Proviantbeutel und eine Handvoll Silbermünzen, mit denen ich mich mindestens drei Monate über Wasser halten konnte.
Meine Eingeweide krampften sich zusammen, als ich mit dem Daumen über das Pergament strich. Falls du wieder fort musst. Er musste damit gerechnet haben, musste schon gewusst haben, dass ich sie früher oder später wieder verlassen würde - bevor es mir selbst klar gewesen war. Aber anstatt mich zum Bleiben zu überreden oder eingeschnappt zu reagieren, hatte er mich vorbereitet.
Niemals hätte ich das von ihm erwartet. Hatte Heidrun doch Recht gehabt und ich mich in ihm getäuscht? Konnte das sein?
Ja.
Zum hundertsten Mal an diesem verfluchten Tag überfiel mich das schlechte Gewissen. Die ganze Zeit über, von Anfang an, hatte er mir nur helfen wollen. Er hatte mich getröstet, verteidigt und mich heimlich versorgt - sogar Astrid angegriffen, bei allen Göttern! - und womit hatte ich ihm gedankt? Mit Abweisung und Spott, Wut und Beleidigungen. Ich musste mich entschuldigen. Unbedingt. Doch zunächst benötigte ich eine Mütze Schlaf.
-°-°-°-°-°-
Geweckt wurde ich am nächsten Morgen - konnte man das überhaupt Morgen nennen bei der Dunkelheit? - von etwas, das mich unablässig in die Seite stupste. Schläfrig rollte ich mich auf die andere Seite, was jedoch nichts nützte, denn das Stupsen verfolgte mich. Dazu kam noch ein hohes, unglaublich nerviges Trillern und Trällern, das selbst den hartgesottensten Wikinger in den Wahnsinn treiben würde. Resigniert setzte ich mich auf, die letzten Traumreste entglitten mir wie Sand zwischen den Fingern.
"Was gibt's?", murmelte ich verschlafen.
Auffordernd bewegte Sternenwind den Kopf nach oben.
"Du willst, dass ich aufsteige? Wa- Ach so, unser Morgenritt! Aber wir sind doch schon so viel geflogen, ich dachte ... Na ja, egal. Wir sollten sowieso fortgehen."
Nachdem ich die Decke verstaut sowie zwei der Pfannkuchen und etwas Dörrfleisch hastig heruntergeschlungen hatte, hockte ich mich in den Sattel. Endlich würden wir diesen Ort verlassen. Allerdings hatte meine Freundin abermals Anderes im Sinn. Anstatt abzuheben, rannte sie auf einmal los; verblüffend schnell, wenn man bedachte, dass ihr nur ihre Flügel zur Verfügung standen.
"Sternenwind, was soll das? He! Hör auf damit!"
Meine beste Freundin verschleppte mich in der Wald der Drachenklippe. Das sah man ja gerne. Aber Besseres hatte ich schließlich sowieso nicht vor - abgesehen davon, dass ich mehr als nur gerne von hier verschwunden wäre - und bei der Geschwindigkeit würde Abspringen mindestens einen verstauchten Knöchel bedeuten. Also blieb ich sitzen. Irgendeinen Plan musste sie ja haben.
Mit der Zeit fing ich an, diesen merkwürdigen Ritt zu genießen. Das stetige Auf und Ab, die im ersten Morgenlicht funkelnden Eiszapfen an den Tannen, die makellose Schneedecke vor uns ... All dem wohnte eine eine gewisse Schönheit inne. Wild und kalt und unnahbar, das schon, aber unleugbar schön.
Auf einer kleinen Lichtung kam Sternenwind schlussendlich zum Stehen.
"Und warum hast du mich jetzt hierher gebracht?"
Kurz darauf fand ich die Antwort selbst. Ein dickes Seil durchschnitt den Schnee in einer geraden Linie und verschwand in einem circa anderthalb Meter breiten Loch.
"Soll ich da runterklettern?"
Ihr Schnauben deutete ich als ein "Jetzt mach schon!".
"Also gut, wenn du meinst."
Abschätzend beugte ich mich über das Loch. Sehr tief schien es nicht bis zum Boden zu gehen, drei Meter vielleicht. Allerdings müsste ich mich dem, was dort unten auf mich wartete, alleine stellen. Selbst wenn sie durch das Loch gepasst hätte, ohne den Himmel über ihrem Kopf drehte Sternenwind durch. Ein letztes Mal blickte ich fragend zu ihr, dann machte ich mich an den Abstieg. Mal sehen, was der Grund für ihr merkwürdiges Verhalten war.
In der Höhle - oder eher Grotte, ich hörte das Plätschern von Wasser - herrschte Dunkelheit, einzig durchbrochen von den spärlichen Lichtstrahlen, die durch das Loch in der Decke fielen. Eine andachtsvolle Stille hüllte sie ein. Unter meinen Füßen sammelten sich Geröllbrocken gut einen halben Meter hoch, wahrscheinlich von der selben Person aufgeschichtet, die auch das Seil hinterlassen hatte. Trotz meiner neuen Kleider fröstelte ich.
Sogleich sprang mir der Grund, weshalb Sternenwind mich hierher gebracht hatte, ins Auge. Am Fuß des Geröllhaufens stand eine Art Eisklotz, gehüllt in wabernden silbernen Nebel. Sternenwinds Nebel.
Was sie wohl eingefroren hatte? Und warum hatte sie es nach hier unten gebracht? Nun, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Vorsichtig kletterte ich von dem Schutt herunter, wedelte den vor Kälte brennenden Nebel beiseite, warf einen Blick auf das beschlagene Eis.
Es war, als würde ich von einem Blitz durchfahren, gleichzeitig mit einem Hammerschlag in den Magen. Ein vielstimmiges Dröhnen erfüllte meinen Kopf, erschütterte ihn von innen. Ich nahm wahr, dass ich stolperte, dann knallte mein Schädel gegen den Steinboden und für einen Moment sah ich gar nichts mehr. In meinem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus.
Nein. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Ich musste mich getäuscht haben, vielleicht halluzinierte ich auch. Realistischer als das, was ich gesehen hatte, was ich glaubte, gesehen zu haben, wäre es auf jeden Fall. Denn das hier ... nein.
Und wenn doch? Wenn ich richtig gesehen hatte?
Niemals.
Sicher?
Es blieb nur der Sprung ins kalte Wasser. Ich musste mich vergewissern.
Mit bebenden Knien stand ich auf, meine Finger krampften sich um den Messergürtel, auf der Suche nach wenigstens einer Sache, die echt war, an der man sich festhalten konnte. In jeder Faser meines Körpers spürte ich das Pulsieren des Blutes, den raschen und nervösen Herzschlag. Von alleine staksten meine Beine nach vorne zum Eisklotz. Verglichen mit der Stille der Grotte klang mein Atem unnatürlich laut. Ich kniete mich nieder und beugte mich vornüber, nicht aus einem bewussten Impuls heraus, sondern gesteuert von dem gleichen Marionettenspieler, der mir gestern Abend die Fäden durchgeschnitten hatte. Unendlich langsam wischte ich das Eis klar.
Ohne jeden Zweifel.
Eingefroren in Sternenwinds Eisnebel lag Hicks' Leichnam.
-°-°-°-°-°-
Ich hätte nicht sagen können, wie lange ich neben dem Eisblock kauerte, die auf ihm liegenden Finger taub vor Kälte. Jeder mögliche Gedanke war zu einer abstrakten Skulptur eingefroren. Ich saß einfach nur da.
Irgendwann erweckten mich die immer heller werdenden Lichtstrahlen wieder zum Leben, schmolzen das Eis, das sich bei Hicks' Anblick um meinen Verstand gelegt hatte und tauten meine Gedanken wieder auf.
Sternenwind hatte das getan, war der Erste. Niemand sonst konnte solchen Nebel herstellen, außer vielleicht einem Nachtphönix, die allerdings noch nie im Archipel gesehen worden waren. Nicht nur das, sie hatte mich hergeführt. Sie hatte gewollt, dass ich ihn fand, hatte es von langer Hand geplant.
Wozu? Das war die Kernfrage, der Schlüssel zu allem. Wozu hatte meine Freundin den trauernden, verzweifelten Drachenreitern den Leichnam ihres Freundes gestohlen, ihn dann in Eis eingeschlossen und in einer Höhle versteckt? Und wozu hatte sie ihn mir so unbedingt zeigen wollen? Es ergab keinen Sinn.
Erneut wanderte mein Blick zu Hicks. Die Kälte hatte ihn vollkommen konserviert, selbst seinen Gesichtszügen war keine Veränderung anzumerken. Wäre die schreckliche Wunde in seiner Brust nicht gewesen, wäre sein Gesicht nicht so bleich und verkrampft, hätte man meinen können, er würde jeden Moment aufstehen. Aber das würde er nicht mehr tun. Er würde nicht mehr aufstehen, mochte er noch so lebendig aussehen. Er war tot, Hicks war tot. Auch wenn sein Körper vom Eis bewahrt wurde, seine Seele war in die Hallen von Walhalla eingegangen und würde nie mehr in unsere Welt zurückkehren. Er war tot.
Moment.
So ganz stimmte das nicht. Zwar ließ sich nicht leugnen, dass er gestorben war, aber seine Seele hatte Walhalla nie betreten. Nicht, weil er keinen ehrenhaften Tod gestorben war - wenn jemand Walhalla verdient hatte, dann er -, sondern weil seine Seele gefangen war, gefangen in dem Kristall. Selbst nach dem Tod hatten die Qualen für ihn nicht aufgehört. Zu wissen, dass man auf ewig eingesperrt sein würde, niemand einen erlösen konnte, das musste unerträglich sein. Nie würde er nach Walhalla gelangen, stattdessen würde er bis zum Weltuntergang und vielleicht noch darüber hinaus in dem Juwel gefangen sein. Nicht einmal sein Körper durfte vergehen, dafür hatte Sternenwind gesorgt.
Seine Seele war gefangen in dem Kristall. Sein Körper würde nicht vergehen. Beides würde bleiben, egal wie viel Zeit verging.
Und wenn ... ?
Die reine Vorstellung war so absurd, dass ich trocken auflachte. Nein, das konnte nicht Sternenwinds Absicht gewesen sein. Aber was, wenn nicht das? Wozu sonst sollte sie Hicks eingefroren haben als in der Hoffnung, er könne eines Tages wieder ins Leben geholt werden und wozu sonst sollte sie mich hergebracht haben als in der Hoffnung, ich könne das tun? Ich müsste lediglich Körper und Seele wieder vereinen und dann ...
Er könnte wieder leben, es müsste nicht alles an jenem Tag in der Arena geendet haben! Die Reiter könnten wieder glücklich sein, Berk aus seinem Geisterschlaf erwachen, meine Schuld könnte gesühnt sein, ich endlich etwas Gutes zu der Welt beigetragen haben und, am wichtigsten von allem, Hicks hätte wieder sein Leben vor sich, müsste es nicht so früh verloren haben.
Doch das war unmöglich. Selbst wenn es mir gelang, Körper und Seele wieder zusammenzufügen, Ersterer hatte aufgehört, zu funktionieren und Letztere würde ohne ihren Körper, ihren lebenden Körper, bald von den Walküren geholt werden. Immerhin besser als die jetzige Situation.
Entmutigt setzte ich mich hin. Schon wieder hatte ich mich von meinen dummen Hirngespinsten hinreißen lassen und darüber die Realität komplett aus den Augen verloren. Ich konnte nichts für Hicks tun. Dazu war es zu spät. Doch, eine Sache gab es. Er verdiente eine anständige Bestattung und so wenig ich die Berkianer leiden konnte, sie verdienten sie es, seinen Leichnam zu erhalten und sich von ihm zu verabschieden. Ich konnte, nein, ich musste ihn nach Berk bringen.
"Sternenwind? Kannst du ihn vielleicht hochholen?"
Anstelle einer Antwort oder Hilfe kamen unmittelbar nacheinander zwei Feuerstrahlen auf mich zugeschossen. Reflexartig hechtete ich zur Seite und rollte mich ab. Kaum einen Meter neben mir schwelten Feuer- und Eisnebel.
Was zum ... ? Hatte Sternenwind mich angegriffen? Nie im Leben. Das würde sie nicht tun, auf keinen Fall. Aber welche Erklärung gab es sonst? Zumal sie sich in den letzten Tagen wirklich seltsam verhalten hatte.
Ach Unsinn. Sie war meine Freundin und basta. Sie würde mich niemals angreifen.
Allerdings... Was wusste ich schon von ihr? Im Grunde kannte ich sie kaum. Und dann ... Allein der Gedanke kam mir wie Verrat vor, aber er ließ sich nicht verdrängen. Und dann war sie ein Drache. Ein Tier. Ein intelligentes, einfühlsames, gutherziges und loyales Tier, das schon, doch das hieß nicht, dass nicht manchmal das ... Wilde überwiegen konnte. Vielleicht ...
Stopp. Das war Drachenjägerdenken. Sternenwind war viel mehr als ein Tier. Sie war ein denkendes, fühlendes Wesen. Erst gestern hatte sie es mir abermals bewiesen mit ihrem Gesang. Kein bloßes Tier wäre zu so etwas in der Lage.
Sie war meine Freundin. Ich würde nicht an ihr zweifeln.
Vorsichtig beugte ich mich ein wenig aus meiner Deckung vor und - nichts geschah. Keine tödlichen Feuer- oder Eisstrahlen, nichts. Erleichtert wagte ich mich noch einen Schritt nach vorne.
"Sternenwind?"
Zum zweiten Mal zischten zwei Strahlen durch das Loch in der Decke und schlugen an der gleichen Stelle wie zuvor ein - obwohl ich nun an einem völlig anderen Fleck stand. Zum zweiten Mal vermischten sich Feuer und Eis, Gold und Silber und neutralisierten sich gegenseitig. Im rötlichen Morgenlicht erschien die Nebelmischung wie ihr drittes Feuer, jenes, dem nachgesagt wurde, es könne Tote wiederbeleben.
Tote wiederbeleben ...
Ich hatte es immer als bloße Legende abgetan, aber was, wenn es stimmte? Wenn Sternenwinds drittes Feuer wirklich dazu in der Lage war? Dann ... dann könnte man, dann könnte ich Hicks wieder beleben, dann könnte alles, was ich mir ausgemalt hatte, wahr werden!
Deswegen hatte sie also in meine Richtung geschossen! Sie hatte mich darauf hinweisen wollen, meine wunderbare, kluge, geniale Freundin. Sie hatte etwas erkannt, woran niemand auch nur gedacht hätte und dann hatte sie alles geplant, um auch mich auf diesen Gedanken zu bringen.
"Sternenwind, du bist brilliant!"
Ein geschmeicheltes Flöten ertönte von oben. Wie hatte ich ihr jemals misstrauen können? Aber um Vorwürfe und Schuldgefühle konnte ich mich später kümmern, jetzt hatte ich eine Mission. Eine, die nur ich erledigen konnte.
Na schön. Zwei Dinge benötigte ich, den Kristall und das dritte Feuer. Ersterer befand sich in Berk, das andere würde Sternenwind herstellen. Oder, nein, das würde sie nicht. Das dritte Feuer herzustellen, war lebensgefährlich für Dämmerungsphönixe und endete in glücklichen Fällen mit wochenlanger Erschöpfung, allzu oft allerdings auch mit dem Tod, so hatte ich es in einer offen herumliegenden Schriftrolle in Viggo Zelt gelesen - was für mich den Ausschlag gegeben hatte, sie zu befreien. Solch einer Gefahr konnte und würde ich sie nicht aussetzen.
Doch wo sollte ich ansonsten den heilenden Nebel herbekommen? Andere Dämmerungsphönixe gab es meines Wissens nicht, zumindest nicht im Archipel, das ja nicht ihren natürlichen Lebensraum darstellte. Viggo hatte Sternenwind von einem anderen Händler gekauft, der sie wiederum von jemand anderem hatte. Mal abgesehen davon, dass ich auch ihnen nicht so etwas antun wollte, zumal sie es sich sicher nicht freiwillig gefallen ließen. Hatte ich mich doch zu früh gefreut?
Ratlos ließ ich meinen Blick durch die Höhle schweifen und blieb an einer bunt bemalten Wand hängen. Fasziniert trat ich näher. Das waren keine abstrakten Malereien, die Bilder erzählten eine Geschichte. Ein Nachtschattenschwarm über einem brennenden Dorf, sie attackierende Jäger, angeführt von einem weißhaarigen Mann, eine junge Frau mit kupferroten Haaren, die ein Ei unter dem Arm trug - kannte ich sie nicht?
Ihr Gesicht kam mir jedenfalls bekannt vor, ebenso wie ihre gesamte Erscheinung. Auf jeden Fall war ich ihr schon einmal begegnet und zwar als ich ein kleines Kind gewesen war. Sie war nämlich ... nämlich ...
Nichts. Nur eine flüchtige Erinnerung, kaum mehr als ein verwischtes Bild, eine verschwommene Stimme.
Einen anderen erkannte ich jedoch sofort. Was hatte Reiker bitte dort zu suchen? Nicht dass mich seine Jagd auf Nachtschatten verwunderte, seit dem Tod unserer Eltern war er laut Viggo geradezu von ihnen besessen von ihnen, eine Zeit lang war er sogar bei einem berühmten Nachtschattentöter in die Lehre gegangen - Grissel der Grimm oder so ähnlich. Trotzdem, seinen Ehemals-Bruder erwartete man nicht gerade als Bild an einer Höhlenwand.
Egal weswegen er sich dort befand, mich hatte es jedenfalls auf eine Idee gebracht. Ob sie gut war oder mich ins Grab bringen würde, das musste sich noch herausstellen. Wenn sie funktionierte, hätte ich nicht nur Sternenwind die Herstellung des dritten Feuers erspart und würde genügend Heilnebel besitzen, um Hicks ins Leben zurückzuholen - vorausgesetzt, es handelte sich nicht um ein bloßes Sprichwort -, sondern würde auch Viggo gewaltig eins auswischen. Allerdings musste ich mich dazu an den mir verhasstesten Ort begeben, von dem ich mir geschworen hatte, nie wieder auch nur ein Fuß auf dessen von Blut und Niedertracht beschmutzten Boden zu setzen.
Ich redete natürlich vom Hauptquartier der Jäger, das Zuhause meiner ersten achtzehn Lebensjahre.
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